von Krise der radikalen Linken tags Bewegung Strategie Anarchismus Datum Jan 2023
zuJonathan Eibisch argumentiert für ein bewusstes Einmischen organisierter Anarchist*innen in die Bewegungslinke. Die anarchistische Ideen der (Anti-)Politik soll so ein stärkeres Gewicht in der strategischen Debatte erhalten. Außerdem gibt er einen interessanten Überblick hinsichtlich anarchistischer Gedanken und Kritiken an der Bewegungslinken.
Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen. Politik aus anarchistischer Perspektive zu verstehen, kann dazu beitragen, die Diskussion über unsere Strategien und Praktiken zu erweitern. Dazu gilt es, sich die ambivalente Ablehnung von Politik und die Bezugnahme auf sie durch Anarchist*innen anzuschauen, welche sich anders gestaltet als bei linksradikalen Strömungen. Seit vielen Jahren verstehe mich selbst als Anarchist und habe an einigen Ereignissen teilgenommen, zu welchen auch die IL mobilisiert hatte. Darunter waren die Proteste gegen den Naziaufmarsch in Dresden, COP15, Castor Schottern, Blockupy und den G20-Gipfel. Auch wenn sich der Schwerpunkt meiner Aktivitäten inzwischen verändert hat, bin ich weiterhin der Ansicht, dass grundlegender Wandel nur durch Druck auf der Straße, vielfältige direkte Aktionen und selbstorganisierte Basisarbeit gelingen kann.
Anarchist*innen und die Bewegungslinke
In bewegungslinken Gruppierungen und Netzwerken finden sich Personen zusammen, welche sich in den drei Hauptströmungen des Sozialismus verorten lassen: Sozialdemokratie, Parteikommunismus und Anarchismus. Statt vorrangig um ideologische Positionen zu ringen, wie in Gruppen, welche sich nach ihrer Gesinnung zusammenfinden, oder um Programme, Posten und die Wähler*innengunst in Parteien, steht in Gruppen der Bewegungslinken die gemeinsame Aktion im Vordergrund. Auch wenn Kontroversen keineswegs ausbleiben, schafft dies die Grundlage für die Zusammenarbeit von Personen, welche von unterschiedlichen Strömungen geprägt sind. Dies ist begrüßenswert, wenn die Einsicht darin besteht, dass umfassende Gesellschaftstransformation zwar nicht durch die anzuführenden Massen gelingen kann, wohl aber der unterschiedlichen Vielen bedarf, die sich verbünden.
Es gibt wenige Personen, die sich als Anarchist*innen verstehen und bei der IL organisiert sind. Häufiger aber kommt es vor, dass anarchistische Zusammenhänge sich an Aktionen der Bewegungslinken beteiligen und dennoch einen gewissen Abstand zu ihr wahren. Und dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Erstens sind Anarchist*innen der Adressierung von Massen gegenüber skeptisch, weil diese oftmals eher lethargisch wirken, als dass sie Spontaneität entstehen lassen. Auch Aktionen, die auf eine große Zahl von Menschen setzen, können demnach nur so gut funktionieren und emanzipatorisch wirken, wie jene, die sich an ihr beteiligen in Bezugsgruppen organisiert sind und sich auch im Alltag organisieren. Zweitens kritisieren Anarchist*innen die Symbolpolitik, welche teilweise in Aktionen zivilen Ungehorsams bedient und gefördert wurden. Vor allem auf die mediale Wirksamkeit zu setzen, erzeugt noch keine Gegenmacht. Drittens wird eine Kritik an dem Ereignis des Massenprotestes geübt. Wenn dieser vor allem als spektakuläres Erleben schmackhaft gemacht wird, um Menschen dafür zu mobilisieren, kann er nicht nachhaltig und tiefgreifend sein. Ein vierter Punkt betrifft die teilweise intransparente Weise, wie Aktionskonsense zu Stande kommen und kommuniziert werden. Dies verweist auch auf Hierarchien im Hintergrund, wie sie freilich auch in anarchistischen Organisationen bestehen. Fünftens wird das »Bewegungs-Management« als problematisch erachtet, in welchem professionelle Strateg*innen sich beispielsweise anmaßen, bestimmte Ausdrucksformen vorab bestimmen oder an Protesten beteiligte Gruppen wie Schachfiguren platzieren zu wollen. Schließlich können Engagierte in linken Bewegungen, sechstens, auch dazu tendieren, Aktionen von anderen Gruppierungen zu vereinnahmen oder sich gegebenenfalls unsolidarisch von ihnen zu distanzieren.
