Ein historisches Unterfangen.


Die EZLN in Europa

Im letzten Jahr sind Delegationen der Zapatistas durch Europa gereist und haben hiesige Kämpfe und Kämpfende besucht und kennengelernt. Von den lehrreichen Prozessen im Vorfeld, den wertschätzenden Begegnungen währenddessen und den Einsichten im Nachhinein berichtet die InterSol AG der iL, die mit an der Umsetzung der Reise beteiligt war.

Die Idee

Es scheint eine Ewigkeit her, und doch sind seitdem nicht einmal anderthalb Jahre vergangen. Im Oktober 2020 kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) an, im darauf folgenden Jahr den europäischen Kontinent bereisen und die hiesigen Kämpfe und Kämpfenden kennenlernen zu wollen. In einem tatsächlich internationalistischen Akt wollten sie Perspektiven für den eigenen Kampf suchen und auftun. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Ein halbes Jahrtausend zuvor wurde, der Geschichtsschreibung der Herrschenden zufolge, das uns heute bekannte Mexiko erobert. Das Jahr 1521 markiert Kolonialisierung und Tod, aber auch Widerstand und Überleben. Diesem Ereignis sollte nun antagonistisch ein Zeichen für das Leben entgegen gesetzt werden, indem einige hundert indigene Delegierte aus Chiapas entsandt werden sollten, um ein Europa von links unten kennen zu lernen. Ihr Vorhaben betitelten die Zapatistas daher auch als »Reise für das Leben«. In dem Aufruf wurden unterstützende Gruppen gesucht, die verbindlich einladen, organisieren und und die Reise begleiten sollten. Die Zapatistas trafen keine Vorauswahl, wer einladen durfte, die Vorgaben über die Inhalte für die Zusammentreffen waren sehr vage, erst recht die Dauer und die technischen Details der Reise. Die EZLN hat sich selbst eingeladen, und die europäische Linke sollte sich dafür eigenständig organisieren. So ein Projekt ist ungewöhnlich und wurde zur Herausforderung, wie sich zeigen wird.

Zunächst sagten immer mehr linke und emanzipatorische Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen überall in Europa zu. Lokale, regionale sowie überregionale Koordinationskreise entstanden daraufhin und arbeiteten über Monate mehr oder wenig regelmäßig für die Vorbereitung des Zwischenstopps in der eigenen Region. Darüber hinaus gab es eine bundesweite Vernetzung, die sich regelmäßig überwiegend online traf. Das Resultat war ein mitunter sehr chaotischer Ablauf in den unterschiedlichen lokalen Vorbereitungskreisen. Dies war die Folge von nicht getroffenen Absprachen, wie Kommunikation und Entscheidungsfindung in der Zeit des Aufenthaltes der Zapatisten stattfinden solle, aber sicherlich auch ein Ergebnis davon, sich eher unfreiwillig in dieser Akteur*innenzusammensetzung gefunden zu haben. In dieser Gemengelage übernahmen unterschiedliche lokale und bundesweite Strukturen Aufgaben und Verantwortung, darunter auch die interventionistische Linke.

Das große Warten

Die Vorbereitung zog sich Mitte 2021 in die Länge. Der mexikanische Staat verweigerte im Zuge einer rassistischen Logik gegenüber seiner eigenen indigenen Bevölkerung die Ausreisedokumente, und Frankreich bediente sich der Pandemie, um eine Einreise zu verhindern. Über Wochen war nicht klar, wann die Reise mit wie vielen Compañer@s beginnen kann.

Ursprünglich war geplant, dass die Zapatistas am 13. August eine europaweite Demonstration in der spanischen Hauptstadt abhalten würden. An diesem Tag jährte sich ein Massaker im heutigen Mexiko-Stadt zum 500ten Mal. Dieser Termin war symbolträchtig und steht für den oben genannten Kolonialismus und den Widerstand dagegen. Statt der kompletten Delegation fand sich die siebenköpfige zapatistische Vorhut in Madrid ein, die Monate zuvor in einem Segelmanöver, das die Geschichte gegen den Strich kämmt, den Atlantik von Amerika nach Europa überquerte. Aber nicht nur wegen der reduzierten Delegation wurde der 13. August in Madrid nicht zu einem Ereignis. Zwar waren aus ganz Europa Leute angereist, um sie zu empfangen, es gab aber faktisch keine Mobilisierung, weder lokal noch in den einzelnen Nationalstaaten. Das mag an unzureichenden Vorbereitungen und Absprachen, womöglich auch an zu geringen personellen und strukturellen Kapazitäten gelegen haben, eine Begrenzung wurde darin trotzdem deutlich.

