Rätedemokratie!


Die Selbstregierung der Gesellschaft zur Überwindung des Kapitalismus

Die aktuelle Form der Demokratie hilft wenig dabei, wirklich andere Gesellschaftsformen zu denken – geschweige denn, sie aufzubauen. Der folgende Beitrag argumentiert, dass es stattdessen den Aufbau rätedemokratischer Strukturen braucht, um die Partizipation aller zu ermöglichen und dem Langzeitziel einer kommunistischen Gesellschaft näher zu kommen. Was die radikale Linke damit zu tun hat? Lest selbst!.

In der jüngeren Debatte innerhalb der interventionisitschen Linken ist die Organisationsform der eigenen Strukturen bisher erstaunlich wenig beachtet wurden. Dabei sollte klar sein, dass die Organisationsform, die wir als Kommunist*innen wählen, nicht einfach nur eine funktionale Konsequenz unserer strategischen Debatte sein kann, sondern sich im Zentrum dieser befinden muss. Denn die Form unserer Organisierung trägt nicht nur zu unserer eigenen Subjektivität bei, die elementar im Ringen um eine bessere Welt ist, sondern muss auch schon die Keimform von Strukturen vorwegnehmen, die später zur politischen Selbstverwaltung einer kommunistischen Gesellschaft dienen können. Das bedeutet vor allem, dass wir die Demokratiefrage in unseren Organisationen als Teil einer Strategie zur Überwindung des Kapitalismus ernst nehmen müssen. Denn was ist der Kommunismus, wenn nicht eine radikal demokratisch-sozialistische Gesellschaft?

Kommunistische Demokratie

Die kommunistische Demokratie hat jedoch wenig mit der bürgerlichen Demokratie gemein, die schon immer mehr Ideologie als eine wirkliche Herrschaft der breiten Bevölkerung war. Denn eine verkümmerte Demokratie ist die gegenwärtige der kapitalistische Zentren in zweifacher Hinsicht: Zum einen, weil sie das Politische vom Ökonomischen trennt und ihre Demokratie nur in der politischen Sphäre errichtet, während sie die Ökonomie der Diktatur des Kapitals überlässt. Auch wenn diese Trennung in der Realität nie ganz gelingt und der Staat durchaus regulierend ins wirtschaftliche Geschehen eingreift, um das Wohl seines Wirtschaftsstandorts zu sichern, verweigert die bürgerliche Demokratie ihrem Wesen nach sich selbst tiefgreifende Entscheidungsbefugnisse in ökonomischen Fragen – ganz im Interesse der herrschenden Klasse, die so eine diktatorische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und den materiellen Reichtum unserer Welt ausüben kann.

Zum anderen ist die bürgerliche Demokratie nur eine halbierte Demokratie, da sie parlamentarisch ist. Im Endeffekt bleibt sie eine Regierung durch Eliten, die sich die Bevölkerung in regelmäßigen Abständen und in einem engen institutionellen Rahmen aussuchen darf – begleitet von einem finanzstarken, multimedialen Wahlspektakel und ohne ernsthafte von der Bevölkerung ausgehende Kontrollmechanismen. Ob die Regierenden schon vor ihrer Amtszeit ein Teil der Eliten der bürgerlichen Gesellschaft waren oder es erst durch ihre Regierungstätigkeit werden, ist dabei zweitrangig. Fest steht, dass die bürgerliche Demokratie keine kollektive Selbstregierung der Bevölkerung bedeutet, sondern nur die Wahl darüber, wer die Bevölkerung regieren darf – und das ausschließlich innerhalb der ökonomischen Zwänge des globalen Kapitalismus und meistens nur mit der Gunst nationaler Kapitalfraktionen sowie ihrer ideologischen Apparate.

Der Kommunismus hingegen hebt die Trennung zwischen Politik und Ökonomie sowie zwischen Unten und Oben auf, indem er in sämtlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten eine Rätedemokratie, eine demokratische Selbstverwaltung der gesamten Bevölkerung errichtet. Diese kollektive Form der Selbstregierung bringt den Demokratiebegriff erst zu seiner Verwirklichung, indem sie politische und ökonomische Gleichheit nicht als gegensätzlich, sondern sich gegenseitig bedingend begreift. Die kommunistische Demokratie geht so Hand in Hand mit der Auflösung von Klassengesellschaft, weißer Vorherrschaft und Patriarchat, weil sie die materiellen wie institutionellen Grundlagen abschafft, auf denen Menschen von anderen Menschen beherrscht, diskriminiert und marginalisiert werden. Die Wirtschaft als Basis unseres täglichen (Über-)Lebens sowie Quelle von materiellem Wohlstand und Macht wird der im Eigentumsrecht fundierten Diktatur einer kleinen privilegierten Klasse entrissen und zum Gegenstand der demokratischen Selbstregierung einer vielfältigen Bevölkerung gemacht. Die angestrebte gesellschaftliche Egalität findet so ihre Basis in einer konsequent egalitären Organisation von Politik und Ökonomie in Form einer Rätedemokratie, die schon strukturell keine Hierarchisierung und Privilegierung von einzelnen Gruppen zulassen darf. Um das zu realisieren, müssen wir uns den Begriff der Demokratie als konkretes Projekt einer demokratischen Selbstverwaltung der Gesellschaft wieder aneignen und zum Ausgangspunkt unserer Politik machen. Doch was bedeutet das für unsere Organisation, Strategie und Praxis?

