Kairós-Zeit - Eine Denkfigur für emanzipatorische Interventionen

Alexander Neupert-Doppler verweist in seinem Debattenbeitrag auf Momente des Kairós, die in jeder Transformationsstrategie mitbedacht werden müssen.

Eingeladen, einen Beitrag zum Kairósbegriff für die Transformationsdebatte zu schreiben, fiel mir an den bisherigen Beiträgen auf, dass zumindest implizit immer wieder geschichtstheoretische Annahmen mitschwingen. Dazu einen expliziten Vorschlag zu skizzieren, dient dieser Beitrag. Beim Autor*innenkollektiv hieß es, »auf den revolutionären Moment (…) können wir ewig warten«. Alex plädiert dafür laufende Kämpfe zuzuspitzen, was auf entscheidende Momente abzielt. Simon Sutterlütti versucht sowohl eine chronologische Ausdehnung von Commons als auch den »Moment des Bruchs« mitzudenken, die IL Tübingen stimmt dem zu. Julia forderte »Aufmerksamkeit für solche Momente«, in denen Zuspitzung und Bruch möglich wären. Felix verwies darauf, die Transformation könne »mit linearen Revolutionskonzepten kontrastiert werden«. Julian Genten und Michalina Golinczak befürchten, Transformation vertrete in etwa die Ideologie, die Karl Kautsky (1854-1938), Theoriepapst der Sozialdemokratie, als ›Hineinwachsen in den Sozialismus‹ vertrat.

Zur Intervention, welche die IL im Namen trägt, gehört schon begrifflich der Eingriff in eine Situation oder in verschiedene Situationen. Welche Rolle dabei Organisationen und Institutionen (z.B. Gewerkschaften, Parteien, Betriebe, Schulen, Hochschulen, Staat) spielen können, wurde öfters angeschnitten, aber noch nicht auf eine Zeittheorie des Wandels bezogen. Eine solche ist für die (radikale) Linke heute bitter notwendig. Zunehmende Klarheit besteht darüber, dass zwischen der Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen, die nicht-mehr sein sollen, und der Utopie möglicher Befreiung, die noch-nicht ist, eine Lücke klafft. Es gab und gibt in der Linken unterschiedliche Strategien damit umzugehen.

Dabei von einer Kritik der Sozialdemokratie auszugehen, kann eigentlich nie falsch sein. Der erwähnte Kautsky vertrat schon im 19. Jahrhundert die These, dass

»die Geschichte der Menschheit nicht durch die Ideen der Menschen, sondern durch die ökonomische Entwicklung bestimmt wird, welche unwiderstehlich fortschreitet, nach bestimmten Gesetzen« (Kautsky 1892).

Gemäß dieser gesetzesartigen Entwicklung müsste der Kapitalismus, durch Krisen und Kämpfe hindurch, notwendig in den Sozialismus übergehen. Was in der Theorie falsch ist, wird in der Praxis nicht richtiger. Als der Rätekongress nach der Novemberrevolution 1918 Kautsky zum Vorsitzenden einer Kommission zur Einführung des Sozialismus machte, kam dabei folgende Empfehlung heraus: »Betriebe blieben zunächst noch Privatbetriebe […]. Nach und nach wären sie zu sozialisieren […]. Die Besitzer sollen entschädigt werden“« (Kautsky 1919).

Nun könnte man schlicht annehmen, dass Kautsky eben keine Revolution machen wollte. Aber reicht es zu ihrer Verhinderung wirklich aus, von einigen führenden Sozialdemokraten, im Bündnis mit Militärs, verraten zu werden? Immerhin vertrauten die Arbeiter*innenräte im Dezember 1918 der SPD so sehr, dass sie sich mehrheitlich selbst auflösten. Und das hat eben auch etwas mit einer Auffassung von historischer Zeit zu tun.

Der geschichtliche Verlauf wurde als eine lineare chronologische Entwicklung gedacht, wofür Kautsky sowohl Kronzeuge als auch Hauptangeklagter ist. Ihm zufolge ist der Systemwechsel eine schlichte Notwendigkeit, die abgewartet werden kann. Gewisse Anklänge davon finden sich auch in wissenschaftlichen und politischen Debatten zur Transformation. Von der Machbarkeit der Revolution durch eine entschlossene Avantgarde, die Situationen zuspitzt, war hingegen Lenin (1870-1924) überzeugt, der seine Politik dann doch immer wieder an die objektive Situation Russlands anpassen musste. Beide Ansichten sind Pole eines Dilemmas. Dieses Dilemma lösen zu helfen ist der Einsatz der Kairóstheorie.

