Wofür und Wohin?


Für eine Debatte in der IL über Keimformen, Utopie und Transformation

Die Genoss*innen der IL Tübingen knüpfen an die ersten Beiträge der Debatte an. Sie plädieren für den organisierten Aufbau von Elementen einer nachkapitalistischen Gesellschaft im Hier und Jetzt.

In ihrer Einladung zur Debatte über Transformation und darüber, was die IL in den kommenden Jahren und Kämpfen tun muss, schreibt die Redaktionsgruppe des Debattenblogs: »Auf der Suche nach Transformationsstrategien stehen etwa ein neuer Munizipalismus, die Etablierung von Commons im sozialen Alltag oder der Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht zur Debatte«.

Nachdem sich die ersten beiden Beiträge (1|2) für klare Schwerpunktsetzungen ausgesprochen haben, möchten wir in diesem Kommentar dafür eintreten, beide Schwerpunkte nicht unabhängig voneinander zu denken und sie damit zu ergänzen, dass wir uns mehr mit dem »wofür und wohin«, mit den Umrissen einer nachkapitalistischen Gesellschaft beschäftigen.

Die kommenden Schritte der IL

Die IL hat sich unter anderem gegründet, um bewusst und über den Moment hinaus denkend in gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu intervenieren. Dadurch sollen sowohl gesellschaftliche Kämpfe als auch Veränderungsprozesse im gesellschaftlichen Diskurs und im Denken der Individuen radikalisiert werden. Im Rahmen der IL-Gesamtorganisation soll das nicht isoliert und rein lokal geschehen, sondern koordiniert und verbunden durch gemeinsame Diskussion und Reflektion. In und mit Kampagnen und Bündnissen wie ›Dresden Nazifrei‹, ›Castor? Schottern!‹ , ›Blockupy‹ oder ›Ende Gelände‹ waren wir durchaus erfolgreich, zu agitieren, zu mobilisieren, zu empowern, zu organisieren - und neben dem Einfluss auf Diskurse und Debatten zum Teil auch direkten politischen Einfluss zu nehmen (vor allem sichtbar in der aktuellen Debatte um den Braunkohleausstieg). Jedoch merken wir (oder viele von uns würden wahrscheinlich sagen: haben wir schon immer gewusst), dass es nicht reicht und auch nicht weiterführt, diese einmal übernommene Rolle einfach immer wieder auszufüllen. Zudem finden wir es notwendig, unsere Analyse und Kritik des kapitalistischen Systems zu schärfen, um über das ständige Wiederholen leerer Parolen (»Kapitalismus abschaffen, zerschlagen,...«, »Her mit dem Kommunismus,...«) hinaus und zu begründeten, tragfähigen Alternativen zu kommen.

Wir möchten daher dafür plädieren, etwas zu beginnen, das wir bisher (als Gesamtorganisation) kaum versucht haben oder was uns (lokal, soweit wir es wissen) jedenfalls nicht nachhaltig gelungen ist: Über Elemente (»Keimformen«) einer nachkapitalistischen Gesellschaft intensiver nachzudenken, diese mit aufzubauen, zu propagieren und so das kapitalistische Elend mit einer Ahnung dessen, was sein könnte, zu kontrastieren. Das heißt, damit zu beginnen, im Alltag andere Verkehrsformen, Beziehungs- sowie Produktions- und Reproduktionsweisen zu entwickeln. Natürlich verbunden mit konkreten gesellschaftlichen Kämpfen vor Ort, also nicht in der subkulturell-alternativen Nische. Wir finden dafür den Debattenblog-Beitrag von Simon Sutterlütti sehr hilfreich. Wie er meinen wir, dass die Debatte »Reform – Revolution« eine falsche Verkürzung von transformativem Denken bedeutet, da sie sich allein dem Feld des Politischen (Eroberung der politischen Macht auf die eine oder andere Art) widmet. Darüber hinaus sprechen wir uns dafür aus, die Dialektik von Reform und Revolution nicht stillzustellen und (zumal heute, auf der Basis kaum entfalteter Kämpfe) nicht nach einer Seite hin gedanklich und praktisch abzuschneiden, wie es die ersten beiden Beiträge dieser Debatte aus unserer Sicht mit gegensätzlichem Ergebnis nahelegen.

Grundsätzlich glauben wir, dass in einem langfristig angelegten revolutionären Aufhebungsprozess Negation (Protest und Widerstand) verbunden werden muss mit dem Aufbau des »Wofür und Wohin«, einer konkreten Vision samt Werten und konkreten sozialen Praxisformen, nach denen eine andere Gesellschaft strukturiert sein könnte und sollte. Wir brauchen also auch eine Art konstruktiven Entwurf, der die Perspektive auf eine andere Produktions- und Reproduktionsweise eröffnet. Gerade angesichts linker Schwäche, allgemeinem »(Partei-)Politikverdruss« und platter, aber trotzdem teilweise wirkmächtiger rechtspopulistischer Erzählungen scheint es uns umso wichtiger, dass eine andere Welt im Alltag hier und da in Umrissen sichtbar gemacht werden kann.

