Antworten für eine realistische Revolutionspolitik

Einige Autor*innen des Beitrags »Für eine neue revolutionäre Realpolitik« gehen mit diesem Beitrag auf einige nachfolgende Kritiken ein. Dabei verfeinern sie ihre Vorstellungen über den Weg zur Emanzipation.

Wir freuen uns sehr darüber, dass es bereits Erwiderungen auf den auch von uns mitformulierten Text gab und weitere geben wird. Denn wenn wir mit der grundsätzlichen strategischen Verständigung innerhalb der IL weiterkommen wollen, was wir für dringend notwendig halten, dann müssen wir auch jenseits konkreter Kampagnen– und Großprojektplanung um Positionen ringen – und dafür ist die erste Voraussetzung, dass diese Positionen überhaupt erst mal transparent und nachvollziehbar formuliert werden. Deswegen würden wir uns auch weiterhin sehr freuen, wenn weitere Texte nicht nur mögliche Leerstellen in unserem Text benennen, sondern vor allem auch eigene strategische Positionen ausbuchstabieren.

Beim Lesen der beiden Texte der Genoss*innen Alex und Julia hatten wir den Eindruck, dass sich dort Punkte vermischen, in denen wir einen tatsächlichen inhaltlichen Dissens zu unserer Position wahrnehmen und solche, bei denen es sich eher um Missverständnisse handelt. Das wollen wir im folgenden Text noch einmal aufschlüsseln, auch weil wir bei einigen Missverständnissen nachvollziehen können, wie sie beim Lesen unseres ersten Textes entstanden sind. Deswegen freuen wir uns über die Gelegenheit, unsere Position hoffentlich noch einmal klarer und weniger anfällig für diese Missverständnisse darlegen zu können und gleichzeitig zu benennen, wo echte Dissense liegen – mit dem Ziel, die weitere Diskussion zu befördern.

Die drei Ebenen der Transformation

Um mal ganz grundsätzlich einzusteigen: Wir gehen davon aus, dass sich die Gesellschaft auf dem Weg in den Kommunismus auf grob drei Ebenen revolutionieren muss:

  1. Ein sehr großer, mehrheitlicher Teil der Gesellschaft muss einerseits in die Lage versetzt werden, Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen im Konkreten und ihre eigene Position in diesen zu erkennen, andererseits emotional und rational von der Möglichkeit überzeugt sein, sie überwinden zu können.
  2. Materielle Siege: Dieser Teil der Gesellschaft muss materiell gewinnen. Er muss jene Machtzentralen radikal-demokratisch erobern, die sich nicht überflüssig machen, die weiterhin die Ressourcen verteilen und die gesellschaftlichen Organisationsformen bestimmen. Radikal-demokratisch in dem Sinne, dass politische Maßnahmen von großen Mehrheiten getragen werden (was weiter greift als ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen) und nicht autoritär umgesetzt werden müssen.
  3. Gesellschaftlich verankerte Organisationen als Akteure von Veränderung aufbauen und neue Organisationsformen entwickeln: Dieser Teil der Gesellschaft muss sich auf die Suche nach neuen herrschaftsarmen Organisationsformen (unter anderem von Produktionsprozessen) machen, sie gleichermaßen handlungsfähig und rückgekoppelt in demokratische Prozesse entwerfen, sie gegen Herrschaftsentwicklungen und -angriffe immunisieren, sie ausprobieren und immer wieder korrigieren, bis sie in der Lage sind, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Gleichzeitig müssen wir Organisationen aufbauen, die Träger gesellschaftlicher Veränderung sein können.

Damit meinen wir aber, und das scheint uns ein zentrales Missverständnis, nicht drei nacheinander folgende, aufeinander aufbauende Schritte, sondern Ebenen, auf denen gleichzeitig Entwicklungen stattfinden müssen, da sie sich alle gegenseitig ermöglichen. Keine dieser drei Ebenen kann warten, bis eine der anderen vollendet ist, alle drei müssen gleichzeitig passieren.

