Die IL vor einem Scheideweg


9 Thesen über Organisierung, Macht und Strategie (Teil 1)

Welchen weiteren Weg der Organisierung muss die IL langfristig gehen, wie kämpfen? Der Genosse Daniel aus Berlin stellt hierzu ausführliche Thesen zur Diskussion – fünf in diesem Text, vier weitere in der bald erscheinenden Fortsetzung.

These 1. Die IL steht an einem Scheideweg. Auf der einen Seite steht ein Weg, der die Mobilisierung feiert und die Spontaneität an und für sich überbewertet. Diese Argumentation lässt sich am besten an den Hiltrup-Genossen ablesen, die die G20-Ereignisse für die von ihnen bejubelten »Unruhen« gefeiert hatten. Ein Hoch auf die Unruhen, aber wo sind diese Unruhestifter*innen hin? Wahrscheinlich wieder an die Arbeit, auf jeden Fall nicht bei unseren Treffen.

Auf der anderen Seite liegt ein Weg, der die Notwendigkeit und den Wert von Mobilisierung und Spontaneität versteht, aber als Momente von Organisierung, die wenig bedeuten, wenn sie nicht in eine Strategie integriert sind, die auf der Organisierung einer popularen Basis fußt. Dieser Weg versteht die Rolle der Militanten nicht als eine, die Tränengas feiert, sondern als eine, die neben der gesellschaftlichen Basis eine neue Welt baut. Dies ist der Weg der Kampagne »Deutschen Wohnen Enteignen«.

Um langfristig zu bestehen – oder zumindest als Katalysator in der breiteren Bewegungs-Ökologie zu fungieren – muss die IL ihre organische Funktion verstehen und jene Kapazitäten und Ressourcen entwickeln, die in der Lage sind, den zweiten Weg sinnvoll zu navigieren, ohne immer wieder auf den ersten zurück zu fallen.

These 2. Es gibt derzeit eine Reihe von autonomen sozialen Kämpfen, in denen die IL aktiv involviert ist. In Berlin sind Kämpfe rund um Migration und Geflüchtete, Mieter*innen und Pflegekräfte Beispiele für populare Basen, die (aufgrund ihrer organischen Beziehung zu Kapital und Staat) mitten in erbitterten Kämpfen stehen.

Was die IL ernsthaft in Betracht ziehen muss, wenn sie eine relevante politische Akteurin sein will, ist die Entwicklung einer Strategie, die die autonome Macht dieser und anderer popularer Basen so aufbaut, dass sie tatsächlich beginnen können, eine Alternative sowohl zum Neoliberalismus als auch zum Faschismus darzustellen.

Die Grundlage dieser Strategie muss Folgendes verstehen: Revolution ist ein Prozess, kein einzelnes Ereignis. Was ich damit sagen will: Revolutionen passieren nicht einfach so. Der Kapitalismus ist ein ausgeklügeltes System der Einnahme, Ausbeutung und Herrschaft. Er besteht aus einem sich ständig erweiternden und verändernden Arrangement von Prozessen, darauf ausgerichtet uns seiner Verwertungslogik zu unterwerfen. Die Subjektivierungsprozesse innerhalb dieses Systems stehen jeglichem Streben nach Solidarität und Kollektivität entgegen.

These 3. Brüche treten auf, ja, aber sie sind nicht automatisch revolutionär. Jeder Bruch ist potentiell revolutionär, aber nur revolutionäre Kräfte können dieses Potential verwirklichen.

Seht euch den Riss an, der im Gange ist. Wir leben im gramscianischen Interregnum – »das Alte stirbt und das Neue (ist) noch nicht zur Welt« gekommen –, in dem zwei Machtkreise (Neoliberalismus und Neofaschismus) um die Hegemonie kämpfen. Bisher kann keine linke Kraft momentan eine Alternative darstellen. Keine revolutionäre Kraft wurde vom Geist der Geschichte herbeigerufen, um die Gelegenheit zu nutzen.

Ich kann auf kein besseres Beispiel verweisen, als auf die Folgezeit des arabischen Frühlings. Was zunächst so viel Potential für die Region – wenn nicht gar für die Welt – bereithielt, hat sich zu einem ernüchternden Beispiel für die Notwendigkeit der Organisierung entwickelt. Unter den vielen, für sich einzigartigen Beispielen spontaner Revolutionen, ist der Fall Syrien vielleicht am deutlichsten.

Dort haben die Bedingungen einer nahezu allgegenwärtigen, autokratischen Diktatur das revolutionäre Potential des Aufbegehrens stark eingeschränkt. Nicht anders als in Russland fast hundert Jahre zuvor, waren die politischen Gestaltungsmöglichkeiten extrem begrenzt. Offene Organisierung war vor den politischen Öffnungen, die die Massenaufstände erzeugten, weitgehend unmöglich. Die notwendige organisatorische Reaktion auf ein solches Szenario (wie Lenin zugestimmt hätte) war die einer Untergrundorganisation, die das revolutionäre Potential vorbereiten musste. Die einzigen Akteure innerhalb der Linken, die in Syrien diese Form gewählt hatten, waren die der kurdischen Befreiungsbewegung. Nach den ersten Protesten, die Millionen auf die Straße brachten, waren es die Kräfte, die am besten organisiert und vorbereitet waren, die den Tag nutzten. Diejenigen, die nicht auf den Übergang zum Bürgerkrieg vorbereitet waren, befanden sich ein einer nicht gewinnbaren Situation, in der sie keine Erfolge erzielen konnten. In Rojava ermöglichten Jahre der heimlichen Organisierung die Entwicklung einer gesellschaftlichen Öffnung, die den Begriff ›Rojava‹ auf die gleiche Stufe wie ›Lacandonischer Wald‹ stellte.