Transformative Organizing und Großes Nein

In den bisherigen Beiträgen auf dem Debattenblog sind bereits Vorschläge in diese Richtung gemacht worden: In der revolutionären Realpolitik des Autor*innenkollektivs fehlt uns jedoch die revolutionäre Leidenschaft sowie die realistische Einschätzung der Veränderungsfähigkeit des Systems. Zu stark hören wir aus dem Text den Glauben heraus, dass sich doch ein weitestgehend konfliktfreier Übergang erreichen ließe – sowie die Sorge, dass Konflikt und gezielte Zuspitzungen diesem Prozess schaden. Auch glauben wir nicht, dass es vor allem materielle Interessen und gewinnbare Kämpfe sind, die Menschen langfristig zum Kämpfen motivieren. Vielleicht werden Menschen kurzfristig eher aktiv wegen unmittelbarer Betroffenheit und der Aussicht auf materiellen Erfolg, verbunden mit dem subjektiven Gefühl von Ungerechtigkeit oder Empörung. Wirklich nachhaltige, langfristige Organisierung läuft aber maßgeblich über Werte und soziale Beziehungen, eben über »Subjektivität(en)«. Und über emanzipierende soziale Praktiken, in die Individuen im Alltag und in den politischen Kämpfen eingebunden werden können bzw. sich einbinden. Die Forderung für mehr »Transformative Organizing« (in konkreten, gewinnbaren Kämpfen emanzipatorisch-ermächtigende Organisierungspraktiken einzusetzen und zu verbreiten) ist insofern richtig, muss aber aus unserer Sicht verbunden werden mit einem »grundsätzlichen Nein«, mit dem wir die Herrschenden praktisch konfrontieren, sei es bei G20, Ende Gelände oder in einer großen Kampagne gegen Rüstungsexporte.

Der Raum für Neues kann letztlich nur darüber erkämpft werden, dass die Macht der Herrschenden und der herrschenden Verhältnisse zurückgedrängt und geschwächt wird. Und auch in und aus solchen Kämpfen kann als Resultat »Subjektivierung« und Organisierung entstehen, wenn dabei repressive gesellschaftliche Bedingungen und Widersprüche produktiv verarbeitet sowie kollektiv-solidarische Widerstandskulturen erlebt und gemeinsam entwickelt werden können. Eine Aufgabe der IL sollte es auch sein, diese Erfahrungen zu reflektieren und zu verbinden mit dem, was wir im Zwischenstandspapier »Richtungsforderungen« genannt haben und mit dem Aufbau breiterer widerständiger Strukturen und Ansätze. Insofern stimmen wir hier dem Beitrag von Alex zu, dass wir auch die ermächtigende kollektive Erfahrung »auf der Straße« ganz dringend brauchen. Jedoch fehlt seiner ausführlichen Darstellung der historischen Bernstein-Luxemburg-Kontroverse um Reform und Revolution eine Annäherung an das »Wogegen und das Wofür« da gekämpft werden soll. Und seinem daraus abgeleiteten Konzept der »Mutigen und Risikobereiten« fehlt die Verbindung zu Formen, die Viele praktizieren und in die sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen einbringen können.

Wir schlagen vor, dass sich die IL mehr und stärker auch mit der Frage beschäftigt, wie eine befreite Gesellschaft in Umrissen gedacht werden kann und welche Keimformen dafür unter den gegebenen Bedingungen aufgebaut werden können. Wir sind uns völlig klar darüber, dass es das Richtige im Falschen in Reinform nicht geben wird. Es ist auch klar, dass der Bereich der Warenproduktion dafür eher nicht geeignet ist – da hat Rosa (wie von Alex zitiert) schon recht gehabt. Es ginge bei allem also immer auch darum, das Waren- und Tauschprinzip tendenziell auszuschalten. Wir wollen aufbauend auf diese Vorüberlegungen in einem Suchprozess Projekte finden, sie in den öffentlichen Diskurs einspeisen und möglichst auch umsetzen, die über das Bestehende deutlich sichtbar hinausweisen und Elemente einer nachkapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise beinhalten. Uns interessiert auch die Probe aufs Exempel, dies gerade nicht im eigenen Biotop zu versuchen.

