Für eine neue revolutionäre Realpolitik

Der folgende Text ist ein leicht veränderter und gekürzter Beitrag zur Strategiedebatte in der iL. Der Vorschlag versucht, mit etwas antikapitalistischem Größenwahn und viel Alltagsverstand eine Blockade unserer Organisation zu überwinden – die Blockade bei der Strategiefindung. Wir denken, dass diese darauf beruht, dass die IL immer noch Themen addiert, anstatt Themen zu setzen und zu verbinden. Dieses Papier will daher eine Debatte anstoßen, die es ermöglicht, einen roten Faden für die vielen Kampagnen und Projekte der IL zu finden. Dabei geht es darum, politische Mehrheiten für eine sozialistische Gesellschaft zu gewinnen.

Unser Vorschlag lässt sich in folgende Punkte zusammenfassen:

1) Raus aus der Nische: IL bedeutet das Intervenieren in soziale Kämpfe, wir wollen linke Politik in die Mehrheitsgesellschaft tragen.

2) Alltagsorientierung: Intervenieren gelingt nur, wenn Leute uns verstehen. Projekte oder Ansprachen, die nur die Szene und ohnehin schon Überzeugten erreichen, sollten wir sein lassen.

3) Interessenpolitik und weitertreibende Forderungen: IL-Politik kann in die Gesellschaft wirken, wenn wir die Menschen bei ihren Bedürfnissen und Begehren ansprechen. Wichtigstes Werkzeug dabei sind weitertreibende Richtungsforderungen: Forderungen, die so konkret sind, dass sie Alltagsprobleme ansprechen, aber gleichzeitig über den kapitalistischen, rassistischen, patriarchalen Alltag hinaus weisen.

4) Wir nennen diese Strategie anschließend an Rosa Luxemburg revolutionäre Realpolitik. Unser Ziel ist es, Utopie und Alltag, Bruch und Realpolitik zu verbinden. Revolution ist für uns ein Prozess, der bereits jetzt vorbereitet werden muss, kein einmaliger Putsch oder Aufstand. Unser Ziel ist die Schaffung revolutionären Bewusstseins durch das Weitertreiben realpolitischer Forderungen.

5) Basisaufbau: Die IL ist kein Kampagnenheinz, aber ohne Kampagnen geht es auch nicht. Damit Kampagnen nicht verpuffen, brauchen sie eine gesellschaftliche Basis gibt. Diese Basis müssen wir mit aufbauen, durch Organizing und langfristige Arbeit statt Themenhopping.

6) Vergesellschaftung: Der Bruch mit kapitalistischer (Re)Produktionsweise wird vorbereitet, indem staatlich-autoritäre oder marktförmig-autoritäre Institutionen in gesellschaftliche Selbstverwaltung überführt werden. Dies schließt den Kampf um konkrete Institutionen ein, nicht jedoch Wahlpolitik. Ziel ist stattdessen sozialer Druck zur Aneignung und Vergesellschaftung von Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen

Neoliberalismus, Rechtspopulismus und richtungsweisende Kämpfe ums Existenzielle

Nach fast 30 Jahren Neoliberalismus in Deutschland sollten Kämpfe um soziale Grundbedürfnisse das zentrale Interventionsfeld für uns sein. Gesundheitssystem, HartzIV, Wohnungskrise, Angst vor Krieg – überall geht es darum, dass Sicherheiten wegbrechen. Die gesellschaftliche Linke hat Chancen, wenn sie dort ansetzt, wo Neoliberale und Rechte die elementaren Bedürfnisse weiter Teile der Gesellschaft verachten.

Ein Problem ist, dass die Rechte es erfolgreich schafft, »Sicherheit« als völkische In-Group weißer Deutscher zu konstruieren. Um dem Rechtsruck zu begegnen, reichen moralische Appelle nicht aus. Es braucht ein Angebot von links, das »Sicherheit« als soziale Sicherheit umdefiniert: als Versprechen einer Freiheit von Angst. Damit grenzt sich die Linke von der neoliberalen Mitte und dem rechten Block ab und macht im Alltag der Menschen einen Unterschied. Soziale Sicherheit muss als erreichbares Ziel im Kampf gegen kapitalistische Privilegien aufgebaut und in Mitte-Unten-Bündnissen verankert werden. Konkrete soziale Kämpfe sind somit Ausgangspunkt dieser Kampfstrategie, aber nicht ihr Ende. Um nicht nur realpolitisch, sondern auch revolutionär zu sein, müssen sie auf ein größeres Ziel orientieren: Vergesellschaftung und Sozialismus sind die Horizonte dieser Strategie. Es muss uns mit jedem Kampf darum gehen, Handlungsspielräume zu erweitern und die Bedingungen für künftige Kämpfe zu verbessern. Indem wir dabei universalistisch und intersektional einschließend argumentieren, können diese sozialen Kämpfe eine organische Verbindung mit antirassistischen, antifaschistischen und feministischen Kämpfen eingehen – auch wenn Eigenlogiken der Felder wichtig bleiben.