1. Anfänge einer sozialistischen Kairologie

Der religiöse Sozialist Paul Tillich schlug in den 1920er Jahren eine geschichtsphilosophische Lösung vor, an die spätere Theorien, von Theodor W. Adorno bis Immanuel Wallerstein, von Walter Benjamin bis Antonio Negri anknüpfen konnten. Ausführlich werde ich darauf in einem kommenden Buch zu sprechen kommen, es lassen sich aber schon einige Punkte skizzieren, die für die Debatte um Intervention und Transformation nützlich sein könnten.

Wie jede Theorie ist auch die Tillichs ein Ausdruck für Erfahrungen seiner Zeit. Diese gilt es zu verstehen, um seine Überlegungen auf aktuelle Probleme hin anwenden zu können. Gegen die liberal-sozialdemokratische Linke schrieb er 1933:

»Ihre Ideologie gipfelt in dem Wissenschaftsglauben an die Notwendigkeit einer Einwicklung, die zur sozialistischen Gesellschaft führt. Der sozialistische Kampf ist danach eine berechenbare Folge dieses berechenbaren Prozesses«.

Dem entgegengesetzt argumentierte die anarchistisch-bolschewistische Linke,

»die die russische Revolution erlebt hat und die ungeheuren Willenskräfte sah, die in ihr lebendig wurden und gegen jede Berechnung in dem wirtschaftlich zurückgebliebensten Lande siegreich waren. […] Sie ist dadurch auf den Weg eines voluntaristischen, ethischen Sozialismus geführt worden«.

Im einen Fall ist Revolution eine chronologisch erwartbare objektive Notwendigkeit, auf die ewig gewartet werden kann. Im anderen Fall ist die Revolution immer möglich, wenn sie nur subjektiv gewollt wird. So endet die SPD Anfang der 1920er im Attentismus (Abwarten), die KPD im Putschismus (Losschlagen).Tillich hält 1924 dagegen: »Aus dieser Not der sozialistischen Geschichtsphilosophie ist der Gedanke des Kairós geboren« .

Was ist ein Kairós und wieso mischt sich da ein Theologe in sozialistische Debatten ein? Kairós ist zunächst der Name des griechischen Gottes der guten Gelegenheiten, der sprichwörtlich an seinem vorderen Schopf gepackt werden muss, bevor er vorbeifliegt. Diese (homoerotische) Vorstellung von Zeit verwendet das spätere Juden- und Christentum als Wort für die Zeit der Welterlösung. Worauf Tillich seit 1922 hinaus möchte, ist aber nicht nur von philosophischem Interesse, sondern höchst politisch:

»Es war ein feines Gefühl, das den Geist der griechischen Sprache hieß, den Chronos, die formale Zeit, mit einem anderen Wort zu bezeichnen als den Kairós, die ›rechte Zeit‹, den inhalts- und bedeutungsvollen Zeitmoment. (…) Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert«.

Während Sozialdemokratie und Anarchismus darüber stritten, ob der Sozialismus im Laufe einer chronologischen Entwicklung irgendwann kommen wird oder jederzeit erreichbar ist, kombinierte Tillich in seinem Denkbild zwei Aspekte. Die Gelegenheit zur Revolution, der Kairós, hängt durchaus von objektiven Bedingungen ab, die Chance aber ergreifen Subjekte. Während im Kommunismus des 20. Jahrhunderts mal die These der strikten Chronologie und mal die These der reinen Spontaneität überwog, entstand nebenbei die Lehre der Kairologie.

Trotz intensiver publizistischer Bemühungen konnte Tillich als Philosophieprofessor die Aktiven der damaligen Bewegungen kaum erreichen. Er floh 1933 vor den Nazis in die USA: »Europa hat seine Sternstunde verpaßt, seinen ›Kairos‹ (…) und es versucht vergeblich den zerstörerischen Folgen seines Scheitern zu entrinnen«. Höchstens andere Intellektuelle, wie Tillichs Assistent Adorno, Benjamin und Tillichs Freund Ernst Bloch nahmen den Gedanken auf und gaben ihn weiter. Um 1968 sind es Vertreter*innen einer jüngeren Generation wie Wallerstein, Negri und Rudi Dutschke, die darauf zurückgreifen. Was können wir heute damit anfangen?

2. Die Krise als Kairós der Konstitution

Soll ein Kairós, wie der Kairós von Berlin im November 1918 oder der Kairós von Paris im Mai 1968, nicht verpasst werden, erfordert dies Vorbereitung. Für das Autor*innenkollektiv ist Revolution »ein Prozess, der bereits jetzt vorbereitet werden muss«. Vorbereitung auf einen Prozess wiederum bedeutet, sich auf Einstiege, Umstiege und Ereignisse vorzubereiten. Vorbereitung, etwa in Form von besserer Verankerung im Alltag, ist kein ewiges Abwarten. Dem hätte Tillich zugestimmt: »Ein Tun, dessen innerster Kern Erwartung ist, ist zunächst der Akt des Sich-Bereithaltens«.

