Klimakrise und weiße Anzüge in Venedig

Vor 20 Jahren waren die Tute Bianche überall in Munde. Nun sind sie zurück. Wie die weißen Anzüge in Zeiten der Klimagerechtigkeitsbewegung zurück nach Italien kommen und sich neue Aktionsformen entwickeln, zeigte sich auf dem ersten Klimacamp in Venedig. Bei Störaktionen mit Motorbooten gegen Kreuzfahrtschiffe und der Frage, warum es mehr Aktionen wie #WeWantTheRedCarpet braucht, waren einige unserer klimabewegten Genoss*innen dabei.

Vom 4. bis 8. September 2019 fand das erste Klimacamp in Italien am Lido (Strand) von Venedig statt. Organisiert von der lokalen Fridays for Future Gruppe und dem Comitato No Grandi Navi – Venezia (Komitee gegen die großen Schiffe - Venedig) lud es zu Plenumsdiskussionen, Workshops, Vernetzungsprozessen und direkten Aktionen ein. Mit dabei war auch das Medienprojekt Global Project, das selbst aus den sozialen Bewegungen kommt und über politische Aktionen wie auch über die allgemeine Weltlage und alternative Kultur berichtet. Zeitgleich - und nur zwei Kilometer vom Klimacamp entfernt - fand unter den Augen der Weltöffentlichkeit das 76. Internationale Filmfestival von Venedig statt.

Das Camp

Etwa tausend Aktivist*innen - und damit doppelt so viele, wie zuvor vom Orga-Team erwartet - hatten sich im Camp eingefunden. Für die Sherwood-Festival-erfahrenen Aktiven jedoch kein organisatorisches Problem. Weil die Campfläche zu klein war, wurde als erste Campaktion kurzerhand am ersten Tag eine Brachfläche direkt neben dem Camp besetzt. Das Grundstück liegt seit mehreren Jahren unbenutzt, da es Proteste und eine juristische Auseinandersetzung um den dort geplanten Supermarkt gibt. Mit Tiermasken (dem Erkennungszeichen einiger Klimaaktionen italienischer Aktivist*innen der letzten Jahre) und Drahtschneidern wurde der Zaun um das Gelände geöffnet. Mit Sägen, Sensen und Rechen wurden Gestrüpp und hohes Gras entfernt und Zelte aufgebaut. Die Polizei, die rund um das Filmfestival zahlreich positioniert war, interessierte sich für die Besetzung nicht.

Der Diskurs um umweltbewusstes Leben ist in Italien nicht so weit verbreitet wie in Deutschland. Im Vergleich zu früheren italienischen Camps zeigten sich aber Veränderungen: Es gab - explizit aus ökologischen Gründen - veganes Essen, das extra für das Camp von lokalen Bio-Bäuerinnen & -Bauern bezogen wurde. Dadurch hat sich sogar eine Kooperation zwischen den Bäuerinnen und den Sozialen Zentren im Nordosten Italiens etabliert. Zudem gab es Mülltrennung und Verwendung regenerativer Energien und es wurde zum vorsichtigen Umgang mit Flora und Fauna des Campingbereichs sowie Strand und Dünen aufgerufen.

Maßgeblich mobilisiert über die International-AG von Ende Gelände (Ende Gelände Goes Europe) war fast ein Drittel der Camper*innen von außerhalb Italiens gekommen: Aus den Niederlanden, Spanien, Frankreich, Schweden, Großbritannien, Norwegen - und fast 200 Personen aus Deutschland. Darunter - vor allem, aber nicht nur - bereits organisierte Aktivist*innen. Insgesamt zeigte sich auch hier, wie mobilisierungsstark die Klimabewegung derzeit ist (auch wenn sicherlich Sommer, Strand und die Stadt Venedig ebenfalls zur Mobilisierung beigetragen haben). Auch Aktivist*innen aus Argentinien und Nigeria waren da, die Inputs bei Workshops/Vorträgen hielten, von ihren lokalen Kämpfen berichteten und über Fragen von Migration und Ökotransfeminismus debattierten.

Das Programm war im Gegensatz zu den deutschen Klimacamps weniger gefüllt, neben ein bis zwei Workshops/Vorträgen am Tag (die in großer Runde mit langen Redebeiträgen stattfanden) gab es viel Zeit, an den Strand oder in die Altstadt zu gehen, Wein zu trinken, Abends zu tanzen und das dolce vita (süßes, entspanntes Leben) zu genießen. Das leider durch Regen an zwei Tagen etwas getrübt wurde.