Diese Kritikpunkte sind nicht neu. Sie werden auch nicht alleine von ausgewiesenen Anarchist*innen vorgetragen. Es handelt sich um beobachtbare Effekte, welche es den eigenen Ansprüchen entsprechend zu reflektieren gilt und auf die es verschiedene Antwortmöglichkeiten gibt. Die anarchistische Perspektive auf die Bewegungslinke ist wichtig, damit diese sich weiter entwickeln kann.
Ein Bewegungs-Anarchismus?
Anarchist*innen organisieren sich – auf den gegenwärtigen Zeitpunkt und den deutschsprachigen Kontext bezogen – nicht als eine Bewegung, sondern in verschiedenen, sich mehr oder weniger überschneidenden Szenen. Spätestens seit dem Wirken der Anti-Globalisierungsbewegung stehen sie dabei vor dem Phänomen, dass zahlreiche Praktiken, Stile, Organisations- und Aktionsformen, als auch einige theoretische Überlegungen in linken Bewegungen aus der anarchistischen Tradition stammen, während es zugleich nur wenige explizit anarchistische Gruppen gibt. Gerade die Erfahrungen, welche Menschen in radikalen Kämpfen an Hotspots machen, bringen neue Einsichten und Handlungsweisen hervor, welche dann häufig adaptiert und im schlimmsten Fall von der Herrschaftsordnung vereinnahmt werden. Über die ideologischen Positionierungen hinaus sind Anarchist*innen diesen Prozessen gegenüber skeptischer als viele linke Akteur*innen. Sie werfen ihnen teilweise vor, im gegebenen politischen Rahmen zu verharren.
Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Anarchist*innen sich dennoch an linken Bewegungen beteiligen. Manche finden sich vorrangig in Gesinnungsgruppen zusammen, andere konzentrieren sich vollständig auf Basisgewerkschaften und einige bevorzugen autonom agierende Affinitätsgruppen. Darüber hinaus lässt sich aber ebenso das Vorhandensein eines »Bewegungs-Anarchismus« feststellen, der sich zeitgenössisch insbesondere in der radikalen Ökologiebewegung und queerfeministischen Kontexten zeigt. Historisch können zum Beispiel Errico Malatesta, Johann Most, Emma Goldman und Christiaan Cornelissen als bewegungslinke Anarchist*innen bezeichnet werden. Als Anarch@-Kommunist*innen verstanden sie sich als libertär-sozialistischer Flügel innerhalb von sozialen Bewegungen, insbesondere in der Arbeiterbewegung, der Genossenschaftsbewegung, anti-militaristischen, anti-klerikalen und feministischen Bewegungen. Ein Selbstverständnis als libertär-sozialistischer Flügel innerhalb von Bewegungen wäre für jene Anarchist*innen, die sich gegenwärtig in sozialistischen Gruppen und Protesten beteiligen, sinnvoll. Es würde aber auch der Bewegungslinken insgesamt gut tun. Allerdings umfasst dies auch eine Perspektive gegen und jenseits parlamentarischer Politik und geht damit über die bloße außerparlamentarische Opposition hinaus. Damit tritt der libertär-sozialistische Flügel innerhalb der Bewegungslinken auch für eine kritische Distanz zur Linkspartei ein, die sich auch über dogmatische Abgrenzungsreflexe hinaus stichhaltig begründen lässt. Wie erwähnt ist ein Bewegungs-Anarchismus heute keine Realität. Um ihn zu organisieren, bedürfte es strategischer Diskussionsprozesse innerhalb und außerhalb der Bewegungslinken, die sich meiner Ansicht nach lohnen.