Dieses Verschlungensein der Ebenen scheint der Text von Alex auch anzuerkennen, wenn er anführt, dass auch Luxemburg die Notwendigkeit von Reformkämpfen für die Bildung von Klassenbewusstsein sowie organisatorischen, praktischen und intellektuellen Fähigkeiten sieht. Er missversteht unseren Text, wenn er bei uns das alleinige Ziel vermutet, materielle Zwischensiege zu erringen, die sich losgelöst vom Bewusstsein von ganz allein zum Kommunismus aufaddieren. Wenn wir sagen, dass es »uns mit jedem Kampf darum gehen (muss), Handlungsspielräume zu erweitern und die Bedingungen für künftige Kämpfe zu verbessern«, dann meinen wir damit mitnichten nur die Handlungsspielräume und Bedingungen für weitere materielle Siege, sondern alle drei Ebenen: die Bewusstseinsbildung, die materiellen Siege und die Entwicklung neuer Organisationen und Organisationsformen.

Kämpfe und Bewusstseinsbildung

Wir kritisieren vielmehr die Fokussierung vieler Linker (auch in der IL) auf auf das Bewusstsein und zwar nicht einmal als Bewusstseinsbildung, die wir auch für essenziell halten, sondern als reine Bewusstseinspropagierung: Eine Anrufung, die sich in einem diffusen »gegen die Herrschaft/gegen den Kapitalismus« erschöpft. Das Ergebnis ist ein Bewusstsein, das nicht in der Lage ist, die konkrete Realität und Ausformung dieses Herrschaftssystems zu erfassen und selbstständig die dazugehörigen Prozesse wiederzuerkennen. Es ist vielleicht denkbar, dass sich über ein solches Bewusstsein ein wütender Mob bildet, der oberflächliche Herrschaftsphänomene angreift. Die entscheidenden materiellen Dinge aber, die zu tun sind, um diese aufzulösen, kann er nicht begreifen. Die Richtung, in die er rennt, ist fragil. Die kommunistische Gesellschaft kann er nicht aufbauen und wahrscheinlich auch nicht erkennen, wenn jemand anderes das tut.

Die allermeisten Menschen werden nicht massenhaft Zeit und Energie aufwenden und hohe Risiken für etwas eingehen, das sie entweder gar nicht verstehen oder das sich zwar gut anhört, aber gleichzeitig so fern ist wie das Paradies in der Bibel. Eine Bewegung, die meint, warten zu können, bis sie erst fein säuberlich die Macht erobert und sich dann in aller Ruhe das erste Mal darüber unterhalten kann, wie sich Kommunismus konkret in materielle Organisationsformen übersetzen lässt, hat schon verloren. Das, was es in Reformkämpfen zu erlernen gilt, geht weit darüber hinaus, moralisch oder militärisch »von außen gegen« das komplett intakte Herrschaftssystem zu sein, wofür man dessen Strukturen nur grob erahnen muss.

Antagonismus im Hier und Jetzt

Insofern stoßen wir uns an Alex‘ Formulierung, Gegenmacht lasse sich nicht in den Institutionen aufbauen, sondern nur als »antagonistische Kraft, die (die Institutionen) von außen herausfordert«. Institutionen scheinen uns hier ein Platzhalter für Herrschafts-Terrain zu sein, von dem wir uns fern zu halten haben. Wir sind völlig einverstanden damit, wenn er etwa die Genossenschaftsbewegung im Herrschafts-Terrain verortet, die einst ihrerseits antrat, antikapitalistische Arbeitsformen zu entwerfen. Für die Gewerkschaften gilt das Gleiche, und die Liste lässt sich fortführen. Fazit: Es ist schwer, im Kapitalismus eine stabil gute Sache aufzubauen. Letztendlich scheint es sich hier um die Binsenweisheit zu handeln, dass es kein richtiges Leben im Falschen gibt.