Den Kapitalismus überwinden

In der BRD mangelt es der radikalen Linken weitestgehend an einem Wissen über demokratische Prozesse als auch an einer radikal demokratischen Organisierungspraxis im größeren Stil. In vielen Gruppen werden lediglich diverse Konsensformen als Demokratie praktiziert, die im schlimmsten Fall informelle Hierarchien verschleiern und dazu führen, dass sich Personen mit dem längsten Atem oder dem vehementesten Beharren auf ihren Ansichten durchsetzen. Im besten Fall handelt es sich um eine Form der Demokratie, die bereits im niedrigen zweistelligen Personenbereich an die Grenzen ihrer Praktikabilität stößt. Es handelt sich also um eine demokratische Praxis, die vielleicht gerade noch für autonome Kleingruppen taugt, aber in keiner Weise für große linke Organisationen, die tatsächlich das Potential zu einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung entwickeln wollen – und sie taugt schon gar nicht als Praxis zur Selbstverwaltung einer ganzen Gesellschaft.

Aber wenn wir ernsthaft das kapitalistische System überwinden wollen, um eine kommunistische Gesellschaft aufzubauen, müssen wir demokratische Strukturen entwickeln, mit denen sich tausende Menschen selbstregieren können. Wir brauchen Strukturen, welche die Grundlage für die Entwicklung einer die ganze Gesellschaft umfassenden radikalen Demokratie sein können. Dazu benötigen wir das Wissen, wie so eine Demokratie aussehen kann und die Fähigkeit dazu, sie in die Praxis umzusetzen. Denn Demokratie fällt nicht vom Himmel und wird nicht von heute auf morgen gelebt. Wenn wir als Kommunist*innen uns nicht das Wissen und Können einer demokratischen Praxis aneignen, die wir in Vorbereitung auf, in und nach einem revolutionären Prozess weitergeben können, wird es die progressive Überwindung der bestehenden Verhältnisse nicht geben. Dazu müssen wir so eine Demokratie bereits in unseren eigenen Strukturen lernen, indem wir die Suche nach einer solchen Organisationsform als elementaren Bestandteil unserer strategischen Debatten begreifen. Der Grundstein für eine zukünftige demokratisch-sozialistische Zivilisation muss so von uns in der bestehenden kapitalistischen gelegt werden.

Rätedemokratie als Organisationsform

Für unsere jetzige Politik bedeutet das, dass wir unsere eigenen Strukturen so gestalten müssen, dass die Prozesse verständlich sind, Legitimität besitzen und zur demokratischen Selbstregierung sehr vieler Menschen dienen können. Dazu können wir uns an rätedemokratischen Konzepten orientieren, wie sie seit jeher Teil der sozialistischen Bewegungen und Revolutionen waren. Konkret heißt das: Wir müssen uns beibringen politische Entscheidungsfindungsverfahren auf Basis von Räten zu institutionalisieren, verbindlich zu gestalten und einen Umgang mit Differenzen zu finden. Wir müssen lernen, wie Räte genau aussehen können, wie wir sie bilden und wie wir die Bevölkerung in diesen ins Projekt einer demokratischen Selbstverwaltung einbinden können. Wir müssen herausfinden, wie wir Räte von Menschen mit Behinderung, Frauen, Schwarzen Menschen, People of Colour und Menschen mit queeren Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten organisieren, um die Vielfalt der Herrschaftsverhältnisse zu durchbrechen. Dazu müssen wir uns auch das Wissen aneignen, in welchem Verhältnis diese partikularen Räte dann zu den gemeinsamen Strukturen stehen können. Und wir müssen uns beibringen, was politische Repräsentation bedeutet, wie wir Genoss*innen delegieren und wie wir selbst Delegierte sein können.

Das Erlernen von imperativen Mandaten, die nicht einfach regieren, sondern einen kollektiven Willen ausführen und die im Zweifel jederzeit absetzbar sind, ist dabei elementar, um zunächst Demokratie in einer großen linken Organisation zu ermöglichen und später die Selbstregierung einer ganzen Gesellschaft zu verwirklichen. Denn ohne Delegierte mit imperativen Mandat kann es keinen kollektiven Willensbildungsprozess und keine gemeinsame Selbstregierung von vielen Menschen geben, da nicht immer alle überall mit allen reden, diskutieren, Kompromisse finden und streiten können. Eine wirklich kollektive Strategie und Taktik wird erst durch den gemeinsamen demokratischen Prozess möglich, der sie hervorbringt. Delegierte können dabei die verbindenden Glieder sein, welche die gleichzeitig und nebeneinander geführten Debatten wieder zusammenbringen und zur Verfolgung einer gemeinsamen Strategie zusammenführen. Delegierte könnten so auch als demokratisch legitimierte Kader verstanden werden.

