Machen wir uns auf die Suche nach einem neuen Wirtschaftssystem

Der Genosse Sam macht auf die kapitalistischen Ökonomie und ihre globale Dimension aufmerksam, die gerade in Zeiten des Neoliberalismus in den Debatten um Transformation mitbedacht werden sollten. Es braucht daher wieder ernsthafte Überlegungen über ein alternatives Wirtschaftssystem.

In der Transformationsdebatte auf unserem Blog wurden viele wichtige Elemente einer kapitalismuskritischen Perspektive auf Transformation benannt. Zentraler Debattenimpuls bildet der Vorschlag einer »neuen revolutionären Realpolitik«, bei der »staatlich-autoritäre oder marktförmig-autoritäre Institutionen in gesellschaftliche Selbstverwaltung überführt« werden. Ein damit verwandter Diskussionsstrang bringt Commons als Keimformen einer solidarischen Lebens- und Produktionsweise ins Spiel. Beide Ansätze verstehen sich dezidiert nicht als reformistisch – »ab einer bestimmten Größe« der Commons bzw. der vergesellschafteten Organisationsformen »sind Auseinandersetzungen und Kämpfe unausweichlich (…) – es ist kein evolutionär-reformistisches Hinüberwachsen, der revolutionäre Moment des Bruchs wird mitgedacht«.

Dieser antikapitalistische Strang der Transformationsdebatte beinhaltet bereits die wichtige Einsicht, dass Kämpfe um ein anderes Gesellschaftssystem im Hier und Jetzt beginnen und durch konkrete Auseinandersetzungen in breiten Bevölkerungsschichten verankert werden müssen, und gleichzeitig Brüche integraler Bestandteil einer radikalen Transformation sind.

Was mir dabei zu kurz kommt, ist ein klarer umrissenes Bild der Systemalternative, auf die wir hinarbeiten. Wenn wir im Dreischritt Alternative formulieren (1), Unterstützung organisieren (2) und Alternative durchsetzen (3) denken, verbleibt die Transformationsdebatte häufig bei den strategischen Fragen (2) und (3). Die Frage, wie ein post-kapitalistisches Gesellschaftssystem aussieht und welche Formen der politischen und ökonomischen Regulation es dann gibt, wird dabei übersprungen.

Ohne Alternative haben wir den Kampf um Hegemonie schon verloren

Der Einwand, dass sich diese Alternative nicht am Reißbrett, sondern nur in konkreten Kämpfen entwerfen lässt, ist schnell bei der Hand. Doch es ist genau umgekehrt: Die konkreten Kämpfe um Vergesellschaftung, Commons, radikale Umverteilungs- und Klimapolitik versanden, weil es keine Vorstellung des neu herzustellenden ökonomischen Gesamtzusammenhangs gibt, in dem diese Alternativen zu Ende gedacht überhaupt funktionieren können. Die Menschen sind nicht blöd: Sie haben in vielfältigen historischen Beispielen gesehen – zuletzt beim Scheitern der SYRIZA-Regierung – dass es schlichtweg keinen Plan dafür gibt, wie alternative Formen der ökonomischen Regulation tatsächlich durchgesetzt und international stabilisiert werden können.

Es braucht eine strategische Neubestimmung innerhalb der gesellschaftlichen Linken, bei der wir der Frage »Was wollen wir?« genauso viel Bedeutung beimessen wie der in der Debatte um »neue Klassenpolitik« diskutierten Frage »Wie und mit wem wollen wir es erreichen?«. Im zähen Scheitern der Sozialdemokratie und des real-existierenden Sozialismus hat sich die Linke so grundlegend abgewöhnt, ernsthaft über eine Vision für ein alternatives Wirtschaftssystem nachzudenken, dass uns deren Fehlen heute kaum mehr auffällt. Doch ohne diese Vision haben wir den Kampf um Hegemonie schon verloren – wie erfolgreich unser stadt- oder klimapolitisches Campaigning und Organizing auch immer sein werden.

Es fehlt einerseits eine greifbare langfristige Perspektive: Wie lässt sich ein post-kapitalistisches Gesellschaftssystem, z.B. bis zum Jahr 2050, erreichen, und welche Formen der politischen und ökonomischen Regulation gibt es dann? Andererseits fehlt auch die kurzfristige Perspektive, die zum einen an die jetzigen Kämpfe anknüpft, und zum anderen nicht in Themenfeldern denkt (Stadt, Klima, Rechtsruck, etc.). Wie verorten wir uns im Hier und Jetzt – sprich: in der gegenwärtigen organischen Krise des neoliberalen und fossilistischen Kapitalismus? Und wie können wir einen politischen Umbruch hin zu einer radikalen Transformation, z.B. bis zum Jahr 2025, herbeiführen?