Materielle Basen für revolutionäre Subjektivitäten

Unsere Gedanken kreisen um Projekte, die den Bereich der elementaren Daseinsvorsorge bzw. der elementaren menschlichen Bedürfnisse betreffen: Gesundheit/Pflege, Bildung/Kultur, Wohnen, städtische Infrastruktur und in Verbindung damit auch Produktion von Lebensmitteln. In diesen Bereichen zeigt sich deutlich, dass bedürfnisgerechte Organisation und kapitalistische (profitable) Form sich klar widersprechen. Manches davon ist bisher noch wenig kapitalisiert oder existiert in Zwitterformen. Manches - wie der ganze Bereich »Wohnen« - schreit förmlich danach, aus Verwertungszusammenhängen herausgelöst zu werden. Die breite Zustimmung zur Kampagne »Immobilienkonzerne enteignen« in Berlin zeigt das deutlich. Mit Commoning (Beitragen/gemeinsam Verfügen statt Tauschen) einerseits und andererseits mit demokratisch kontrollierter, kostenloser oder möglichst günstiger sozialer Infrastruktur (statt individualisierter Armutsverwaltung auf Warenbasis oder abgeschlossenen Kollektiv-Projekten von Privilegierten) zu experimentieren und gleichzeitig den Care-Bereich als zentrales Kampffeld in sexistischen Unterdrückungsverhältnissen weiter zu politisieren, scheint uns spannend und weiterführend.

Als materielle Basis für uns und unsere kollektive Reproduktion können solche Projekte von zentraler Bedeutung sein und gleichzeitig sind sie ein potentieller Ort zur Ausbildung revolutionärer Subjektivitäten, wie es Freiräume, besetzte Häuser u.a. ebenfalls sein können, wenn sie mit politischen Kämpfen, die die Macht der Herrschenden eindämmen/brechen wollen, verbunden werden. Darüber hinaus bieten sie auch eine ideale Basis und einen Anziehungspunkt für Formen basisdemokratischer politischer Selbstbestimmung und damit erfahrbare Alternativen zum existenten politischen System.

Für eine geschärfte Kapitalismusanalyse und davon ausgehende Transformationsperspektive ist es jedoch entscheidend, nicht beliebig alle existierenden alternativen Projekte nebeneinander zu stellen. Wichtige Kriterien für die wirklich transformative Qualität solcher Projekte wären für uns:

  • Nicht identitär aufgeladen und als persönliches Wolkenkuckucksheim der Beteiligten angelegt, sondern an konkreten allgemein-menschlichen Bedürfnissen ansetzend
  • Organisationsform der Multitude, der gesellschaftlichen Vielheit mit sehr unterschiedlichen Subjektivitäten (verkürzt auch »Diversität« oder »Pluralität« genannt).
  • Die so entstehenden »Keimformen« (Sutterlütti/Meretz) müssen die Entwicklung neuer »Beziehungsweisen« (Bini Adamczak) bzw. Reproduktionsweisen beinhalten.
  • Dabei müssen das Markt- und Tauschprinzip sowie die Warenform weitgehend in Frage gestellt bzw. zumindest teilweise durch Beitragen und gemeinsame Verfügung ausgeschaltet werden
  • Bezüglich der Beteiligung/Involvierung in diese Projekte muss ein hohes Maß an Freiwilligkeit garantiert sein und trotzdem eine hohe Inklusionskraft (real oder potentiell alle einschließend) entwickelt werden.

Aufbau und Erhalt/Betrieb von Commons und Sozialer Infrastruktur brauchen - ebenso wie andere Lebensbereiche - Zeit. Insofern finden wir es wesentlich, unsere Kämpfe immer mit der Frage und Forderung nach der Verfügung über Zeit zu verbinden. Die 4-in-einem-Perspektive (Frigga Haug) bietet dazu eine gute Orientierung: Nur wenn wir unsere Lebenszeit gleichmäßig aufteilen (können) auf die zentralen Bereiche des Lebens (Erwerbsarbeit/gesellschaftlich notwendige produktive Arbeit, Sorgearbeit/reproduktive Arbeit, gesellschaftlich-politische Mitbestimmung, freie Zeit/Muße/Kultur) haben wir ausreichende Kapazitäten, uns für und in Commons und Sozialen Infrastrukturen sowie allgemeinpolitischen Kämpfen zu engagieren. Ansonsten sind tendenziell nur die aktiv, die es sich leisten können bzw. wollen (psychisch, physisch, finanziell,...) und sich dabei tendenziell selbst ausbeuten bis zum Burnout. Selbstermächtigung, Teilhabe und Mitbestimmung (Commoning) setzt Zeit voraus - für uns und umso mehr für alle diejenigen, die nicht hoch motiviert und/oder sozial privilegiert sind.

Autorin: Die IL Tübingen hatte schon Anfang 2018 in dem längeren Text »Materielle Basis, Einstiegsprojekte und konkrete Utopie« zur Strategiedebatte in der IL Überlegungen einer Doppelstrategie von gemeinschaftlichen Commons (abgegrenzte Gemeinschaftsprojekte wie Wohnprojekte, Solidarische Landwirtschaften) und Sozialer Infrastruktur (bedingungslos und offen für alle, z.B. ÖPNV umsonst) dargestellt und ins Verhältnis gesetzt zu übergreifenden Kampagnen sowie Kämpfen um Zeit im Sinne der 4-in-einem-Perspektive.

Das Bild ist ein Auschnitt des »Recht auf Stadt«-Wimmelbilds von Marc Amann und Markus Wende, das hier genauer betrachtet und bestellt werden kann.