The Oceans are rising and so are we

Seit einigen Jahren schon wird europaweit in Medien über die ökologischen Auswirkungen von Kreuzfahrtschiffen und die Proteste dagegen berichtet. Weil die Blockade eines Kreuzfahrtschiffes im Rahmen des Klimacamps angekündigt war, gab es großes Interesse an der Teilnahme an dieser Aktion. Schnell wurde klar, dass nicht für alle, die mitwollten auch mitkonnten. Auf den kleinen Motorbooten war nicht genügend Platz für alle. Hinzu kamen Regen, starker Wind und entsprechender Wellengang. Schließlich stießen 16 Boote mit jeweils 4-20 Personen in See. Mit im Winde knatternden »No Grandi Navi«-Fahnen und jeweils eine Kiste Tomaten im Boot. Wegen des Wetters gab es keine unterschiedlichen »Eskalationsstufen« der Boote, sondern die Ankündigung, dass es »rough but fun« werden würde. In knapp vier Stunden konnten wir erleben, wie Umfließen von Polizeibooten funktioniert, wie schwierig es ist, Tomaten auf das Deck eines riesigen 65 Meter hohen Kreuzfahrtschiffes zu werfen und wie locker die italienische Polizei mit einer durch Bootszusammenstoß zerstörten Polizeibootfensterscheibe umgeht. Auch der Oberpolizist, der Tomaten aus der Luft fing, war beeindruckend. Um unserer Protestaktion zu entgehen, legte das Kreuzfahrtschiff über eine Stunde später am Hafen ab, und musste trotzdem (mit unaufhaltbarem Tempo!) an uns, unseren Booten, Fahnen, gereckten Mittelfingern und Tomaten vorbeifahren.

Die Gründe der Proteste gegen die grandi navi, die großen Kreuzfahrtschiffe, die vorbei an Lido direkt durch die Altstadt von Venedig in den Hafen der Insel fahren und dort anlegen, sind vielfältig. Zum einen werden die Schiffe mit Schweröl betrieben. Ein Schiff produziert so viel CO₂ wie 84.000 Autos und so viel Schwefeloxid wie 376 Millionen Autos. Venedig zählt daher trotz fehlendem Autoverkehr zu den Städten mit der schlechtesten Luftqualität. Das Befahren der Lagune durch die großen Schiffe führt durch die Wasserverdrängung sowie die dabei entstehende Sogwirkung zu einem Abtragen von Sand aus der Lagune sowie zur Zerstörung der Fundamente von den Häusern. Allgemein wird dadurch das sensible ökologische Gleichgewicht der Mittelmeerstadt bedroht. Hinzu kommt die weitere Verschärfung der Effekte des Massentourismus auf die Bewohner*innen von Venedig. Insgesamt sind die Kreuzfahrtschiffe mit ihrer alles überragenden Größe ein eindrucksvolles Symbol der zerstörerischen imperialen Lebensweise.

Tute Bianche: Trendsetter auf dem roten Teppich

So wie Ende der 1990er/Anfang 2000er Jahre in der globalisierungskritischen Bewegung, Gruppen und Aktionskulturen zusammengekommen sind, findet dies heute in der Klimagerechtigkeitsbewegung statt. Am 7. September wurde in aller Frühe (als die Polizei die Zugänge noch nicht verstärkt bewachte) der rote Teppich des venezianischen Filmfestivals La biennale cinema von 300 Aktivist*innen besetzt. Die meisten von ihnen trugen weiße Anzüge. Die Blockade dauerte bis 14 Uhr. Es war ein historischer Moment, wie ein italienischer Genosse per Mikrofondurchsage betonte, weil es seit Jahrzehnten von Protesten gegen dieses glamouröse Event das erste Mal gelungen ist, den roten Teppich zu erreichen. Damit wurden die Scheinwerfer und Pressekameras auf die Klimakrise gerichtet und globale mediale Aufmerksamkeit (selbst in vietnamesischen Medien wurde berichtet) für das drängendste Problem unserer Gegenwart geschaffen und die Akteur*innen der Kulturindustrie zu mehr Positionierung und Veränderungen aufgefordert.

(Besetzung des roten Teppiches auf dem Filmfestival in Venedig - Bildquelle: Global Project)

Weiße Staubschutzanzüge als Aktionskleidung sind in Deutschland seit den Castor?Schottern!-Aktionen im Wendland und Ende Gelände bekannt. Dass die italienischen Genoss*innen weiße Anzüge für die Besetzung des roten Teppichs wählten, ist einerseits eine Referenz an Ende Gelände, woran sie selbst mehrfach teilnahmen. Andererseits sind die weißen Anzüge in Italien schon weitaus länger aus der globalisierungskritischen Bewegung bekannt: Als Tute Bianche wurden Ende der 1990er/Anfang 2000er Jahre in Italien Gipfeltreffen blockiert, eine Gentechmesse gestürmt und ein Abschiebegefängnis demontiert. Auch europaweit traten die Tuti Bianchi bei Großdemonstrationen in Weiß (sowie mit selbstgebastelter Schutzbekleidung á la Michelin-Männchen gegen Polizeigewalt) auf. Hintergrund dafür war einerseits die Bezugnahme auf die Zapatistas (Chiapas/Mexico), die sich durch das Unsichtbarmachen mit schwarzen Masken sichtbar machen, und andererseits auf die Veränderung der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Postfordismus, als Anlehnung auf den Begriff der Multitude von Hardt/Negri, die der post-operaistischen Strömung angehören.

