von Transformation?! tags Basis Utopien Transformation Datum Feb 2019
zuDen Kapitalismus überwinden reicht nicht. Simon Sutterlütti spricht sich mit dem folgenden Text dafür aus, den Konstruktionsprozess einer solidarischen Gesellschaft in das Zentrum der Transformationstheorie zu stellen.
Wer diesen Text ernst nimmt, wird feststellen, dass transformatorische Praxis durch ihn eher verkompliziert als vereindeutigt wird. Er verlangt ein neues Transformationstheorie. Doch ich halte diesen (Um-)Weg für notwendig und wichtig, denn die Transformationsfrage ist eine hochkomplizierte. Einfache Antworten verdunkeln den Raum eher, als dass sie das Problem ans Licht holen. Der Text stellt die alte Transformationsfrage ›Wie entsteht die befreite Gesellschaft?‹ wieder in das Zentrum.
Wider die Eroberung politischer Macht - wider den politisch-staatlichen Fokus
Reform und Revolution sind vorgetäuschte Alternativen, da sie Antworten auf dieselbe eingeengte Frage geben: Wie ergreifen wir die politische Macht? Diese Frage beruht auf einer transformationstheoretischen Vorentscheidung. Die eigentliche Transformationsfrage ist: Wie erreichen wir eine befreite Gesellschaft? Wenn wir glauben, dass diese durch einen politisch-staatlichen Bruch erreicht werden kann, dann kann sie auf die vorhergehende Machtfrage und die Alternative von Reform und Revolution eingeschränkt werden.
Diese Vorentscheidung stammt aus der traditionsmarxistischen Transformationstheorie, welche v.a. den Staatsapparat erobern wollte, um damit einen zentralistischen Sozialismus aufzubauen – das hat mittels Revolution auch mehrmals funktioniert. Da wir jedoch ein staatskritisches Ziel haben und jene, die ähnliche Ziele hatten, in den historischen revolutionären Kämpfen häufig verfolgt und liquidiert wurden, müssen wir uns fragen, ob politisch-staatlich fokussierte Transformationswege uns überhaupt dorthin führen können. Eventuell war die Revolution nicht nur einfach schlecht gemacht oder fand unter den falschen Bedingungen statt, sondern konnte gar nicht zum Erfolg führen. Dann sollten wir Reform und Revolution an zentralen Stellen neu denken. Diese Veränderungen sind als Elemente in staatskritischen Revolutionstheorien schon vorhanden, wir sollten sie konsequent weiterentwickeln.
Reform, Revolution und Konstruktion – Prozess, Bruch, Aufhebung
Reform und Revolution betonen idealtypisch wichtige Momente einer Transformation: Reform betont die Prozesshaftigkeit der Veränderung gegenüber der Plötzlichkeit der Revolution; Revolution betont den fundamentalen Bruch mit der kapitalistischen Vergesellschaftung gegenüber dem schrittförmigen Herausarbeiten der Reform. Als drittes Element schlage ich Konstruktion vor. Die Konstruktion betont den Aufbau solidarisch-befreiender Formen der Vergesellschaftung. Die Transformation ist dann ein Prozess, der einen fundamentalen Bruch zum Kapitalismus darstellt und hierbei eine neue Vergesellschaftung herstellt. Das Konstruktionsmoment ist zentral. Transformation zielt auf die Schaffung einer befreiten Gesellschaft, und das Konstruktionsmoment fragt eben danach: ›Wie entsteht die befreite Gesellschaft?‹.
Ich glaube, diese Frage ist innerhalb der link(sradikal)en Theoriebildung deutlich unterbestimmt. Es gibt Ansätze in anarchistischen Traditionen. Der Traditionsmarxismus hatte das Konstruktionsproblem kaum, da der Staat den Aufbau anleitete. Er stellte die Frage nicht einmal konkret, so dass neuere Transformationsansätze, welche seine Transformationsfrage ›Wie erobern wir die politische Macht?‹ übernahmen, auch keine neuen Antworten suchen mussten. Die Konstruktion bleibt eine Leerstelle, oder man vertraut auf Selbstorganisierungssprozesse in oder nach der Revolution.
Die Konstruktion wird dann häufig einem Bewegungsdeterminismus überlassen: In der Transformation werden wir schon die richtigen Formen finden, vorher müssen (und können) wir uns darüber keine Gedanken machen. »Stellt man sich die Revolution dagegen nicht als das blaue Wunder vor, als etwas, das die Proletarier im Eifer des Gefechts beinahe aus Versehen machen, spontan und ohne jedes vorab gefasste Ziel«, dann ist eine Verständigung über den Aufbauprozess allemal sinnvoll.