Gramscis »Stellungskrieg« führen

Dies gelingt am besten, wenn wir gewinnbare Kämpfe bis zum tatsächlichen Erfolg führen. Dafür braucht es einen langen Atem, diese Strategie ist aber erfolgsversprechender, als auf kurzlebige politische Dynamiken aufzuspringen. Denn wenn wir auf den revolutionären Moment warten, in dem spontan und gleichzeitig sowohl die Gesellschaft transformiert wird als auch das System der (Re-)Produktion, können wir ewig warten.

Antonio Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei, schlägt stattdessen vor, dass wir uns in einen »Stellungskrieg« begeben. Dabei geht es um eine langfristige Strategie, mit der die gegenhegemoniale Position zunächst innerhalb des kapitalistischen Systems gestärkt wird. Dabei nehmen wir Schritt für Schritt Institutionen und Orte, die wir der staatlichen Kontrolle abringen und demokratisch restrukturieren. (Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Wohnraum oder Arbeitsstellen). Es geht bei diesem »Stellungskrieg« aber nicht nur oder nicht schon am Anfang darum, Institutionen zu übernehmen oder zu zerschlagen. Es geht darum, um die Herzen und Köpfe der Menschen im Alltag zu ringen, öffentliche Diskurse zu verschieben, Bündnis- und Akteurskonstellationen zu verändern, institutionelle Handlungsspielräume auszuweiten und realpolitische Siege zu erringen.

Kämpfe für eine ganz andere Gesellschaft

Ziel interventionistischer Politik in diesem Sinne ist weder verengende traditionalistische Nur-Klassenpolitik noch eine partikulare Betroffenheitslogik. Weder kann die Arbeiterklasse alle anderen mit erlösen, noch dürfen nur diejenigen über Gesellschaft reden, die in ihr diskriminiert sind. Unser Verständnis von Klasse ist nicht auf den weißen Fabrikarbeiter verengt. Wirklich neue Klassenpolitik bedeutet für uns, ein breites Klassenverständnis in verbindenden Kämpfen zu praktizieren. Fluchtpunkt ist ein sozialistischer Universalismus, der die reale Diversität von Klasse anerkennt, der eine Absage an Diskriminierung nach vermeintlicher »Rasse«, Nationalität, Geschlecht oder Lebensweise enthält und stattdessen soziale Gleichheit und echte Demokratie fordert.

Wir schlagen die Begriffe Vergesellschaftung und Gemeingüter als konkrete Werkzeuge vor, um die Utopie des Sozialismus auf Alltagsprobleme anzuwenden. Beide Begriffe stehen für nichtkapitalistische Organisation von Lebensbereichen. Erste Beispiele sind Genossenschaften, Commons, öffentliche Stadtwerke, kostenloses Uni-Studium, allgemeine Krankenversicherungspflicht – sowohl im Bereich der Produktion als auch der Reproduktion gibt es Formen von Organisation, die nur begrenzt marktförmig oder gar nicht marktförmig organisiert sind. Eingebunden in ein kapitalistisches System, sind sie dabei noch nicht sozialistisch, können aber dazu dienen, die Idee des Sozialismus greifbarer zu machen. Sie sind eng mit den Lebensinteressen der Subjekte der aktuellen Klassenzusammensetzung verbunden. Eine langfristige strategische Orientierung hierauf in Verbindung mit den Mitteln des »transformative organizing« stellt den besten Ausweg aus der Margninalisierung und Isolation der radikalen Linken dar.

Wir müssen dabei an konkreten Konflikten aufzeigen, dass der Markt versagt hat, dass der Markt Unsicherheit und Privilegien erzeugt, dass demokratische Planung und selbstverwaltete Gemeingüter besser für alle wären. Die Entlarvung des vermeintlich leistungsorientierten und »reinen« Marktes als Schauplatz von ungleichen, ererbten Eigentumsprivilegien baut die Brücke zum Kampf gegen andere Diskriminierungen. Vermeintlich nicht »erfolgreiche« Marktteilnehmer*innen sind oft diskriminiert: rassistische Ausschlüsse am Wohnungsmarkt oder der Gender-Pay-Gap sind Beispiele. Der Kampf gegen das Eigentumsprivileg am Markt lässt sich so verbinden mit Kämpfen gegen Rassismus und Patriarchat.