Räteaufbau als politische Praxis

Rätedemokratie ist aber nicht nur eine Frage der internen Organisation. Sie muss das Zentrum und der Ausgangspunkt unserer strategischen Debatte bezüglich der politischen Praxis in der Gesellschaft sein. Unsere Aufgabe besteht letztendlich darin, die gesellschaftliche Selbstermächtigung zu einer demokratischen Selbstregierung voranzutreiben. Das heißt, wir müssen langfristige Rätestrukturen in der Bevölkerung aufbauen, anstatt nur von Kampagne zu Kampagne zu springen oder eine Aktion, Demo und Kundgebung nach der nächsten abzuhalten. Organizing-Konzepte, wie sie auch in Teilen der IL diskutiert werden, könnten der Ausgangspunkt für Überlegungen sein, wie dieser Räteaufbau praktisch umzusetzen ist. Kampagnen und Aktionen sind auch dabei notwendige Kristallisationspunkte unserer politischen Kämpfen und dürfen als Taktiken des Kampfes auf keinen Fall verworfen werden. Nichtsdestotrotz müssen sie in eine größere Strategie eingebettet sein, die eben heißt, Gegenmacht in Form einer rätedemokratischen Alternative aufzubauen.

Reiner Aktivismus, der nicht zum Ausbau unserer Strukturen und zu neuen Genoss*innen führt, bringt uns langfristig nicht weiter. Ausschließlich den bürgerlichen Diskurs in ihren Medien ein kleines Stück nach Links zu verschieben, ist am Ende nicht mehr als Vorfeldpolitik für eine parlamentarische Sozialdemokratie, welche die Widersprüche der patriarchalen und rassistischen Klassengesellschaft nur abstumpfen will. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen uns und radikaleren NGOs – gefangen in den Aufs und Abs medialer Berichterstattung sowie den langfristigen politischen Trends und ökonomischen Zyklen kapitalistischer Akkumulation. Reformen und Diskursinterventionen dürfen für uns deshalb nie nur Selbstzweck sein, sondern müssen immer dem Ausbau unserer eigenen Organisation und darüber hinaus dem Aufbau gesellschaftlicher Strukturen der demokratischen Selbstverwaltung dienen. Das ermöglicht uns die Verbindung der kleinen Kämpfe für alltägliche Verbesserungen mit der langfristigen Perspektive Kommunismus.

Gemeinsam kämpfen

Wir können dabei viel aus der Geschichte und Gegenwart unserer Bewegung lernen – seien es die Pariser Commune, die rätekommunistischen Versuche zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder die demokratischen Aufbrüchen unserer Zeit in Rojava und Chiapas. Nichts wird sich davon eins zu eins übertragen lassen, aber wir können viel entdecken und für unsere Praxis wieder fruchtbar machen. Große Teile der radikalen Linken in der BRD hingegen bewegen sich schon seit Jahren hauptsächlich irgendwo zwischen subkultureller Wohlfühlbubble und elitärem Zirkel – nachvollziehbare Versuche dem Dreck dieser Zeit zu entkommen, die unsere Bewegung aber leider schon viel zu lange in politische Sackgassen und gesellschaftliche Isolation führen. Der Aufbau rätedemokratischer Strukturen ermöglicht es uns hingegen, diese Entfremdung von der Gesellschaft zu überwinden und mit unserem revolutionären Anspruch ernst zu machen.

Denn letztendlich geht es darum, gemeinsam mit der breiten Bevölkerung zu kämpfen, nicht nur in ihrem Namen oder gar gegen sie. Wir sind selber ein Teil der unterdrückten Klasse in diesem System, weil wir gezwungen sind, unsere Arbeitskraft für ihre Profite zu verkaufen. Das muss in unseren Strukturen wieder deutlich werden! Eine Linke, die sich nur mit 10, 20 oder vielleicht 30 Gleichgesinnten und Freund*innen organisieren kann, ist eigentlich nicht zu einer Demokratie fähig, wie wir sie brauchen, um eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Wenn der Kommunismus aber die wirkliche Bewegung ist, die den jetzigen Zustand aufhebt, dann müssen wir endlich anfangen Kommunist*innen zu sein und an der demokratischen Aufhebung der Diktatur des Kapitals arbeiten. Das heißt: Rätedemokratie im großen Stil lernen, praktizieren, aufbauen!

Autor: Levin war bis vor Kurzem bei der Interventionistischen Linken Frankfurt organisiert.

Bild: Geht ein Gespenst um? Von Amy Y.