Kommt Zeit, kommt Rat - Kommen Zeiten, kommen Räte?


Vergesellschaftung, Rätedemokratie und Klimagerechtigkeit

Rätekommunistische Ideen haben eine lange Tradition. Die Klima-AG der IL Hannover greift hier den auf dem Debattenblog erschienenen Text »Rätedemokratie!« auf und betrachtet rätedemokratische Modelle unter den heutigen Bedingungen der Klimakrise und globaler Zusammenhänge.

Spätestens mit dem Erfolg von Deutsche Wohnen enteignen wird Vergesellschaftung zum vieldiskutierten Thema. Was bei der Aneignung von Wohnraum aber leicht nachzuvollziehen ist, bedarf genauerer Begründungen, wenn es um Klimagerechtigkeit und z.B. die Vergesellschaftung von Energiekonzernen, Autofabriken und dergleichen geht. Erste Gedankenspiele zu Vergesellschaftung im Energiesektor wurden auch schon hier auf dem Debattenblog diskutiert. Unsere Ausgangsfrage ist daher: Wie lassen sich Klimagerechtigkeit und Vergesellschaftung zusammendenken? Soll es nicht nur um Verstaatlichung gehen, brauchen wir konkrete Utopie, die Demokratisierung als Option denkbar machen.

Was würde es bedeuten, Energiekonzerne oder Autohersteller zu vergesellschaften? Wie wären dann Entscheidungen über diese Produktionsmittel zu treffen? Auf die klassische Antwort des Rätekommunismus – Selbstverwaltung durch die Produzent*innen – wollen wir zuerst eingehen (1.), um anschließend Alternativmodelle aus der Strömung des Ökosozialismus zu skizzieren (2.). Zum Schluss fragen wir, was die Perspektive der Vergesellschaftung für uns und die Bewegung zur Klimagerechtigkeit bedeuten kann (3.)

1. Rätekommunismus

Im März 2021 schrieb Levin hier auf dem Debattenblog im Beitrag »Rätedemokratie!«: »Der Kommunismus […] hebt die Trennung zwischen Politik und Ökonomie sowie zwischen Unten und Oben auf, indem er in sämtlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten eine Rätedemokratie, eine demokratische Selbstverwaltung der gesamten Bevölkerung errichtet«. Ist das schon konkrete Utopie? Levin selbst gesteht zu, dass die Fragestellung gut ist, aber weitere Fragen aufwirft: »Wir müssen lernen, wie Räte genau aussehen können, wie wir sie bilden und wie wir die Bevölkerung in diesen ins Projekt einer demokratischen Selbstverwaltung einbinden können.« In Levins Beitrag werden historische Erfahrungen – von der Pariser Commune 1871 über die Rätebewegungen im frühen 20. Jahrhundert bis zu Rojava – genannt. Diese Versuche sollten aber auch weiterentwickelt werden.

Im historischen Rätekommunismus waren industrielle Großbetriebe die Basis des Rätemodells. Dies war ihre Stärke in bestimmten historischen Situation, zeigt aber auch Beschränkungen dieses Ansatzes auf. Der Rätekommunist Otto Rühle (1874-1943), der in den 1920ern der rätekommunistischen Allgemeinen Arbeiter-Union angehörte, schrieb 1940 im mexikanischen Exil: »Die Räteidee realisiert sich in der Räteorganisation. Diese entsteht unmittelbar in den Betrieben. […] Alle im Betrieb vereinigten Werktätigen gehören ihr an. […] Sie verkörpert auch die Keimzelle der künftigen Wirtschaftsorganisation« (Rühle 1940/1971: 170). Die Grundidee ist einfach: Wer sollte besser als die Arbeitenden selbst wissen, was ihre Bedürfnisse sind? Es ergeben sich drei Fragen. Was ist mit Menschen, die nicht in der Industrie tätig sind, wie Beschäftigte im Einzelhandel, Tätige im Care-Bereich, Schüler*innen und Lehrer*innen, oder Menschen im Altersheim? In der Geschichte des Rätekommunismus wurde zumeist die Antwort gegeben, dass Betriebs-Räte ja nicht die einzigen Räte bleiben müssten. Schulräte könnten ihre Schulen verwalten, Nachbarschaftsräte oder Mieter*innenräte den Bereich des Wohnens und der Sorgearbeit, Bewohner*innenräte ihre Heime. Auch dafür gibt es Beispiele, wo ebenso wie Arbeiter*innenräte andere Räte aus Konflikten entstanden. So vertraten in den 1920er Jahren »die oft kommunistisch orientierten Mieterräte die Idee einer kämpferischen Basisorganisation« (Holsten/Zollhauser 2018: 29). Die Grundidee bleibt die selbe: Wer wüsste besser als die Bewohner*innen, was in einer Nachbarschaft beschlossen werden sollte? Zugleich stehen wir damit vor weiteren klassischen Fragen der Räte-Diskussion. Müssten dann alle Menschen dort mitwirken, wo sie schon im Kapitalismus tätig waren? Wie soll die Trennung von Reproduktion und Produktion aufgehoben werden, wenn »Hausfrauenräte« für das Häusliche und »Arbeiterräte« für die Arbeit in den Betrieben zuständig bleiben? Die dritte und letzte Frage an die Idee des Rätekommunismus betrifft ihren Lokalismus: Wie sollen sich Räte vor Ort mit Räten an anderen Orten koordinieren?