Intervenieren heißt: Interessenpolitik statt Nische

Grundsatz dieses Papiers ist, dass IL-Politik für Menschen außerhalb einer linken Szene verständlich und greifbar sein muss. Das sehen wir als Gründungskonsens der IL: Intervenieren in die Gesellschaft mit einem Programm, das Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus überwindet.

Wir müssen uns deutlicher von Aktionsformen abgrenzen, die nur innerhalb einer Szene mobilisieren oder in Bündnisform die Überzeugten ansprechen. Wir müssen abstrakte Rhetorik vermeiden, die schön klingt, aber im Alltag nichts bedeutet. Unsere Politik muss stattdessen als verbindende Interessenpolitik lesbar sein: Mit IL-Aktionen werden Kämpfe geführt, die die eigenen Lebensumstände konkret betreffen und verbessern. Unsere Politik muss anschlussfähig an die progressiven Elemente des Alltagsverstandes sein, nur so können Mehrheiten gewonnen werden.

Wir führen gewinnbare Kämpfe, um langfristig linke Gegenmacht aufzubauen. Aufbauend darauf sammeln wir in Aktionen des Zivilen Ungehorsams Erfahrungen der Selbstermächtigung. Dabei geht es nicht darum, den Fehdehandschuh der Bullen aufzunehmen und selbst immer weiter an der Eskalationsschraube zu drehen. Ziviler Ungehorsam ist nicht gepolsterter Straßenkampf, ziviler Ungehorsam wird politisch gewonnen. Aus der Illegalität heraus werden wir langfristig nicht gewinnen können, das wusste schon Rosa Luxemburg.

Mit einer Bullen-Konfrontation an sich oder mit dem Ausruf der Rebellion gegen die Herrschenden werden wir wenig gewinnen. Die Wenigsten erkennen in so einer Auseinandersetzung ihre eigene Unterdrückung wieder und ergreifen Partei für uns. Nicht einfach weil sie kleinbürgerlich sind, sondern auch, weil ihre Unterdrückungsverhältnisse offensichtlich nicht durch ein unbestimmtes Scharmützel »gegen die Herrschenden« auf der Straße angegriffen werden, weil im Unklaren bleibt, was dabei zu gewinnen ist.

Langfristige Arbeit ermöglicht ein produktives Zusammenspiel von Basisarbeit und Kampagnen. Revolutionäre Realpolitik als Strategie gibt uns die Chance, dauerhaft zu wachsen und durch kontinuierliche Erfolge gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Die Orientierung an existenziellen sozialen Themen ist erfolgsversprechender, als sich an den Offensiven des Gegners abzuarbeiten.

Ein falscher Widerspruch

Die IL kann somit nie nur eine Linke der Situation sein. Sie muss in verschiedenen Themenfeldern konkret und langfristig präsent sein, anstatt von Kampagne zu Kampagne zu hüpfen – in spontanen, unvorhergesehen Situation richtig zu handeln, wird uns nur aufgrund dieser Präsenz im Themenfeld gelingen. Der Widerspruch in der IL besteht nicht zwischen Basis- oder Eventpolitik. Beides ist nützlich und darf nicht identitär gegeneinander gestellt werden. Entscheidend ist der Zeithorizont: Machen wir langfristig orientierte Kampagnen, sind wir auch an der Basis von Bewegungen glaubwürdig. Machen wir regelmäßige Basisarbeit, können wir daraus auch überregionale Kampagnen entwickeln. Erst kontinuierliche inhaltliche und organisatorische Präsenz erlaubt es der IL, die Eigenlogik der Bewegungen und die Arbeit anderer Akteure anzuerkennen und hier im Sinne interventionistischer Bündnisarbeit verbindlich zu arbeiten. Die IL muss in den von ihr angegangenen Feldern einerseits politisch-ideologische Arbeit machen, andererseits Kampagnen für (oder gegen) bestimmte realpolitische Ziele organisieren.

Autor*inneninfo: Die Autor*innen des Beitrags sind in Ortsgruppen der iL in Aschaffenburg, Berlin, Hamburg und Leipzig aktiv.

Bild: Rosa Luxemburg by AshtonPal on Flickr, www.walloffemmes.org