Fragen an eine realistische Revolutionspolitik

Die Genossin Julia kritisiert die ersten beiden Beiträge unserer Debatte: Objektive Geländegewinne führen nicht automatisch zu mehr revolutionärem Bewusstsein. Doch stattdessen auf das vorhandene revolutionäre Bewusstsein zu setzen, hilft der radikalen Linken nicht aus ihrer marginalisierten Position heraus. Es gilt, unsere eigene Rolle ausgehend vom Stand der Kämpfe (und ihrer Grenzen) zu schärfen.

Kurz vorweg: Dieser Text ist entstanden als Reaktion auf die ersten beiden Texte der Debatte und ist eher eine Aneinanderreihung von Punkten, die mir bei ihren Lesen aufgefallen sind. Er gibt allerhöchstens eine bruchstückhafte strategische Orientierung. Das im Vorfeld zu sagen, ist mir wichtig, – denn dies ist auch der erste Kritikpunkt, der mir bei »Von der Realpolitik zur Revolution« aufgestoßen ist: Dieser Debattenbeitrag beschränkt sich hauptsächlich auf eine Kritik an »Für eine neue revolutionäre Realpolitik« und gibt für die proklamierten Notwendigkeiten einer radikalen Linken – etwa »revolutionäre Subjekte aufbauen« oder »antagonistische Kraft, die die Institutionen herausfordert« – keine Hinweise darauf, wie genau das passieren soll. Ich glaube, unserer strategischen Debatte würde es aber gut tun, entweder diese Punkte auszubuchstabieren, wenn sie so zentral gesetzt werden, oder aber sie wenigstens stärker als offene Fragen zu benennen.

Anklopfen oder eintreten? Unser Verhältnis zu Institutionen

Der Genosse Alex aus Düsseldorf schreibt: »Eine tatsächliche Gegenmacht lässt sich nicht innerhalb der gegenwärtigen Institutionen aufbauen, sondern ist die antagonistische Kraft, die sie von außen herausfordert.« Das mag zunächst einmal gut klingen, beantwortet aber weder, wie diese antagonistische Kraft aufgebaut wird und sich organisiert, noch, was die Mittel und Hebel sind, mit denen sie die Institutionen herausfordert und auch nicht, wofür. Die Genoss*innen, die sich für eine ›Revolutionäre Realpolitik‹ aussprechen, verwischen wiederum den Unterschied zwischen denen, die Reformen herausfordern und denen, die sie umsetzen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass unklar bleibt, ob es hier bei der Einnahme bestimmter Institutionen um die individuelle Übernahme von Funktionen oder um kollektive Aneignung geht, beziehungsweise welchen Stellenwert was in welcher Reihenfolge hat. Darüber, wie wir das Verhältnis zu staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen denken, müssen wir aber stärker Klarheit gewinnen. In der aktuellen gesellschaftlichen Situation sind wir diejenigen, die außerhalb von Gewerkschaften, NGOs und parlamentarischen Institutionen kämpfen – mal in strategischer Bündnispartnerschaft gemeinsam, mal ohne, mal gegen sie.

Wenn wir uns nicht die Frage stellen, wie wir entweder eigene Gegeninstitutionen aufbauen oder Terrain durch partielle kollektive Übernahme erkämpfen, bleibt unklar, wie wir jemals das Verhältnis überwinden wollen, in dem wir nur Widersprüche zuspitzen oder sichtbar machen und dadurch letztendlich doch in einem appellativen Verhältnis zu den Institutionen bleiben – gleich ob es sich um Praxen der radikalen Linken wie Volksentscheide oder Hausbesetzungen, Demos gegen steigende Mieten oder brennende Autos in Kreuzberg handelt. Oder aber es muss klar ausgesprochen werden, wenn der IL vor allem die Rolle als Lautsprecher zugewiesen wird. Das hieße, die Austragung von Kämpfen anderen zu überlassen und einzugestehen, dass wir tatsächlich keine gesellschaftlich organisierende Kraft (mit)entwickeln wollen.

Die Bewusstseinsfrage in unseren Kämpfen

In der Bestimmung unseres »primären Ziels« in Reformkämpfen bleiben beide Texte ähnlich dornenlos: »kämpfen lernen« sagt Alex, »Kämpfe gewinnen« sagt das Autor*innenkollektiv. Beides erscheint als Selbstzweck, wenn unser erstes Ziel in diesen Kämpfen es nicht ist, Bewusstsein für gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und die eigene Verortung darin zu schaffen, die Ausgangspunkt für ein kollektiveres Subjekt ist. Also konkret, dass entweder der eigene Kampf auf einen anderen bezogen wird; zum Beispiel wenn Menschen, die gegen steigende Mieten kämpfen, sich im Kampf von Sexarbeiter*innen gegen Sperrbezirke wiedererkennen, weil es in beidem um Verdrängung geht. Oder, dass sich über die eigene Auseinandersetzung und über das eigene Interesse hinaus mit anderen solidarisiert wird, weil es ein gemeinsames Interesse an einem guten Leben für alle gibt.