Diese Frage der Koordinierung war es, die innerhalb des Ökosozialismus seit den 1970er Jahren zu interessanten Positionen führte. Wichtig ist hier u.a. der libertäre Sozialist Murray Bookchin (1921-2006). Im Rückblick auf die Spanische Revolution von 1936, in der Räte und Selbstverwaltung eine große Rolle spielten, bringt er eine sozialistische Kritik an: »In der spanischen Revolution von 1936-1937 traten in der neuen Gesellschaft viele Kollektive […] in offene Konkurrenz gegeneinander« (Bookchin 2002: 209). Zwar wurden die Betriebe durch Räte verwaltet, das über den Markt vermittelte Konkurrenzverhältnis zwischen den Betrieben wurde aber nicht überwunden. So gab es während der Spanischen Revolution Demonstrationen der Beschäftigten der kollektivierten Hutfabriken, für das Tragen von Hüten, um ihre Arbeit zu sichern. Würden heute die VW-Arbeiter*innen nach der Enteignung dann für den Autokauf demonstrieren? Die Bindung der Räte an ihre Basis in den Betrieben und damit ein gewisser Betriebsegoismus ist ein Hindernis für die Revolution selbst. Das gilt es zu verhindern, denn als Klima-AG interessiert uns neben dem sozialistischen auch ein ökologisches Argument. Wie können wir sicher sein, dass z.B. die Arbeiter*innen in einem niedersächsischen VW-Werk, wenn es denn vergesellschaftet und selbstverwaltet wäre, die Herstellung von Benzinmotoren einstellen?

2. Ökosozialismus

Die ökosozialistische Perspektive, die seit den 1970ern weltweit diskutiert wird, kann auf dem basisdemokratischen Konzept des Rätekommunismus aufbauen, muss aber deren Basis erweitern. Bookchins Idee war es, dass Räte nicht betrieblich, sondern kommunal organisiert sein müssten, so »daß sich die Bewohner eines Dorfs, eines Kreises, einer Stadt oder eines Landes – wenn man ihnen die nötige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe ermöglicht – als sorgsam-schonende ›Hüter‹ der sie umgebenden Natur zu fühlen beginnen« (Jost Hermand 1991: 194). Was aber ist, wenn der Betriebsegoismus somit nur durch einen Kommunalegoismus ersetzt würde? Würden die Menschen in den derzeitigen Kohleabbauregionen gegen Kohlestrom votieren, selbst wenn ihre Existenz in einer post-kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr von diesem Lohnerwerb abhinge? Sicherlich können manche ökologische Schäden tatsächlich am besten vor Ort erkannt werden und viele Bürger*inneninitiativen im Umweltbereich gehen gerade von solchen Erfahrungen aus. Andere Probleme, und dazu gehört die Klimaerhitzung, sind einerseits global und andererseits lokal spezifisch: Die schwerwiegendsten Schäden entstehen nicht in den heutigen Industrieländern, welche die Probleme verursachen.