Das ist die Problemlage. Aber wie kommen wir da raus? Eine antagonistische Gegenmacht ist keine moralische Geisteshaltung. Sie besteht aus vielen bewussten und entschlossenen Menschen mit ihren materiellen Existenzbedingungen und den Organisationsformen zwischen diesen Menschen, die ebenfalls ihre materiellen Seiten haben. Diese Gegenmacht muss also ganz materiell in dieser Welt existieren. Sie hat eben kein »Außen« zur Verfügung, in dem sie sich herrschaftsfrei entwickeln könnte, sondern bewegt sich auf dem selben beschissenen Terrain wie alles andere. Die Herausforderung besteht ja eben genau darin: Ohne jemals selbst komplett herrschaftsfrei gewesen zu sein, muss sich eine antagonistische Praxis als solche beweisen, indem sie die materielle Herrschaft konkret in Frage stellt, ihre Macht unterbricht, wenn sie noch nicht zu durchbrechen ist, und diese Unterbrechung zur Erweiterung der Spielräume auf allen drei Ebenen nutzt. Die Frage, die man an eine politische Praxis stellen muss, ist nicht: »Ist sie frei von kapitalistischer Sünde?« oder »Funktioniert sie für alle Zeit?«, sondern: »Sieht es auf allen drei Ebenen (ermächtigende Bewusstseinsbildung, radikal-demokratische Eroberung der Machtzentralen, Entwicklung neuer Organisationsformen) nach ihr chancenreicher aus als vor ihr?«

Dann kann sich - vielleicht offensichtlich, vielleicht überraschend für die Radikale Linke - etwas aufbauen; dann kann sich aus diesen Praxen auch ein Befreiungsschlag entwickeln, mittels welchem sich in kurzer Zeit sehr viel hin zum Richtigen bewegt (denn dass wir diese Entwicklungen nur linear denken und die Wichtigkeit von Sprüngen nicht sehen können, wie Julia schreibt, halten wir ebenfalls für ein Missverständnis). Aber das Richtige wird sich nicht in einem Aufwasch machen lassen. Auch danach stellt sich vom Prinzip her das gleiche Problem: Noch immer ist das Richtige unfertig, muss es erst mal weiter verteidigt werden gegen das Falsche.

Wir wollen auch Alex‘ Annahme unter die Lupe nehmen, dass sich Menschen nicht nur aus materiellen Gründen auflehnen und dass wir nach genau diesen Leuten suchen sollten, wozu Julia schon einiges geschrieben hat, das wir teilen. Wir glauben nicht, dass Widerstand immer nur die eigene Lebensperspektive im Sinn hat und sich nur auf garantiert erreichbare Zwischenziele beziehen kann. Aber: Er muss sich auf eine für das politische Subjekt fassbare materielle Realität beziehen, auf einen miesen Lebensumstand, den es beseitigen will. Das Subjekt muss daran glauben, dass es mit seinen Handlungen und eingegangenen Risiken irgendeine positive, richtungsweisende Kraft entfalten kann, den miesen Lebensumstand langfristig zu überwinden. Auch uns Genoss*innen, die etwas für den Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und das Patriarchat investieren und riskieren, erscheinen diese ja als Ursachen von konkreten materiellen miesen Lebensumständen (mindestens für irgendwen, wenn nicht für uns selbst), die wir auf diese Weise zu beseitigen hoffen. Nur teilen diese Ursachenanalyse derzeit eben nicht sehr viele Menschen, weshalb wir zunächst nach kleineren materiellen Visionen suchen müssen, die wir mit anderen teilen. Wir wählen diese Visonen auf eine Weise, dass wir berechtigterweise hoffen können, neue Organisationsformen zu entwickeln, bei anderen Verständnis für unsere Position zu erlangen oder selbst etwas mehr zu verstehen.