Entscheidend ist, dass jedes auch nur halbwegs erfolgreiche revolutionäre Projekt auf einer langen organisatorischen Vorbereitung basiert, die in den jeweiligen lokalen Gesellschaft eingebettet ist. Weder die zapatistischen Gebiete noch Rojava waren das Ergebnis eines einzigen Ereignisses, das plötzlich das Bewusstsein der Menschen veränderte. Was wir 1994 und 2014 gesehen haben, war die Ernte eines behutsam bestellten Feldes. In beiden Regionen gingen dem offenen Aufbrechen des Widerstandes lang Jahre der Organisierung und Basisarbeit voraus.

These 4. Wie sieht nun ein revolutionärer Prozess in Gebieten aus, die von den jeweiligen Staatsapparaten nicht aufgegeben wurden, anders als in Rojava und Selva Lacandona?

Dafür beziehe ich mich auf die Arbeit von Antje Dieterich und Victor Hertzfeld. Grundsätzlich argumentieren sie, dass ein revolutionärer Prozess in Räumen wie dem unseren (wo die Kontrolle von Kapital und Staat sicher und legitimiert ist) einen revolutionären Reformprozess erfordert. Wie Dieterich und Hertzfeld argumentieren, muss ein solcher Prozess die folgenden drei Punkte beachten und ist nur in dem Maße revolutionär, wie diese umgesetzt werden:

I. Er muss zu einer tatsächlichen materiellen Verbesserung für diejenigen führen, die den Wohlstand geschaffen haben (Arbeiter*innen).

II. Einfach bessere Leistungen im Kapitalismus zu erhalten, ist Sozialdemokratie. Es bedeutet wenig, materielle Vorteile zu erhalten, wenn im Kampf für diese Vorteile, nicht auch Gegenmacht erzeugt wird. Dies bedeutet, dass die operative Kontrolle über (re)produktive Funktionen und Strukturen (wie etwa Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, Nachbarschaften, logistische Leitungen oder Kommunikationsinfrastrukturen) angestrebt wird. Das heißt die (Re-)Produktionsfunktion unterbrechen zu können, wenn gewünscht (Streik). Das bedeutet aber auch, eine neue Organisationslogik zu entwickeln, die bestehende Hierarchien immer wieder angreifen und aufweichen und so ein Gegenverhalten fördern, das antirassistisch, proletarisch und feministisch ist. Wenn dies erreicht wird, können wir sagen, dass die popularen Kräfte die operative Kontrolle entwickelt haben und dann den weiteren Weg diktieren können (zum Beispiel würde die operative Kontrolle der Schulen bedeuten, dass sie in der Lage wären, die Mittel zu erhöhen, die Klassengrößen zu begrenzen, antirassistische und feministische Lehrpläne hinzuzufügen, etc.)

III. Im Laufe des Kampfes müssen sich die popularen Kräfte in neue Arrangements und Kombinationen von Gegenmacht einbringen und immer größer werdende Kräfte und Basen verbinden, um neue Infrastrukturen des Widerstandes zu entwickeln – Strukturen, die Räume für aktives Lernen bieten, effektive Kommunikation unabhängig von Staats- und Unternehmensmedien, Analysen, die dominante Ideen herausfordern und die Aufrechterhaltung eines kollektiven Gedächtnisses, um Erfahrungen aus vergangenen Kämpfen zu gewinnen. Vor allem dann ist die revolutionäre Reform ein Mittel, mit dem wir einen neuen Kreislauf der Gegenmacht schaffen können.

Entscheidend ist, dass Reformen darauf ausgerichtete sind, Risse innerhalb des Systems zu schaffen, um erste Praktiken einer postkapitalistischen Ordnung vorwegzunehmen. Das heißt, präfigurative Formen direkter, demokratischer Macht sind entscheidend für die Verwirklichung einer solchen Strategie, da es sich um Institutionen handelt, die die neue Welt in der Hülle der alten ankündigen.

Die Suche nach präfigurativen Organen der demokratischen Macht ist ein Markenzeichen der sozialistischen Theorie. Für Lenin, Luxemburg und Gramsci hat die autonome Entwicklung der Arbeiter*innenräte in ganz Europa die demokratische Arbeitsorganisation in der sozialistischen Gesellschaft geprägt.