Transformationsansätze
Ausgangspunkt dafür sind unterschiedliche Transformationsverständnisse, welche es zu diskutieren gilt. Eine Voraussetzung bei der Entstehung des Anarchismus als eigenständige sozialistische Strömung war die Verwerfung der politischen Reform, als Ausdruck der Sozialdemokratie einerseits und der politischen Revolution als Horizont des Parteikommunismus, andererseits. Statt ersterer wurden Ansätze entwickelt, in welchen auf mutualistische Selbststorganisation gesetzt wird, um die Gesellschaft graswurzelartig zu verändern. Die Ablehnung letzterer mündete in die Befürwortung von Aufstand und alltäglicher Subversion. Darüber hinaus entstanden das Transformationskonzept des autonomen Protestes, mit welchem auf die Radikalisierung und Selbstorganisation in sozialen Bewegungen gesetzt wurde, und schließlich jenes der sozialen Revolution. Bei sozialer Revolution geht es nicht um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um die grundlegende Transformation politischer Strukturen hin zu Föderationen dezentraler autonomer Kommunen. Die Vergesellschaftung von Privateigentum und Produktionsmitteln soll durch die Arbeiter*innen selbst und direkt geschehen. Darüber hinaus sollen mit sozialer Revolution die verschiedenen Dimensionen der Herrschaftsordnung (z.B. Geschlechter- und Naturverhältnisse, Kultur und Ethik) zugleich überwunden werden. Und sie geschieht prozesshaft, entwickelt konstruktiv neue Organisations- und Gemeinschaftsformen und orientiert sich präfigurativ an konkreten Utopien. Im Bewegungs-Anarchismus wird insbesondere auf die beiden letzten Konzepte Bezug genommen. Wenn Simon Sutterlütti die Transformation als »Konstruktion« befürwortet, welche zur »Aufhebung« führe, meint er damit (implizit und unbegriffen) das Nachdenken über anarchistische Transformationsstrategien. In der Vorstellung der »Keimformtheorie« wird dies sogar dem Wort nach aus dem Anarchismus entlehnt. Leider geschieht dies aber verkürzt, weil komischerweise darauf insistiert wird, das Rad mit den Commons-Ansätzen auf idealistische Weise neu zu erfinden, statt konsequenterweise einen Beitrag zu formulieren, um den Anarchismus theoretisch zu erneuern. Den anarchistischen Kern dieser Theoriestränge zu verdecken, bringt für die Debatte über zeitgemäße, sinnvolle Transformationsansätze nicht weiter.
Für die Bewegungslinke hilfreich ist in diesem Zusammenhang eher ein Denken wie jenes von John Holloway (2010) oder Eric Olin Wright. Letzterer versucht dabei die Transformation durch Bruch (Parteikommunismus), durch Freiräume (Anarchismus) und durch Symbiose (Sozialdemokratie) zu verbinden, um ein gemeinsames sozialistisches Projekt denkbar zu machen (Wright 2017: 375-485). Dabei argumentiert Wright, echte Gesellschaftstransformation könne nur ermöglicht werden, wenn alle drei Ansätze zusammengeführt werden. Mit seiner Betonung konkreter Utopien, der Annahme, dass der Sozialismus nicht aus dem Kapitalismus herauswächst, dass es eine gesellschaftliche Ermächtigung braucht und mehrere Strategien für eine grundlegende Gesellschaftstransformation zusammenwirken müssen, wirkt insbesondere der Schluss seines Buches direkt anarchistisch (Wright 2017: 486-496), ist es sein Transformationskonzept nur teilweise. Und eben darin liegt die Stärke einer Konzeption, welche unterschiedliche Ansätze zusammen denkt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen, Flügel oder Spektren, ihre eigenen Grundlagen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenlernen und weiter entwickeln. Im Übrigen ist dies auch die Voraussetzung für Streit, der solidarisch und konstruktiv geführt wird, statt dogmatisch und spalterisch. Letzteres bedeutet aber nicht, auf radikalen Zweifel zu verzichten, wo er notwendig ist...