Ein Beispiel aus Berlin

Um unser Missverständnis zur »Materialität« von Zwischenzielen auszuräumen, scheint uns die Kampagne »Deutsche Wohnen und Co enteignen«, an der sich auch einige von uns beteiligen, als ein geeignetes Beispiel: Per Volksentscheid auf Landesebene einen milliardenschweren Immobilienkonzern enteignen zu wollen, ist ganz sicher nicht der gewinnbarste Kampf, der sich denken lässt. Überhaupt niemand der an dieser Kampagne Beteiligten, ob Antikapitalist oder nicht, sieht den Erfolg als garantiert an. Trotzdem halten wir diese Forderung und Kampagne für genau richtig. Denn sie entwirft eine weithin verständliche, konkrete Vision: Die miesen Lebensumstände »gängelnder Vermieter«, »hohe Miete« und der Unterdrücker selbst sollen beseitigt werden, aber eben nicht nur als abstrakte Menschenrechts-Forderung. Was ganz praktisch organisatorisch dafür zu tun wäre, hätte man die Macht, ist ganz klar, so dass sich »der Sachzwang« als politisches Kräfteverhältnis entpuppen kann. Wir ebnen damit langfristig den Weg für Enteignungen, weil wir sie als Ausdruck von Demokratisierung denkbar machen.

Unmittelbar materielle Gewinne wird es hier vermutlich nur durch Zugeständnisse seitens Deutsche Wohnen, der politischen Ebene oder in der Rolle des Investorenschrecks geben können. Was das Bewusstsein allerdings betrifft, können wir hier viel gewinnen, und zwar gerade deswegen, weil es die Verbindung zu den konkreten materiellen Lebensumständen gibt: Der Unterdrücker, der hinweggefegt werden soll, lässt sich recht leicht als Kapitalist verstehen, die Eigentumsverhältnisse und der Immobilienmarkt als Ursache. Damit haben letztendlich die meisten sehr viel mehr von dem verstanden, was sie für eine Revolution wissen müssen, als wenn wir einen antikapitalistischen Block auf einer Demo machen. Gleichzeitig erleben sich die Beteiligten in der Kampagne als handlungsfähig und wirkungsmächtig, sie sammeln in der Interaktion mit anderen neue Erfahrungen und verändern sich dabei selbst. Was den Aufbau neuartiger demokratischer Organisationen betrifft: Die Volksentscheids-Kampagne selbst ist arm daran. Wir sehen sie aber in einem gegenseitigen, produktiven Verhältnis mit den Mieter-Initiativen, in der sich derzeit Menschen organisieren, deren sozialer Hintergrund untypisch für unsere politischen Projekte ist. Das Zusammenspiel zwischen der Kampagne und den Mieter-Initativen, zwischen der Richtungsforderung nach Enteignung und der materiellen Realität derjenigen, die sie stellen, erscheint uns als eine politische Praxis, die unsere Spielräume auf allen drei Ebenen erweitern kann.

Insofern stimmen wir Alex zu, dass es nicht darum geht, Kämpfe danach auszusuchen, »wo sie am einfachsten zu gewinnen sind, sondern wo sie sich am heftigsten zuspitzen könnten«. Allerdings gibt es in der Frage, was zuspitzbar ist, was Leute begeistern kann und uns neue Spielräume erschließt, eine starke Verbindung zu dem, was damit materiell gewonnen werden kann. Worum es nicht gehen darf, ist mit allen Mitteln irgendwie noch die klitzekleinste Reform herauszukitzeln, sondern die Kämpfe so zu führen, dass sie immer mehr Menschen Mut machen und weitergehen wollen: in einem produktiven Scheitern. Also dem Gewinnen von Kämpfen und gleichzeitigem Bemerken, dass man eigentlich noch weiter gehen müsste. In diesem Sinne stimmt es, dass die Form der Kämpfe auf dieses Ziel hin gewählt werden muss. Dabei geht es aber nicht um eine idealisierte, heißt geschichtslose Wahl eines Mittels, sondern um die Bestimmung des Mittels aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus.

Die Autor*innen foermchen, mimi, roberto, terz und thinkpink sind in der IL Berlin aktiv.

Das Bild zeigt symbolisch die Wohnraumpolitik des Roten Wiens.