Für Negri ist dies heute die zentrale Aufgabe kommunistischer Politik: den Aufbau von Institutionen echter Gegenmacht zu bestimmen. Negri meint, »we are confronted with the necessity of building institutions of the common, not as the ultimate result of the revolutionary process, but as its very condition«. Wir müssen nicht einfach die Zerstörung von Dingen fordern, sondern uns ernsthaft an der Schaffung einer Alternative beteiligen. Wie Ezequiel Adamovsky uns auffordert, darf die Linke nicht nur eine Negation darstellen, die Unordnung verspricht, sondern ein Projekt, das eine Neuordnung eines neuen demokratischen Lebens bejaht.

Seit 1917 gibt es eine Vielzahl von präfigurativen Organen auch außerhalb der historischen industriellen Arbeiter*innenräte. Munizipalistische Bewegungen im gesamten globalen Norden weisen auf eine Reihe potentieller Gegeninstitutionen hin, die Wege der direkten demokratischen Macht bieten. Auch Rojava verweist auf eine unglaublich ausgeklügelte Anordnung von Macht und Organen, die aussagekräftige Einblicke in Möglichkeiten bietet, Anti-Rassismus und Feminismus in Formen der Selbstverwaltung zu integrieren.

Eine revolutionäre Reformstrategie würde daher nicht nur darauf abzielen, spürbare Veränderungen im Leben der Unterdrückten zu entwickeln, sondern sie würde auch bedeuten, die Entscheidungsfindung so zu verlagern, dass sie in den popularen und autonomen Bereich fällt.

These 5. Der Kapitalismus ist ein System mit einem inhärenten Problem: die für den Betrieb notwendige Arbeit kann nicht physisch von den Träger*innen der Arbeitskraft getrennt werden. Letztendlich bleibt sie immer in der Kontrolle der Arbeiter*innen. Um über diese Arbeitskraft verfügen zu können, muss die kapitalistische Klasse auf komplexe Arrangements von Machtmethoden zurückgreifen, die ein ordnungsgemäßes Verhalten der Arbeiter*innen gewährleisten. Diese Arrangements bestehen aus einer Vielzahl einzelner Systeme. Und über eben diese Systeme können wir der eher abstrakten Ablehnung des Kapitalismus konkreten Widerstand entgegensetzen. Jane McAelevy, einer zur Zeit sehr hoch gelobte Gewerkschafterin/Organizieren aus den USA, legt uns nahe, unsere Kämpfe immer von der sozialen Basis her zu planen, die sich in der Struktur befinden, die wir angreifen wollen. Konkreter formuliert:

Die Fabrik produziert eine klar eingegrenzte Anzahl von Arbeiter*innen. Das Verwaltungsbüro produziert eine bestimmte Anzahl von Mitarbeiter*innen (Angestellte, Hausmeister*innen, etc.). Die Schule produziert eine bestimmte Anzahl von Arbeiter*innen (Schüler*innen Lehrkräfte, Hausmeister*innen, Angestellte usw.). Das Krankenhaus produziert eine bestimmte Anzahl von Mitarbeiter*innen (Patient*innen, Pflegekräfte, Ärzt*innen, etc.). Der*die Geflüchtete wird durch eine Anordnung von Strukturen (Lager, Verwaltungsgebäude, etc.) produziert. Der*die Gefangene wird durch eine Anordnung von Strukturen (Gerichte, Gefängnisse, etc.) produziert.

Unsere Analyse sollte sich an diesen Strukturen orientieren – und der jeweiligen Basis, die mir ihr verbunden ist. Wenn wir also wollen, dass es Geflüchteten besser geht, müssen wir verstehen, welche Strukturen hier unterdrückend wirken und dann genau beobachten, welche sozialen Basen mit den Strukturen verbunden sind, Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde, Betreiber*innen von Lagern, Ausbildungsstätten, etc.

Die Strategie der revolutionären Reform erkennt an, dass unsere Kämpfe auf die Entwicklung und Stärkung hin zu Solidarität statt Wettbewerb ausgerichtet sein muss. Wenn wir Strukturen verändern, muss das eine Leitlinie sein.

Natürlich müssen wir auch die heutige Realität anerkennen: Welche Strukturen können wir angreifen? Bei welchen sind wir derzeit zu schwach? Während Fabriken zum Beispiel schnell ›ausgelagert werden‹, wenn Arbeiter*innen zu militant organisieren, bleibt der reproduktive Sektor für uns als ein Ziel bestehen.

Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser lassen sich nicht einfach bewegen, sie sind geographisch verankert. Und wie wir in Frankreich und Brasilien gesehen haben, sind Straßen und logistische Infrastrukturen nach wie vor sehr anfällig. Zusammenfassend heißt das: Wir müssen Systeme identifizieren und die räumlichen und strukturellen Formationen erfassen, um konkrete Bereiche abzustecken, in denen wir Gegenmacht aufbauen können.

Die Fortsetzung mit den Thesen 6 bis 9 findet ihr hier.

Autor: Daniel ist in Berlin in der Solidarity City AG der IL organisiert.

Übersetzung aus dem Englischen: Eric und Tenzin aus der Debattenblog-Redaktion.

Das Bild zeigt eine Weggabelung in Hampshire, England.