Kritik der Politik und (Anti-)Politik im Anarchismus
Die Besonderheit des Anarchismus innerhalb der Bewegungslinken besteht in seiner Betonung der Autonomie, Dezentralität und Selbstorganisation sozialer Bewegungen, statt Vorfeldorganisationen von Parteien oder gar künstlich geschaffene Pseudo-Bewegungen zu sein. Mit dem Anarchismus wird auch die Präfiguration stark gemacht, also das Anliegen, mit den eigenen Organisations- und Aktionsformen bereits die Gesellschaftsform zu verkörpern, welche angestrebt und verallgemeinert werden soll. Auch die eigene Ethik und die soziale Dimension unter den Aktiven gewinnt damit einen wichtigen Stellenwert: Die eigene Bewegung soll konkret emanzipierend wirken. Darüber wird die Konfrontation mit den Strukturen der Herrschaft gesucht, statt diese nur provokativ einzusetzen, um in Verhandlungen mit den politisch Machthabenden zu treten. Und es soll sich Initiative angeeignet werden, anstatt lediglich dem Tagesgeschäft der politischen Agenda gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bzw. deren Rahmung durch Regierungspolitik hinterher zu eilen.
Zu dieser Sichtweise gelangen Anarchist*innen durch eine spezifische Kritik der Politik. Um zu begründen, weswegen Anarchist*innen zu dieser Haltung gelangen, ist der Begriff »Politik« zu definieren. Denn seine Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch ist sehr diffus. Weiterhin ist die Definition von »Politik« hochgradig umstritten – und damit selbst ein politischer Akt: Entsprechend der Weise, wie wir »Politik« erfassen, ergibt sich unser Umgang mit ihr. Darüber lohnt es sich, genauer nachzudenken, damit wir selbstbestimmt Inhalte und Positionen entwickeln können. Im konservativen Denken hat Politik vor allem die Aufgabe des Erhalts einer »guten« (d.h. beständigen) gesellschaftlichen Ordnung. Verkürzte staatssozialistische Ansätze sehen in der Politik lediglich das Ergebnis von ökonomischen Konstellationen. Das liberal-demokratische Denken erfasst die politische Sphäre in einem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft und nimmt an, dass verschiedene Prozesse zur Öffnung oder Schließung von Politik führen. Dagegen richtet sich die radikal-demokratische Tradition, in welcher der verfestigten Politik, »das Politische« gegenüber gestellt wird. Letzteres ist die prozesshafte Infragestellung von Herrschaftsordnungen durch selbstorganisierte Gruppen, etwa in den Platzbesetzungsbewegungen. Dagegen beziehe ich mich an dieser Stelle aus strategischen Gründen auf ein bestimmtes anarchistisches Verständnis, mit welchem Politik stets an das Regieren gekoppelt ist (»gouvernemental«). Politik ist dieser Definition nach immer mit Konflikt verbunden (»konfliktorientiert«), aber es wird bezweifelt, dass sie vor allem die Herstellung einer »guten Ordnung« (für alle) zum Ziel hat (»negativ-normativ«). Schließlich kann Politik auch so verstanden werden, dass es in ihr immer um oft blutige und intrigante Machtkämpfe und Machterhalt zwischen meist äußerst ungleichen Akteur*innen geht (»ultra-realistisch«). Selbstverständlich ist Politik nicht nur dies. In ihr geht es auch um Verhandlungen, manchmal erscheint sie unumgänglich, vor allem, wenn wir den Anspruch erheben, die Gesellschaftsform insgesamt zu verändern – und damit auch die Gestalt dessen, was Politik in einer bestimmten Herrschaftsordnung ist. Aber wenn wir diese Definition annehmen (und es gibt zahlreiche Menschen weltweit und in der Geschichte, denen Politik so erscheint), lässt sich von einem emanzipatorischen Standpunkt zurecht in Frage stellen, ob sich das Politikmachen lohnt. Wie gesagt geht es hierbei nicht um vermeintlich richtige oder falsche Begriffe, sondern um die lohnenswerte Hinterfragung und Verschiebung unserer Sichtweise.