So ein Aktives Erwarten, wie ich es zu nennen beliebe, hat zwei Seiten: Einerseits kommt eine Transformation nicht von selbst, sondern erfordert Aktivität. Dazu gehören etwa Sutterlüttis Commoning oder die Keimformen der IL Tübingen. Ein kairologisches Denken in Gelegenheiten schützt uns wohl auch vor einem 24/7-Aktivismus. Andererseits muss darauf geachtet werden, dass nicht ein Begriff wie ‚Ausdehnung‘ der Commons‘ (Simon) zu einer Vorstellung führt, die »stark linear und ohne qualitative Sprünge denkt« (Julia), wie auch Julian und Michalina befürchten. Julias Sprünge und Simons Brüche, die er einräumt, gehören zur objektiven Seite eines Kairós, Alex Zuspitzung von Kämpfen wäre, wenn sie zur richtigen Zeit erfolgt, subjektive Politik in einem Kairós. Zwischen Kritik der Widrigkeiten und Utopie der Möglichkeiten tritt kairologisches Denken in Gelegenheiten.

Wallerstein hat dafür 2001 besonders auf die Bedeutung von Krisen hingewiesen:

»Kairós is the TimeSpace of human choice. It is the rare moment when free will is possible. (…) Human beings therefore, faced with Kairós, faced with what I shall term transformational TimeSpace, cannot avoid moral choice«.

Aber wann ist Kairós?

»It is when (…) a system is in crisis, and must therefore be in transition to something else. This is the right time to which the concept of Kairós refers«.

In Krisenzeiten steigt nicht nur das Interesse an sozialen und praktischen Alternativen, wie wir in Griechenland sehen und wie die IL Tübingen sie vorschlägt, es sind auch Zeiten, in denen erst die Zuspitzung zur Entscheidung geboten ist.

Die Krise aber kommt so plötzlich wie der Kairós. Negri und Michael Hardt ergänzen daher 2013:

»Um Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen ist kein dialektischer Prozess nötig, sondern ein Ereignis, ein subjektiver Kairós, der richtige Moment, um die Unterdrückungsbeziehungen abzuschütteln«,

wie sie am Beispiel des Arabischen Frühlings erklären. Die Aufgabe des Aufbaus, der revolutionären Politik der Vorbereitung sei paradox: »Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereiten, dessen Datum ungewiss ist«. Das Datum ist freilich kein Tag, aber ein relativ knapper Zeitabschnitt (z.B. November 1918, Mai 1968), in dem eine Revolte zur Revolution werden und eine vorausgehende Transformation bestätigen kann. Ist Kairós bei Wallerstein eine Frage von Krise und Entscheidung, so wird er bei Hardt und Negri zur Vorbereitung auf die Konstitution einer neuen Ordnung. Die Multitude

»muss nicht nur ihren Widerstand als Exodus anlegen, sondern diesen auch in eine Form konstituierender Macht umwandeln, um die sozialen Beziehungen und Institutionen einer neuen Gesellschaft zu schaffen«.

Konstitution ist demnach nicht immer möglich, anders als die Konstruktion von Alternativen, sondern meint Institutionalisierung der Alternativen im Kairós. So hätten z.B. die bürgerlichen Revolutionäre in Frankreich ihren Kairós 1789 gehabt, als sie sich gegen die alten Institutionen der Monarchie als Parlament konstituierten.

Transformation beginnt demnach, als Vorbereitung auf einen Kairós, durch Interventionen, revolutionäre Realpolitik und durch den Aufbau von Alternativen. Sie wird abgeschlossen, wenn neue Lebensformen in einem Kairós der Krise durch so eine Konstitution revolutionär bestätigt werden. Das ist die Revolution, die weder nur als linearer Prozess noch allein als ein plötzlicher Bruch zu denken ist. Da haben Tillich, Wallerstein und Negri wohl Recht! Oder?

3. Kairologie der Intervention

Für Tillich gab es nicht nur einen Kairós der Revolution - den er mit dem Zeitraum von 1918 bis 1933 für länger hält als ich, da ich eher an einen Kairós 1918 oder 1968 denke, aber immerhin kürzer als Wallerstein, für den seit 1979 der Kairós zum Postkapitalismus ist -, sondern auch kleinere Kairósmomente, Kairoi, Gelegenheiten. Als Theoretiker mit Bewegungs- und Organisationshintergrund ist es nun verführerisch, auch etwas zur praktischen Seite der Sache zu sagen.