Die langfristige Perspektive: Kann ein neues System von unten aufgebaut werden?

Kehren wir zurück zur »neuen revolutionären Realpolitik« und der Commons-Perspektive. In beiden Ansätzen wurde klar gemacht, dass wir nicht von einem graduellen »hinüberwachsen« in ein vergesellschaftetes Wirtschaftssystem ausgehen können, sondern dass ab einem bestimmten Punkt sich die Systemfrage in zugespitzter Form stellen wird. Damit bleibt die Frage, in welches neue politische und ökonomische System die graduell oder rutschartig dem Markt entzogenen Sphären integriert werden sollen und welcher neue ökonomischen Gesamtzusammenhang im Moment der Zuspitzung hergestellt wird.

Bleibt diese Frage unbeantwortet, überwiegt in der »revolutionären Realpolitik« und der Commons-Perspektive die subtile Vorstellung eines schrittweisen Aufbaus einer anderen Wirtschaftsweise von unten. Doch der Kapitalismus ist kein statisches Puzzle, aus dem wir sukzessive Teile herauslösen und durch etwas Neues ersetzen können.

Das liegt daran, dass der gesamtwirtschaftliche Zusammenhang, der die verschiedenen Elemente des Kapitalismus miteinander verbindet, über Märkte hergestellt wird. Wie Karl Polanyi gezeigt hat, hat es ein knappes Jahrhundert gedauert, bis sich miteinander vernetzte kapitalistische Märkte als wirtschaftlicher Gesamtzusammenhang herausbilden konnten und durch staatliche Regulation stabilisieren ließen (Diese und folgende Ausführungen nehmen stark Bezug auf das Nachwort von Michael Brie in Erik Olin Wrights Buch »Reale Utopien«, 2016 in Frankfurt/Main erschienen). Damit sind nicht nur Güter- und Arbeitsmärkte gemeint, sondern auch Märkte für Produktionsmittel, Geld, Devisen, Kredit, die den kapitalistischen Motor in Gang setzen: Durch Kredite »aus dem Nichts« werden in Produktionsprozessen Arbeits- und Kapitaleinkommen erzeugt, die auf gesamtwirtschaftlicher Ebene den Aufkauf der erzeugten Produkte und die Bedienung der Kredite erst ermöglichen. Gleichzeitig werden Steuereinnahmen erzeugt, die eine Regulation und soziale Einbettung der Produktions- und Tauschprozesse ermöglichen. Dieses ineinander verknotete und über Jahrhunderte organisch gewachsene Konstrukt – Ware, Geld, Kapital, Lohnarbeit, Geldschöpfung, Besteuerung, sekundäre Einkommensverteilung und staatliche Regulation der Gesellschaft durch den Staat, Internationalisierung des Kapitals und seiner Regulation – lässt sich nicht an einer Stelle aufdröseln um es langsam aufzulösen.

Eine »revolutionäre« oder »transformative« Politik müsste diesen über kapitalistische Märkte vermittelten Gesamtzusammenhang auflösen und gleichzeitig eine neue Form des ökonomischen Austauschs etablieren. Genau das passiert aber nicht. Immobilien im Besitz der Bewohner*innen, Agrarbetriebe, die mittels eines Genossenschaftsbeitrags produzieren, oder Unternehmen, die im Besitz der Arbeiter*innen sind, lösen das kapitalistische Geflecht der Märkte nicht auf, sondern funktionieren nur, wenn sie mit ihm kompatibel sind. Sie bleiben von ihm abhängig, weil sie Einkommen, Waren, Produktionsmittel oder Kredite benötigen oder sie stützen es sogar, in dem sie ökonomische oder legitimatorische Funktionen für den Gesamtzusammenhang übernehmen.