Die persönlichen Einsätze waren auf unseren beiden Seiten sehr ungleich verteilt: Denn je länger sich die Vorbereitung hinzog, desto länger waren die zapatistischen Compañer@s, die Genoss*innen, von ihren Familien wegen der Quarantäne getrennt und verließen darüber hinaus erstmals in ihrer persönlichen und Organisationsgeschichte massenhaft die Illegalität, um Reisepässe zu erhalten. Im wahren Sinne des Wortes setzten sie inmitten eines autoritären und aufstandsbekämpfenden Staates ihr Leben aufs Spiel, um hierher zu kommen. Hier offenbarte sich, wie ernsthaft der Kampf seitens der Compañer@s geführt wird. Wir hingegen haben nicht alles für uns Mögliche in Bewegung gesetzt, um die blockierte Einreise der Compas zu erzwingen, hatten oftmals allein das Problem, den eingereichten Urlaub für unsere Lohntätigkeit das x-te Mal zu verschieben. Haben ohnmächtig gewartet. Schon hier beginnt die Reise grundsätzliche Fragen aufzureißen: Wie groß ist unsere Ernsthaftigkeit, und welche grundsätzlichen Möglichkeiten nehmen wir für uns wahr, um aus einem kapitalistischen Leben und seinem Alltag auszubrechen, das alle unsere gesellschaftlichen Räume bestimmt und unsere Identitäten formt und durchdringt? Wir müssen festhalten, dass wir über kein eigenes Territorium verfügen, von dem aus wir ein anderes Leben organisieren können. Wir müssen uns daher der Frage stellen, welche Organisierungsform wir uns dann geben müssen, damit dieser Ausbruch möglicher wird.

Ankunft in Wien

In zwei Flügen landete Mitte September 2021 die zapatistische Delegation schließlich in Wien. Die Vorbereitungszeit wurde auf einmal sehr kurz. Quasi Hals über Kopf fuhren europäische Aktivist*innen an den Ankunftsort um zu unterstützen, darunter auch Genoss*innen der iL. Erst von da an war auch klar, wann und wie die ca. 180 Compañer@s durch Europa reisen würden, das sie in drei Zonen unterteilten, die nacheinander bereist werden würden. Deutschland, das zur Zone 1 gehörte, sollte direkt von Wien aus angesteuert werden, was zum einen Freude bereitete, zum anderen jedoch auch zu einem »Experiment« werden sollte, wie es Subcomandante Insurgente Moisés, der die Delegation begleitete, Monate später nennen würde: In der ersten Zone wurden Erfahrungen, Wissen und Fehler gesammelt, die später den beiden anderen Zonen zugute kommen würden.

Auch wenn es Versuche der Vorbereitung im Vorfeld gab, sind die ganz praktischen Dinge von Unterbringung, Versorgung, Begleitung, Übersetzung und Programm und die dafür zur Verfügung stehenden Kapazitäten, Sache des konkreten Zeitraumes und Zeitpunktes. Nun haben wir (im weiteren Sinne) tatsächlich versucht, alles gemäß unserer Möglichkeiten auch möglich zu machen. Bei allen Makeln und Defiziten der deutschen Linken, wir sind eine Logistikmaschine. Wir haben in dieser spontanen Situation gemeinsam gelernt, wer auch kurzfristig zuverlässig zusammenarbeiten kann und wer sich auf wen verlassen konnte. Wir haben Verbindungen zu Menschen geknüpft und aufeinander vertraut. Auch überregional sind Menschen aufeinander gestoßen, die konstruktiv und solidarisch trotz politischer Differenzen schließlich im festen Netzwerk zusammen arbeiten konnten. Wir (im engeren Sinne) haben darin versucht, als große Organisierungsstruktur Verantwortung zu übernehmen, und haben uns sowohl in die lokalen Prozesse mit unseren Ortsgruppen eingebracht als auch überregionale, koordinierende Aufgaben übernommen. Wir sind dabei auch auf Misstrauen gestoßen: Misstrauen, von dem wir dachten, dass es sich im Zuge gemeinsamer gemachter Erfahrungen aufheben würde. Dem ist nicht so. Dahinter mögen sich manchmal persönliche Befindlichkeiten verstecken, an anderer Stelle ein unzureichender Austausch untereinander, oder auch die Übernahme von gehörtem Polit-Tratsch ohne selbst eigene Erfahrungswerte zu haben, und sicherlich haben auch unsere unterschiedlichen politischen Modi und Überzeugungen und Interpretationen darin eine Rolle gespielt. Wir mussten feststellen, dass Verantwortungsübernahme oftmals mit Machtübernahme gleichgesetzt wird.