Die Koordination zwischen niedersächsischen Autobauern und malaysischen Reisbauern kann nicht dadurch gelingen, dass die einen ihre Autofabrik und die anderen ihre Reisfelder selbst verwalten. Daher wird eine Mehrfachvernetzung horizontal zwischen den Regionen (oder Stadteilen) bzw. ihren Betrieben und Kollektiven notwendig sein. Auch vertikal, also überregional, muss diese Vernetzung stattfinden. Es braucht daher, sowohl transnational als auch jeweils vor Ort, eine erweiterte Rätekonzeption. Der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban von der IG Metall schrieb dazu vor wenigen Jahren, dass Wirtschaftsräte mit Ökologie-Räten ergänzt werden sollten. Urban selbst verbleibt hier im Rahmen eines Markt-Sozialismus, bei dem die Entscheidungen der Unternehmen lediglich der Mitbestimmung durch Belegschaft, Vertreter*innen der Region und durch Ökologie-Räte unterliegen. Nichtsdestotrotz beinhaltet dies einen Ansatzpunkt für ein erweiterte Räte-Modell. Ein Modell, das auch Klaus Dörre für die Transformation von Industriebetrieben noch innerhalb des Kapitalismus vorschlägt, »wobei die Räte […] aber nicht mehr nur mit Vertreter*innen aus Wirtschaft Politik und Gewerkschaften besetzt sein sollen, sondern zivilgesellschaftliche Akteure wie Umweltverbände, ökologische Bewegungen, Fraueninitiative etc. einbeziehen, um ein annähherndes Kräftegleichgewicht zwischen Kapital und demokratischer Zivilgesellschaft überhaupt erst wieder herzustellen.« (Dörre 2021: 241)

Skizziert hat ein Räte-Modell 2020 auch der österreichische Ökosozialist Christian Zeller. Er geht vom Problem aus: »Allerdings gibt es keine Garantie dafür, dass ArbeiterInnenkontrolle gewissermaßen automatisch zu ökologischen Entscheidungen führt« (Zeller 2020: 188). Daher die Erweiterung: »Vertreter*innen sozialer Bewegungen, Gewerkschafter*innen und Fachleute bilden zusammen mit den politisch gewählten Instanzen Kontrollgremien« (ebd.: 157). Ähnlich äußert sich auch Eva von Redecker, sie geht davon aus, dass Räte neben den Werktätigen der Betriebe: »[…] auch andere gesellschaftliche Zugehörigkeiten und ökologische Verankerungen erfassen müssen.« (Redecker 2020: 261).

Konkret folgt daraus aus internationalistischer Perspektive: »Rätestrukturen müssen sich auch international über die politisch abgegrenzten Territorien hinweg und transnational […] organisieren« (Zeller 2020: 182). Und aus feministischer Perspektive: »Eine Rätestruktur, die sich nur auf die Produktion stützt, bleibt höchst einseitig« (ebd.: 189). Auch die Reproduktionsarbeit in Form von Sorge- und Hausarbeit muss entsprechend mitgedacht und gerecht organisiert werden.

Am Beispiel einer Selbstverwaltung im Energiesektor würde dies bedeuten: Bewegungen wie die Klimagerechtigkeitsbewegung, Gewerkschaften, Fachleute aus der Klimawissenschaft, Belegschaften der betroffenen Werke, Genossenschaften der Stromkundinnen und regionale Vertreterinnen wären schon sechs verschiedene Interessengruppen, die ihr Wissen einbringen. Läge die Bestimmungsmacht über wirtschaftliche Prozesse tatsächlich bei Allen, »die von ihren Aktivitäten betroffen sind« (ebd.: 215) ergäbe sich ein zeitgemäßes Rätemodell, welche auch das Erfahrungswissen von Frauen und die Interessen regional ferner Gruppen integrieren müsste.

Selbstverständlich ist auch dieses Modell noch sehr grob und wir versprechen, es kurzfristig nirgendwo einzuführen. Es verdeutlicht aber bereits ganz gut, dass es mit bloßen Arbeiter*innen-Räten der Belegschaft nicht getan ist, wenn z.B. eine Autofabrik oder ein Kohlekraftwerk ökosozialistisch umgebaut werden sollen. Dafür müssten mehr Positionen in dem vertreten sein, was wir hier spaßeshalber mal ökosozialistischen Aufsichtsrat genannt haben.

3. Interventionismus

Was haben die hier skizzierten Debatte aus dem Rätekommunismus der 1920er bis 1940er Jahre und dem Ökosozialismus der 1970er Jahre bis heute mit uns als Interventionist*innen zu tun? Ganz einfach: Sie bieten uns eine Diskussionsgrundlage, um Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Ideen, die dringend gebraucht werden. Schließlich gehen wir davon aus, dass die Gesellschaft und vor allem die Industrie grundlegend umgebaut werden muss. Wie das demokratisch geschen kann, dafür bieten die oben skizzierten Räte einen Ausgangspunkt. Wir haben öfters, zum Beispiel in Diskussionen mit FFF, bemerkt, dass dort das Konzept der Enteignung und Vergesellschaftung schwer zu vermitteln ist. Die Gegenfrage lautet dann: Bei Wohnungen sehen wir es ja ein, aber was soll an vergesellschafteten Autowerken oder Kraftwerken denn besser sein? Hier ist die Antwort noch einfach. Die Räte können den Betrieb umbauen oder so einstellen, dass die Arbeiter*innen keinen sozialen Abstieg fürchten müssen. Dafür ist die echte Beteiligung der Betroffenen – wie sie die Räte ermöglichen – nämlich unerlässlich.