Die befreite Gesellschaft fällt nicht vom Himmel. Ihre neuen Formen der Vermittlung, der Konfliktmediation, des Re/Produzierens etc. müssen geschaffen werden. Und zwar von uns Menschen selbst, ausgehend von unseren Bedürfnissen, die sich mit und in den neuen Beziehungen verändern, entfalten und von herrschaftlicher Formierung lösen. Befreiung ist notwendig individuell, aber unmöglich individualisiert. Es geht um unsere eigene Befreiung, in und mit unseren kollektiven Lebensumständen, in und mit der Gesellschaft. Dieses Rausarbeiten aus den behindertenfeindlichen, sexistischen, klassistischen etc. Verhältnissen und der Aufbau solidarischer Strukturen braucht Zeit. Es benötigt einen intensiven Prozess und kann somit nicht in den Schützengräben der Revolutionskämpfe oder schnell ›am Tag danach‹ stattfinden.
Für diesen Konstruktionsprozess sehe ich kaum einen anderen Ort als den Transformationsprozess selbst. Während der Überwindung des Alten müssen wir das Neue im ausreichenden Maße schaffen – das ist der Kerngedanke der Aufhebungstheorie. Wenn dies nicht passiert, können wir nur hoffnungsvoll romantisierend auf die Selbstorganisisierungsprozesse nach der Revolution vertrauen, oder (was mir wahrscheinlicher scheint) uns dann mit hunderten autoritären, exkludierenden Alternativkonzepten rumschlagen. Es reicht nicht, den Kapitalismus zu überwinden, wir müssen gleichzeitig eine Alternative entwickeln. Es reicht nicht, eine begrenzende Macht gegen das Alte zu setzen, wir müssen dabei eine konstituierende Macht aufbauen.
Commons und die Notwendigkeit der Utopie
Aber wie? Transformationstheorien, die einen Konstruktionsprozess mitdenken, wie der erste Beitrag der Debatte, verweisen häufig auf einen ›Blumenstrauß der Alternativen‹: Genossenschaften, Solidarische Landwirtschaft, öffentliche Stadtwerke, Autonome Zentren etc. Dieser Blumenstrauß ist jedoch zu offen. Auch wenn alle diese Praktiken interessante Momente haben, so müssen wir doch deutlicher fragen: Welche dieser Praktiken erlauben uns einen befreienden Konstruktionsprozess? Welche können uns dabei nur unterstützen? Oder in der Sprache der Keimformtheorie: Was sind die Keimformen einer solidarischen Gesellschaft? Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb das Konstruktionsmoment unbeliebt ist: es verlangt die Thematisierung der Utopie. Wir müssen das Ziel zumindest grob bestimmen, um den Weg dahin erahnen zu können. Mit Sicherheit werden wir dann weiter ›fragend voran‹ schreiten, aber nicht mehr umherirrend. Es gibt somit eine notwendige Beziehung von Utopie- und Transformationstheorie. Die Grundlagen eines anderen Nachdenkens über Utopie sowie unsere eigene Utopie einer Commons-Gesellschaft haben wir an einem anderen Ort dargelegt (Sutterlütti/Meretz 2018: Kap. 4&6), hier will ich die zentralen Bedingungen einer solidarischen Gesellschaft direkt über die Commonsforschung einführen.
Die Commonsforschung fokussiert auf die inneren Beziehungsweisen (Commoning) von bedürfnisorientierten, selbstzwecksetzenden Praktiken »jenseits von Staat und Markt« und fragt wie diese gelingen können. Zwei Grundlagen konnten hierbei ausgemacht werden: ›Besitz & kollektive Verfügung statt Eigentum‹ und ›Freiwilligkeit statt Arbeit‹. Freiwilligkeit und kollektive Verfügung schaffen in sozialen Praktiken Bedingungen, unter denen es für Menschen subjektiv funktional, also mit guten Gründen naheliegend ist, die Bedürfnisse anderer einzubeziehen, mit ihnen solidarisch zu sein.
Solidarität ist hier nicht mehr ein ethischer Appell ›Sei doch solidarisch‹, sondern wird von den Bedingungen unterstützt und nahegelegt. Wir nennen solche Bedingungen Inklusionsbedingungen. Innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung dominieren Exklusionsbedingungen, welche Ausbeutung, Exklusion und Herrschaft nahelegen und unterstützen, und Orte der Solidarität zu prekären, gefährdeten und weiterhin herrschaftsdurchzogenen Praktiken machen. Dieser Fokus auf die Bedingungen und damit auf die Gründe unseres Handelns hilft auch, sich gegen ein beziehungsloses, vereinzelndes Keimformdenken zu schützen.
Ein selbstverwalteter Betrieb ist ohne Frage gegenüber einem herkömmlichen vorzuziehen, aber wenn dieser unter den gleichen Bedingungen handelt, innerhalb der gleichen Beziehungsform von Markt und Staat, dann hilft die Selbstverwaltung nur sehr eingeschränkt. Der Fokus auf das Commoning schärft den Blick auf die Beziehungen, unter denen Commoning stattfinden kann, und damit auf die Beziehungsstrukturen, auf die Bedingungen.