Neu war nach eigener Aussage der italienischen Aktivist*innen die Verabredung und Vorbereitung auf passives Agieren in der Besetzungsaktion: Auf Polizeigewalt sollte nicht mit Gegenwehr reagiert werden, sondern die Gewalt weltweit über Medien sichtbar gemacht werden. Ein Vorgehen, das in den letzten Jahren auch im Rahmen des »von uns geht keine Eskalation«-Aktionskonsens bei Ende Gelände erfolgreich praktiziert worden war.

Es braucht viel mehr und noch radikalere Protestaktionen wie #WeWantTheRedCarpet, weil es uns als Klimabewegung darum gehen sollte, dass kein öffentliches Ereignis mehr darum herum kommt, die sozial-ökologische Krise nicht zu thematisieren, ihre Verstrickungen in diesen Zusammenhang zu reflektieren und daran zu arbeiten, die vor uns liegenden Probleme zu bewältigen. Besonders den Kulturschaffenden kommt eine verantwortliche Bedeutung zu, da sie in besonderer Weise zum Reflektieren, Erinnern und Weiterentwickeln von gesellschaftlicher Praxis beitragen. Das Ziel dieser Aktionen ist nicht zwangsläufig die Verhinderung des Spektakels. Es gilt, das Spektakel umzufunktionieren, um zu verdeutlichen, dass es auf einem toten Planeten auch keine kulturellen Produktionen gibt – und die Klimakrise uns alle betrifft.

Deutsche Linke at their best: erst verurteilen, nie fragen

Bitter aufgestoßen sind uns einige Bemerkungen von vor allem deutschen Internationals. Grundsätzliche Aspekte der Organisation des Klimacamps (fester Preis statt freiwilliger Spende für Essen, Armbändchenkontrollen) und der Aktionsentscheidungsstrukturen wurden scharf kritisiert, wobei aus unserer Sicht wenig Interesse an den jeweiligen Hintergründen sowie Wertschätzung und Solidarität gezeigt wurden. Dies äußerte sich beispielsweise darin, dass ohne richtige Absprachen eine parallele Awarenessstruktur aufgebaut wurde. Es kam außerdem zu Unzufriedenheit über die Entscheidungsfindungen in der Aktion, da es bei den italienischen Genoss*/innen ein anderes Deligiertenprinzip mit weniger großen Delegiertenplena gibt. Überraschend wurden wir auch einem von uns wahrgenommenen überhöhten Sicherheitsbedürfnis deutscher Linker gewahr, das sicherlich auch etwas mit dem hiesigen Sozialstaat zu tun hat, während dieser in Italien schon lange kein Alltag mehr ist - unter anderem auch wegen der deutschen Austeritätspolitik auf EU-Ebene.

Stattdessen wünschen wir uns einen respektvollen und wertschätzenden Austausch, indem wir viel mit- und voneinander lernen. Dabei sollte es klar sein, unterschiedliche Herangehensweise zunächst verstehen zu wollen ohne direkt zu werten, dass unsere (über)effiziente und (ultra)demokratische Art Aktionen zu organisieren, die Beste schlechthin sei. Die Haltung der Kritik untereinander ist eine solidarische, die gegenüber den herrschenden Verhältnissen eine destruktive. Oder auch: Die (auch harte) Kritik hat auf Basis der solidarischen Zärtlichkeit zu erfolgen.

Leider kam während der Tage der interne Austausch zu kurz. Für den zukünftigen internationalen Austausch stellen sich uns die Fragen, was weitere Klimathemen - außerhalb der auf dem Camp behandelten - in Italien sind, und welche sich perspektivisch entwickeln könnten. Welche Möglichkeiten der Zuspitzung werden in diesen Konflikten gesehen; auch vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte? Inwiefern besteht eine Kontinutität auf persönlicher und kollektiver Ebene bei den ehemals globalisierungskritischen und nun klimagerechten Bewegungen? Selbstverständlich fragen wir uns auch, wie wir als internationale Klimabewegung weiter zusammenwachsen können. Und freuen uns jetzt schon auf das nächste Klimacamp.

Autor*innen: einige Klima-Aktivist*innen der iL, die in den Städten und Regionen Rhein-Neckar, Tübingen, Berlin, Leipzig, Frankfurt am Main und Köln aktiv sind.

Bild: Die dissidenten Davids gegen Goliath. Eine maritime Blockadeaktion gegen die Kreuzfarhtschiffe im Hafen von Venedig im Rahmen des Klimacamps Anfang September 2019. Bildquelle: Global Project