In aller Bescheidenheit sei dabei vorausgeschickt, dass Praxis nie die Ausführung einer Theorie ist. Umgekehrt ist es die Aufgabe von Theorie, Erfahrungen aus Praxis in Begriffe zu übersetzen, z.B. als Kairós. Oder auch: Intervention. Fragen, die ich immer wieder gerne mit IListas diskutiere: Wer interveniert wann in was? In der Debatte gab es dazu bisher die Unterscheidung von betroffenen und bewussten Menschen, die ich so für nicht haltbar ansehe. Aus reinem Eigeninteresse ist es selten geboten, z.B. eine Kollegin, die Druckerpapier mitgehen lässt, gegenüber Chefs zu decken. Das Gegenteil könnte meiner Beförderung dienlicher sein. Erst bewusste Einsicht in gemeinsame Zukunftsinteressen, die ich meistens Utopie nenne, begründet die Solidarität. Sicherlich gibt es Grade von Betroffenheit und Bewusstheit, aber bewusstloses Interesse ist Unfug. Aber wir wollen uns ja kein revolutionäres Subjekt casten, sondern selbst eines sein.

Worin also intervenieren? Das hakelige am Interventionsbegriff ist das Eingreifen von Außen. Gegenüber gesellschaftlichen Institutionen also, wie Alex sagt, als eine »antagonistische Kraft, die sie von außen herausfordert«. Wo ist dieses Außen? Sich nicht innerhalb des Lebensumfeldes, in Schulen, Universitäten, Betrieben und Stadtteilen zu organisieren, dürfte bei der Vorbereitung auf einen Kairós hinderlich sein.

Bei der Organisierung im Alltag, wie sie das Autor*innenkollektiv, Simon Sutterlütti und die IL Tübingen fordern, begegnen uns aber an allen Ecken und Enden Institutionen zweiter Ordnung, z.B. Ämter, ASten, Gewerkschaften, Stadtteilbüros von Parteien usw. usf. Mimi & Co begreifen solche Institutionen als »Herrschafts-Terrain (…), von dem wir uns fern zu halten haben« und nennen die »Genossenschaftsbewegung« oder »Gewerkschaften«.

Was aber bleibt dann? Intervention in soziale Bewegungen dürfte die häufigste und erfolgreichste Antwort innerhalb der IL sein, wobei im Sinne einer neuen Klassenpolitik auch zu bedenken ist, wie stark diese Bewegungen das Terrain für Angehörige einer ressourcenstarken Mittelschicht sind. Viele prekär lebende Menschen, zum Beispiel Alleinerziehende, könnten die Zusammenarbeit mit Wohnungsbaugenossenschaften und Gemeinderäten sinnvoller finden als Hausbesetzungen.

Die Frage nach Feldern der Intervention ist durch die Beschränkung auf außerparlamentarische Bewegungen und autonome Jugendzentren nicht gelöst. Julia verweist hier auch auf eine »partielle kollektive Übernahme« von Institutionen, was sicher ein Risiko von Integration mit sich bringt, wogegen wiederum über subversive Interventionen nachzudenken wäre.

Die Frage ›Wann intervenieren?‹ ist sicher oftmals eine der kurzfristigen Taktik, doch sollte sie mit einer Strategie verbunden sein, die darauf ausgerichtet ist, zumindest kleine Kairósmomente herbeizurufen, um Erfahrungen zu machen. Julias »Synchronisation der unterschiedlichen Kämpfe« passt dabei zum theoretischen Hinweis von Hardt und Negri auf »Ereignisse, in denen sich parallel Strömungen überschneiden“ und einen Kairós erschaffen.

Letztlich möchte ich diesen Beitrag zum Fazit hin mit Tillichs Hinweis von 1924 schließen: »Nicht jedes ist zu jeder Zeit möglich, nicht jedes zu jeder Zeit wahr, nicht jedes in jedem Moment gefordert«! Die Fähigkeit Zeiten unterscheiden zu können, heißt Kairósbewusstsein, die Angst vor Entscheidungen heißt in der Psychologie: Kairophobie - Angst vor dem Kairós.

Der Autor Alexander Neupert-Doppler lebt in Hannover und arbeitet in Potsdam. Er publiziert zur Kritik des »Staatsfetischismus« (2013), zu »Utopie« (2015, 2018) und demnächst auch zum »Kairos« (2020). Kontakt: aneupert@uos.de / http://neupert.blogsport.de/

Das Bild zeigt ein Relief mit dem Abbild des Kairós.