Anarchist*innen haben also eine größere Skepsis gegenüber dem Politikmachen, als sie in anderen sozialistischen Strömungen vorhanden ist, welche dieser Ansicht nach unterschätzen, wie stark Staatlichkeit politisches Handeln vereinnahmt und monopolisiert. Weiterhin sind es aber auch Aktive in anderen Strömungen sozialer Bewegungen, welche ihr politisches Handeln dem Staat zuordnen (indem sie bspw. ganz bestimmte Gesetze vorschlagen und als unrealistisch erachtete Anliegen zurückstellen). Zum Beispiel neigen Mitglieder von Parteien dazu, die Autonomie einer sozialen Bewegung zu beschränken, um sie ihren eigenen Interessen zuzuführen. Ähnliches gilt für NGOs, welche durch neue Regierungstechniken (»neoliberale Gouvernementalität«) teilweise eine sehr staatstragende Funktion übernehmen. Doch auch Menschen, die sich wie bei Fridays for Future neu politisieren, glauben häufig daran, dass »die Politik« doch angesichts eindeutiger Erkenntnisse endlich handeln sollte und appellieren daher an sie. Linksradikale Gruppen gehen dagegen nicht davon aus, dass sie mit ihrem Handeln Regierungspolitik beeinflussen können, bleiben aber häufig dennoch an Rudimenten des Schemas von politischer Revolution orientiert. Doch das anarchistische Denken funktioniert anders, als einen Widerspruch zwischen »Reform« und »Revolution« zu konstatieren, welcher durch »radikale Realpolitik« zu überbrücken wäre – und sei es im Verständnis von Rosa Luxemburg. Wie bereits angedeutet, wird dagegen angestrebt, diesen Gegensatz mit dem Verständnis von sozialer Revolution zu überwinden. Damit wird das Terrain der durch die herrschende Ordnung definierten Politik bewusst verlassen. Politik muss deswegen aber nicht als »schlecht« oder »böse« angesehen werden. Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass wir in vielen anderen Sphären mindestens ebenso wirkmächtig handeln können, wenn wir die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Diese anderen Sphären, in denen in einer Doppelbewegung von Herrschaftsverhältnissen weg und nach Autonomie gestrebt wird, findet sich in vielen Aspekten, welche uns aus linken Szenen und Lebenswelten bekannt sind. Sie haben ihre Bezugspunkte in den Individuen (Die Selbstbestimmung und -entfaltung aller Einzelnen), im Sozialen (z.B. Nachbarschaftsversammlungen), in »der« Gesellschaft (z.B. Gegenmacht von unten aufbauen), in der Ökonomie (autonome Gewerkschaften) und der Gemeinschaft (Kommunen und Alternativszenen). Darüber hinaus werden Kunst, Ethik und Utopie als Gegenpole zur politischen Sphäre verstanden.
Dies führt Anarchist*innen jedoch nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen Haltung, sondern zu einem gelebten Widerspruch mit dem politischen Feld, welches sich unter Bedingungen der bestehenden Herrschaftsordnung als staatliches Herrschaftsverhältnis konstituiert. Auch die Anrufung der sogenannten »Zivilgesellschaft« und die Bezugnahme auf sie gilt es demnach zu hinterfragen, weil sie – mit Gramsci – der dem Staat vorgelagerte Raum ist. Dies schließt keineswegs aus, mit verschiedenen Personen zusammen zu arbeiten, welche keine dezidiert »linken« Überzeugungen und Hintergründe haben. Mehr Menschen als wir glauben durchschauen die »politische Illusion«, also die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, seine Energie und Zeit mit Tätigkeiten auf dem eingehegten politischen Terrain zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch danach streben können, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Wenn sich die Bewegungslinke stärker an ihrem (potenziellen) libertär-sozialistischen Flügel ausrichten würde, müsste sie sich konsequenter danach orientieren, was sie wirklich verändern und vorleben, wo sie hin will. Ein Ansatzpunkt dafür ist, nicht in die »Falle der Politik« zu tappen – wie sie Emma Goldman nannte –, sondern die eigenen Perspektiven, Handlungsansätze und Gruppen zu stärken und zu vermitteln. Beispiele dafür sind bekannte Projekte wie die Autonomiebestrebungen in Rojava und Chiapas, ebenso wie die historische Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die autonome Bewegung der 70er/80er Jahre oder munizipalistische/kommunalistische Bewegungen heute. Dabei geht es nicht darum, z.B. diese Bewegungen zu verklären oder als besser darzustellen, sondern die Unterschiede in den Politikverständnissen herauszuarbeiten, um sie weiter zu diskutieren. Wie immer gibt es dazu verschiedene Positionen und gilt es die Auseinandersetzungen und Debatten darum weiterzuführen.
Autor: Jonathan Eibisch hat zur politischen Theorie des Anarchismus promoviert, gibt Veranstaltungen in selbstorganisierten Kontexten und bloggt auf paradox-a.de.