Die Idee von »Keimformen« oder bereits jetzt »revolutionären« Organisationsformen ist insofern verkürzt, als dass das Wirtschaftssystem nicht ›von unten nach oben‹ aus seinen Einzelteilen aufgebaut ist. Sondern es bringt sich umgekehrt als Gesamtheit auf der Ebene seiner Einzelteile zur Geltung. Die Einzelelemente (Waren, Geld, Kapital) erhalten ihre Funktionalität erst durch die Herstellung eines übergreifenden Zusammenhangs ›von oben‹. Die Vorstellung, dass Commons und revolutionäre Realpolitik im Moment der Zuspitzung die Bedingungen für eine neue Wirtschaftsweise bereits in sich tragen, wenn sie nur genügend Bevölkerungsteile und Wirtschaftsbereiche umfassen, verkennt den organischen Zusammenhang von Produktions- und Zirkulationssspähre, in dem sich der Kapitalismus vollzieht. Der hohle Kern der Transformationsdebatte besteht genau darin, dass die Beschaffenheit des neuen ökonomischen Gesamtzusammenhangs und die Möglichkeiten, diesen machtvoll herzustellen, systematisch de-thematisiert werden.

Auch Staaten sind vom globalen Kapitalismus abhängig

Der klassische Kandidat für diese machtvolle Herstellung eines neuen ökonomischen Gesamtzusammenhangs ist der Staat. Für den stellt sich die oben beschriebene Abhängigkeitsproblematik jedoch in verstärkter Form. Zum einen ist der vom Kreditmarkt abhängig, beziehungsweise schafft durch Staatsanleihen und die Geldschöpfung der Zentralbank die Voraussetzung sowohl für sich selbst als auch für die Erzeugung von Kapital durch Kredit. Andererseits ist er von den Steuereinnahmen abhängig, die mit kapitalistischer Wirtschaftstätigkeit stehen und fallen. Eine Wirtschaft, in der nicht mehr gewinnbringend investiert werden kann, weil mehr und mehr Bereiche dem Markt entzogen werden, schrumpft und nimmt dem Staat seine finanzielle Grundlage. Gleichzeitig stellt sie ein politisches Problem dar, da die Lohnabhängigen nicht nur von einem stabilen Arbeits- und Gütermarkt, sondern auch vom Staat und seine vielfältigen gesellschaftlichen Investitionsfunktionen (Sozialstaat, Infrastruktur, Bildung, …) abhängig sind.

Die Globalisierung verschärft die Abhängigkeit von Staaten und Lohnabhängigen noch weiter. Die Internationalisierung der Produktion und mit ihr die Erzeugung eines globalen Geflechts von Märkten muss als ein Prozess verstanden werden, im Zuge dessen eine linke, sozialistische Handlungsperspektive sukzessive verbaut wurde. Die globalen Märkte für Devisen, Staatsanleihen und Kapital lassen eine Politik der Umverteilung und Verstaatlichung irrational erscheinen, da sie Kapitalflucht, Währungsabwertungen und außenpolitische Restriktionen nach sich ziehen könnte. Die heimischen Unternehmen sind ebenso von Krediten, Devisen und Produktionsmitteln aus dem Ausland abhängig, und die Lebensweise der Lohnabhängigen hierzulande basiert in großen Teilen auf Produktionsprozessen und Ausbeutungsstrukturen im globalen Süden.

Wenn wir eine Alternative wollen, müssen wir da Arbeit reinstecken

Eine Transformationsstrategie, die aus dieser Sackgasse einen Ausweg findet, müsste auf diesen drei Ebenen – der Ebene der Lohnabhängigen, der alternativen Wirtschaftsorganisationen und der Staaten – die Abhängigkeit von internationalen Märkten verringern und neue ökonomische Koordinationsformen ermöglichen. Die verschiedenen Alternativen auf individuell- und institutionell-gesellschaftlicher sowie staatlich-internationaler Ebene müssten dabei simultan und koordiniert entwickelten werden und so ineinandergreifen, dass sie sich wechselseitig stabilisieren.

Genau hier liegt die Herausforderung, nicht darin, dass es keine sektorenspezifischen Alternativvorschläge geben würde. Die »folgenlose Flut von Konzepten« ist selber schon »zu einem Symptom einer postdemokratischen Entleerung geworden«. Was fehlt ist die Verknüpfung der individuellen Vorschläge zu einem neuen Wirtschaftssystem, das gangbar und zugleich durch eine linke politische Offensive umsetzbar erscheint. Diese Verknüpfung lässt sich nicht ohne weiteres leisten – ihr Fehlen ist ein Resultat linker Niederlagen, die sich unter anderem auch in die heutige Wirtschaftswissenschaft tief eingegraben haben. Um eine konkretere Vision eines alternativen Wirtschaftssystems zu entwickeln und es hegemoniefähig zu machen, bedarf es der bewussten strategischen Entscheidung und mehrjährigen Koordination kapitalismuskritischer Spektren in Wissenschaft, sozialen Bewegungen, NGOs, Parteien, Gewerkschaften, Medien, etc. Wie wäre es z.B. mit Konferenzen 2020 und 2021, zusammen mit Unteilbar und Gewerkschaften, Fridays for Future und Klima-NGOs, der Progressiven Internationalen und vielen weiteren, bei der wir konkretere Vorstellungen einer post-neoliberalen und post-kapitalistischen Vision herausbilden und popularisieren?