Eine entscheidende Einschränkung dieser Praktiken liegt auf der Hand und wird von ihren Kritiker*innen mit Recht erhoben: Sie sind klein, nischenhaft, vereinzelt. Commoning und Inklusionsbedingungen entstehen v.a. in interpersonalen Räumen, wo wir uns mit konkreten Anderen organisieren. Wie schaffen wir jedoch Bedingungen, die mir Solidarität mit chinesischen Fabrikarbeiter*innen nahelegen? Mit Bäuer*innen in Somalia? Hier geht es nicht um eine individualisierte Solidarität durch Fair Trade oder eine punktuelle Unterstützung ihrer Kämpfe, sondern um die Konstruktion solidarischer Bedingungen zwischen uns und allgemeinen Anderen. Über unsere interpersonalen Bedingungen können wir teilweise verfügen, aber wie können wir über unsere transpersonalen, gesellschaftlichen Bedingungen verfügen? Diese Frage können wir im Moment nicht befriedigend beantworten, auch wenn die Keimformtheorie hierfür einige interessante Konzepte wie Funktionswechsel, Dominanzwechsel, doppelte Funktionalität anbietet, hier einige Gedanken.
Verallgemeinerung des Commoning?
In der Commons-Bewegung wird die gesellschaftliche Verallgemeinerung von solidarischen Räumen häufig als Ausdehnung gedacht. Kommunen, solidarische Landwirtschaften, autonome Zentren etc. verbinden sich zunehmend und entwickeln lernend komplexe, transpersonale Formen der Re/Produktion. Diese stellen für immer mehr Menschen eine Alternative zur kapitalistische Re/Produktionsform dar. Ab einer bestimmten Größe sind Auseinandersetzungen und Kämpfe unausweichlich, und hoffentlich gewinnt die commonistische Re/Produktion gesellschaftliche Hegemonie – es ist kein evolutionär-reformistisches Hinüberwachsen, der revolutionäre Moment des Bruchs wird mitgedacht. Wir nehmen an, dass diese graduale, schrittweise Ausdehnung jedoch beschränkt sein muss, da sie sich innerhalb des engen kapitalistischen Rahmens von Privateigentum, Markt und Staat entwickelt.
Eine erste Alternative wäre das Moment des revolutionären Bruchs in der Transformation zu stärken und den Konstruktionsprozess enger mit einem revolutionären Prozess der Machteroberung zusammenzudenken. Wir schaffen neue Strukturen der Re/Produktion, der Koordination etc., und gleichzeitig beginnen wir einen Prozess der Ent- und Aneignung. Notwendig ist hierbei eine »zügige Ausdehnung« der Transformation, da sonst staatliche Kräfte die Ordnung des Privateigentums wiederherstellen und die neuen Beziehungen zerstören werden.
Die Stärkung des Bruch-Elementes lässt aber weniger Raum und Zeit für Prozess und Konstruktion. Wenn wir den Konstruktionsprozess in seiner dialektischen Schwierigkeit von Selbstbefreiung und Schaffung befreiender Formen ernstnehmen, bin ich wenig optimistisch, dass sich dieser schnell vollziehen kann. Wenn es gut läuft, schaffen wir die Aneignung, aber die Beziehungen, welche das Eigentum als gesellschaftliches Eigentum sichern würden und somit eine befreiende Re/Produktion ermöglichen, sind wahrscheinlich noch nicht ausgereift, und es droht eine autoritär-staatliche Wendung der Transformation.
In unserem Buch skizzieren wir einige andere Szenarien der Verallgemeinerung der interpersonalen Praktiken, aber keine ist wirklich überzeugend. Klar ist wohl bei all diesen Szenarien: linke Organisierung jenseits der Staatlichkeit ist entscheidend. Sie bildet nicht nur einen Rahmen, in welchem commonistisch-solidarische Praktiken erlebt und entwickelt werden, sondern in einer ihre Zersplitterung überschreitenden Form kann solch eine Organisierung auch komplexe, transpersonale Beziehungsformen von Koordination, Konfliktführung etc. entwickeln. Doch wenn sie tatsächlich eine solidarische Alternative schaffen will, muss sie die Konstruktionsfrage in ihr Zentrum rücken. Der Text hält was er verspricht: Er verkompliziert, veruneindeutigt und stellt neue Fragen. Wir glauben, dass eine Theorie der Konstruktion eben das ist, was emanzipatorischen Transformationstheorien fehlt. Lasst uns darüber nachdenken.
Autor: Simon Sutterlütti ist aktiv im Commons-Institut und Mitautor von ›Kapitalismus aufheben‹.
Das Bild zeigt keimende Pflanzen im Aufbruch.