Jetzt könnte erwidert werden: Dieses Bewusstsein entsteht im gemeinsamen Kampf oder durch die Erfahrung, dass Kämpfen etwas im Positiven verändert. Letzteres birgt jedoch die Gefahr der Befriedung und Genügsamkeit in sich – warum weiter kämpfen, wenn sich die eigene Situation so verändert hat wie gewollt? Und beide Annahmen drohen Widersprüche zu verwischen oder sogar zu negieren, die Resultat verschiedener Herrschaftsverhältnisse sind.

Das Autor*innenkollektiv schreibt: »Vermeintlich nicht »erfolgreiche« Marktteilnehmer*innen sind oft diskriminiert: rassistische Ausschlüsse am Wohnungsmarkt oder der Gender-Pay-Gap sind Beispiele. Der Kampf gegen das Eigentumsprivileg am Markt lässt sich so verbinden mit Kämpfen gegen Rassismus und Patriarchat.« Hier machen es sich die Autor*innen etwas einfach: Es reicht nicht, Unterdrückungsverhältnisse aufzuaddieren. So werden Widersprüche übergangen, die sich real ergeben und Konfliktpotentiale bieten.

Kollektive Lebensformen, die nicht der Kleinfamilie entsprechen, haben es nicht nur genauso schwer am Wohnungsmarkt wie Klein-Familien, ausreichend Wohnraum zu finden. Anders als Klein-Familien müssen sie um Anerkennung kämpfen – auch im Kreis derer, mit denen sie gegen Verdrängung kämpfen. Ein weiteres Beispiel: In der Auseinandersetzung der Pflegekräfte für mehr Personal verbindet sich Klasse und Geschlecht nicht dadurch, dass es vor allem Frauen sind, die als Pflegekräfte in Krankenhäusern arbeiten. Wenn es »nur‹ um mehr Personal geht, ist damit noch lange nichts zur gesellschaftlichen Abwertung weiblich konnotierter Sorgearbeit gesagt. Dass mehr Pflegekräfte gleichbedeutend mit einer Aufwertung der fürsorglichen Aspekte der Arbeit sind, kann das Ergebnis sein, wenn wir genau darum kämpfen. Doch einen Automatismus gibt es nicht, dass Entlastung der Pflegekräfte einhergeht mit einer fürsorglichen Pflege, die die Patient*innen als autonome Subjekte ernst nimmt.

An den Knotenpunkten von Herrschaft ansetzen

An diesen Punkten ist es unsere Aufgabe einzuhaken: Denn es sind genau diese Knotenpunkte von Herrschaftsverhältnissen, an denen sich die partikularen Auseinandersetzungen verbinden lassen. Dies ist aber eine andauernde Anstrengung und klappt nicht durch Akklamation. Es ist auch deshalb mit Mühen verbunden, weil das – um beim Beispiel der Pflegekräfte zu bleiben – heißt, dass wir nicht nur den Kampf um mehr Personal unterstützen, sondern ebenso einen um gute Versorgung und Pflege in Teilen auch konfliktiv mit Pflegekräften führen sowie beides verbinden müssen. Zu behaupten, es sei schon an sich ein gemeinsamer Kampf, wäre eine Vereinnahmung beider Auseinandersetzungen.

Die Frage, wie wir kämpfen, die Alex betont, kann dafür relevant sein, ob wir durch die Form ein verallgemeinerndes Moment schaffen. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, auf Zuspitzung zu setzen, weil verschiedene Kämpfe sich in der jeweiligen Reaktion der Gegenseite wiedererkennen. Um ein weiteres anschauliches Beispiel zu nennen: Streikende, die bei einer Werksblockade von der Polizei geräumt werden, entdecken sich in diesem Moment in der Räumung von Klima-Aktivist*innen von einer Schiene wieder. All das erfordert aber eine hohe Synchronisation der unterschiedlichen Kämpfe, sowohl hinsichtlich der Eskalationsdynamik als auch des Bewusstseinsstandes, die wir höchstens in Ansätzen haben. Ohne einen zumindest ähnlichen Bewusstseinsstand der unterschiedlichen Kämpfe ist die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass der Polizeiknüppel, der Gipfel-Blockierende trifft, von einer sich in einer Kiez-Ini organisierenden Mieterin eben nicht als gegen sich selbst gerichteten wahrgenommen wird.