Die Kurzfristige Perspektive: Wir können das Möglichkeitsfenster nicht nutzen

Man kann immer sagen, dass solche »verkopften« Kongresse und Gesprächszirkel an den eigentlichen Kämpfen vorbeigehen. Aber das Fehlen einer belastbaren Alternative, das die gängigen Politikvorstellungen unter Rechtfertigungsdruck setzt, hat zur Folge, dass unsere Kämpfe sich nicht aufaddieren und wir nach jedem Bewegungszyklus gefühlt mit leeren Händen dastehen. Vor allem aber schaffen wir es nicht, das Möglichkeitsfenster, dass durch die Krise des neoliberalen Kapitalismus geöffnet wurde, auszunutzen.

Der Kapitalismus ist 2007/2008 in die stärkste Krise seit der Großen Depression geraten und vieles spricht dafür, dass sich in den nächsten Jahren eine weitere Krise, zumindest eine Rezession in einer Reihe von zentralen kapitalistischen Ökonomien ereignen wird. Das hat mit dem organischen Charakter der Krise zu tun, der darin begründet liegt, dass die bewährten politischen Werkzeuge zur Lösung der Krise (Geldpolitik, Fiskalpolitik) selber zum Teil des Problems geworden sind. Dazu kommt die ökologische Krise, die ihrer eigenen Logik folgt und möglicherweise von sich selbst aus in der Lage ist, ein neues politisches Möglichkeitsfenster zu öffnen.

Die politischen Antworten auf den derzeitigen Krisenzyklus stellen die Weichen für die nächsten Jahrzehnte. Immer deutlicher bildet sich eine autoritäre Antwort auf die soziale und ökologische Krise des globalen Kapitalismus heraus. Gleichzeitig gibt es Elemente eines linken Alternativprojekts, welches man auch als »neue Sozialdemokratie« bezeichnen könnte – im Sinne einer neuen reformistischen Kraft, welche den gesellschaftlichen Reichtum radikal umverteilen will, und, auch wenn sie zentral auf das Gewinnen von Regierungsmacht fokussiert ist, eine tiefgreifende Umgestaltung oder gar Transformation des Kapitalismus anstrebt.

Entsteht ein transformativer Block?

Die zweite entscheidende Frage für unsere Transformationsstrategie (neben der Frage nach dem alternativen ökonomischen Gesamtzusammenhang und wie wir ihn formulieren können) ist, wie sie sich zu diesen eher reformistischen Alternativen verhält beziehungsweise ob und wie beide eine Symbiose eingehen könnten. Aktuelle Beispiele sind die Konzepte des Green New Deal oder der Modern Monetary Theory, die derzeit in den USA heiß diskutiert werden die einen sozial-ökologischen Umbau durch Investitionen bzw. eine politische Verwendung der Geldschöpfung durch die Zentralbank vorsehen.

Könnte auch in Deutschland eine Position für ein Ende der Schwarzen Null, radikale Umverteilung, massive Investitionen und radikalen Klimaschutz bei gleichzeitiger Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftsbereiche entstehen, die im Sinne eines »gesellschaftlichen Wahlkampfs« die etablierte Politik vor sich hertreibt und die Stimmung nach links kippt? Und kann unter der linken Hegemonie in einer Reihe von Ländern (die sich dann teilweise auch in Regierungsmacht ausdrückt) ein »transformativer Block« herausgebildet werden, der mit dem neoliberalen und fossilistischen Kapitalismus bricht und sich dabei gegenseitig ökonomisch und politisch stützt? Damit wäre eine zentrale Ermöglichungsbedingung für echte Transformation im Sinne der Herstellung eines neuen ökonomischen Gesamtzusammenhangs greifbarer, da die Abhängigkeit vom internationalen Standortwettbewerb verringert wird.

Insgesamt zeigt sich, dass die Transformationsdebatte kein entlegener Schauplatz fern von unserer politischen Praxis ist, beziehungsweise nicht sein sollte, sondern unmittelbar mit unseren aktuellen Kämpfen und Strategieproblemen zusammenhängt. Daher sollte sie auch nicht folgenlos verpuffen.

Autor: Sam ist in der IL Berlin und in der Unteilbar/Seebrücke-AG.