Aber auch für die Frage der Arbeiter*innen aus den Branchen, die nicht in eine ökologische Zukunft passen, bieten Räte Möglichkeiten. In Großbritannien haben Beschäftigte einer Rüstungsfirma ein Konzept entwickelt, wie die Produktion auf sinnvolle Produkte – statt Tötungsmaschinen – umgestellt werden kann. Das ist auch in anderen Bereichen möglich.

Wenn es aber darum geht, Industrien – wie die Braunkohleindustrie – abzuwickeln, dann bedarf es schon einer größeren Idee. Einer Idee, die eine gesellschaftliche Alternative umfasst. Wie diese aussehen kann, ist nach dem Zusammenbruch des Realeistierenden Sozialismus und den Niederlagen und nie konkret gewordenen Utopien anderer antikapitalistischer Experimente und Ideen die alles entscheidende Frage. Wenn wir darauf eine Antwort geben wollen, müssten wir zumindest in Grundrissen in der Lage sein zu sagen, wie wir uns die (Selbst-)Verwaltung von vergesellschafteten Betrieben vorstellen.

Weder die rätekommunistische Antwort der reinen Arbeiter*innenräte noch die ökosozialistische Antwort der kommunalen Räte sind für sich allein befriedigend. Deshalb lohnt es sich über erweiterte Konzepte von Rätemodellen nachzudenken. Entstehen müssen diese in der Praxis.

Soll Theorie dazu taugen, Praxis zu orientieren, darf sie aber auch Probleme aufwerfen. Ein erstes Problem ist die Anpassung an die jeweilige gesamtgesellschaftliche Situation in der Ökonomie. Antonio Negri meint, im Rückblick auf den historischen Rätekommunismus, diese Konzeption sei »mit Blick auf eine Klasse von Facharbeitern entwickelt worden« und ohne die Basis der Großbetriebe sei es »verrückt, die Konzeption heute wieder aufzunehmen“ (Negri 2009: 127). Dem ist entgegenzuhalten, dass es erstens auch heute noch wichtige Großbetriebe gibt und zweitens Räte nicht zwangsläufig nur auf Betriebe beschränkt sein müssen.

Ein zweites Problem ist das Verhältnis zwischen Rätedemokratie und Staatsdemokratie. Für die Strömung des Rätekommunismus war klar, dass sich beide als ausschließende Alternativen entgegenstehen. Dario Azzelini hingegen benennt am Beispiel Venezuela Mischformen. »In Venezuela entstand die lokale Selbstverwaltung ab 2004 von unten durch linke Basisorganisationen […]. Die Räte arbeiten als direktdemokratische Nachbarschaftsversammlungen […]. Diese erhalten jährlich bis zu sechs Milliarden US-Dollar an staatlicher Finanzierung« (Azzelini 2016: 127). Auch Zeller geht mittelfristig von einer Doppelherrschaft zwischen »direktdemokratischen Rätestrukturen sowie […] Institutionen der repräsentativen Demokratie« (ebd.: 183) aus. Und wir sollten auch Jugoslawien nicht vergessen, dessen Strukturen auch rätekommunistische Modelle nutzten.

Drittens ist uns bewusst, dass die Konstitution von Räten nicht dadurch gelingt, dass wir dazu aufrufen. Erst durch Krisensituationen und günstige Kräftekonstellation wird dies wahrscheinlich. Nichtdestotrotz können wir uns Levin anschließen, dass wird darauf vorbereitet sein sollten, wenn sich Räte bilden, hier im Sinne der Revolution intervenieren zu können. Hier greift die Maxime des Rätekommunisten Hermann Gorter von 1918: »Das Proletariat der Welt soll […] vor, während und nach der Revolution Arbeiter-Räte errichten« (Gorter, zit. n. Bock 1993.: 267). Wie gesagt: Nicht nur, aber auch, durch die Belegschaften.

Autor*in: Klima-AG der IL Hannover

Bild: Bild einer Hütedemonstration während der Spanischen Revolution, Quelle privat.