Dies spricht weder gegen die eine, noch die andere Praxis. Es sollte für uns allerdings die Frage aufwerfen, worauf wir zu welchem Zeitpunkt den Fokus legen. In eine Sackgasse führt, wenn wir Eskalationsdynamiken nicht ausgehend vom Stand der Kämpfe denken und erkennen, wann wir Schritte weiter gehen können und auch müssen. Genauso führt es ins Leere, wenn Zuspitzung und Eskalation zum Selbstzweck werden und damit bis auf unmittelbare Selbstermächtigungserfahrungen folgenlos bleiben.

Mit wem zuspitzen?

Komplizierter wird es natürlich dadurch, dass nie im Vorhinein voraus gesagt werden kann, wann und welche Form der Konfrontation und Zuspitzung spontan weitere Prozesse in Gang setzen kann. Eine Aufmerksamkeit für solche Momente fehlt wiederum der Perspektive der revolutionären Realpolitik völlig, welche die Steigerung von Kämpfen in Form und Inhalt stark linear und ohne qualitative Sprünge denkt.

Ähnlich schematisch reduziert der Text darüber hinaus Interessen auf die ökonomische Sphäre und gibt damit keinen Hinweis darauf, wie aus partikularen Auseinandersetzungen universelle werden können. Aus Abwehrkämpfen gegen steigende Mieten einen Kampf gegen den privaten Wohnungsmarkt zu machen, hebt die Auseinandersetzung gewiss auf eine neue Stufe. Wie sie aber des Weiteren politisches Bewusstsein für Gesamtzusammenhänge schaffen kann, bleibt dabei unklar. Denn es geht nicht nur darum, »universalistisch und intersektional einschließend argumentieren« zu können. Stattdessen muss das Vorgehen zum einen heißen, diesen Universalismus mit jenen, mit denen wir kämpfen, als gemeinsame Grundlage zu entwickeln und diese sicherlich nicht konfliktfreie Bemühung auch zu verlangen. Zum anderen muss eine intersektionale Perspektive auch praktisch sichtbar sein und nicht nur mitgedacht werden.

Alex schließt seinen Text damit, dass es entscheidend ist, gemeinsam mit Vielen die Fähigkeit zu entwickeln, eine Zukunft für alle erkämpfen zu können. Wie wir kämpfen ist dafür unbenommen wichtig. Genauso wichtig ist aber die Frage, wie wir Viele werden. Wir sollten uns zwar schleunigst vom Begriff der Mehrheit verabschieden, der fälschlicherweise suggeriert, dass revolutionäre Gesellschaftsveränderung demokratisch abläuft. Aber es muss uns durchaus um eine gesellschaftlich relevante Masse gehen, die in der Lage ist, sich gegen Widerstände durchzusetzen; ebenso muss sie aber fähig sein, eine andere Gesellschaft für die Mehrheit zu organisieren und zu verteidigen. Diese relevante Masse erreichen wir nicht, wenn wir, wie Alex ebenfalls in seinem Beitrag betont, vor allem nach denen suchen, die sich nicht nur aus materiellen Gründen auflehnen und unabhängig von Fragen sozialer Sicherheit und Fürsorgeverantwortung risikobereit sind. Wer dadurch entlang der Achsen Klasse, Geschlecht und rassistischer Zuweisung erst mal nicht gesucht wird, liegt auf der Hand: Sich nicht nur aus materiellen Gründen auflehnen ist durchaus auch ein Luxus, den die beliebten Vielen (wenn wir die Vielen ernsthaft als Masse denken) nicht haben, die für ihr Bleiberecht kämpfen, die kurz vor der Zwangsräumung stehen, die sich nicht voll ausbeuten lassen können, weil sie keinen Kita-Platz finden.

Eine radikale Linke, die den Fokus ohne weitergehende Strategie auf diejenigen legt, die es sich jetzt schon leisten können, sich nicht nur aus materiellen Gründen aufzulehnen, kann den Anspruch antagonistischer Zuspitzung vielleicht erfüllen. Den Anspruch, diesen Antagonismus zu Gunsten einer anderen Gesellschaft aufzulösen hat sie dann aber aufgegeben.

Autorin: Julia ist aktiv in der Interventionistischen Linken Berlin.

Das Bild zeigt eine revolutionäre und doch amorphe Masse.