Die Reise

Nach Wien teilten sich die Genoss*innen auf und besuchten in kleinen Gruppen zu je meist fünf Zapatistas die drei Zonen Europas. Auch in vielen deutschen Städten waren sie für einige Tage zu Gast. Wichtig war ihnen stets, fünf Themen mitzuteilen, die ihre Geschichte wiedergeben: die Zeit vor dem Aufstand auf den Fincas; die Zeit der klandestinen Vorbereitung; ihr eigenes Regierungssystem; die räumlich autonomen Organisationsebenen sowie die gegenwärtige Zeit des Widerstands und des Rebellischseins. Aber sie wollten auch die Wirkungsstätten unserer Kämpfe sehen und reden. Häufig wurde das Programm zu voll gepackt. Es wurde nicht ausgewählt oder verantwortlich strukturiert. Leitend war nicht die Frage, wie können wir unseren Gästen unsere Gesellschaft, unsere Widersprüche, unsere Form, Politik zu denken und zu machen, verständlich machen, und darin auch die Spannbreiten innerhalb der radikalen Linken, die Kontroversen und Konflikte verantwortlich vermitteln, ohne sie zu bewerten. Sich selbst noch mal erinnern, worauf bestimmte Fragen, Auseinandersetzungen und Haltungen der radikalen Linken in Deutschland zurück gehen, und diese in einer Art und Weise transportieren und erklären, dass unsere Gäste tatsächlich in die Lage versetzt werden, uns zu sehen. Was faktisch passierte, war eine Aneinanderreihung von Terminen mit mehr oder minder großer Aussagekraft und viel Wiederholung. Mit Disziplin und Hingabe standen die Zapatistas es durch. Eine tiefe Auseinandersetzung war dabei in aller Regel nicht möglich. Weder in die eine, noch in die andere Richtung. Im Nachhinein betrachtet hat wahrscheinlich die Summe aller Begegnungen doch dazu geführt, das Potpourri der Linken als Puzzle zusammensetzen zu können. Versucht wurde zwar, und das schon im Vorbereitungsprozess, alle politische Spektren zu berücksichtigen, doch war am Ende wohl mehrheitlich nur das anarchistisch/libertäre Spektrum zugegen. Ganze andere Spektren waren weitgehend abwesend.

Was bleibt?

Am 6. Dezember reisten die Campañer@s wieder nach Hause. Die EZLN hat es geschafft, eine lang klaffende Leerstelle aufzureißßen: Internationalismus, sich und den eigenen Kampf global und im Verhältnis zu anderen zu denken und zu begreifen.

Ihre Reise war in gewisser Weise historisch, weil bis hierhin keine revolutionäre Befreiungsbewegung massenhaft ihre eigenen Leute in die Welt und nach Europa geschickt hatte: dies mit dem Ziel, die Bedingungen der Kämpfe und der Kämpfenden hierzulande kennenzulernen. Zeitgleich sind wir als die Linke des globalen Nordens noch nicht auf auf so eine Idee gekommen, die Türen zur Öffnung unseres Horizonts in den Kämpfen anderer zu suchen. Auf der Delegationsreise waren keine studierten Intellektuellen unterwegs, sondern wir sprachen mit der »Basis« der Bewegung, mit denjenigen, die tagtäglich die Revolution oder, um ihre Worte zu benutzen, die Autonomie umsetzen, verteidigen, leben, also: mit ganz »normalen« Menschen und nicht, wie in früheren Jahren häufig, mit »Kader*innen« der Befreiungsbewegungen. Und trotzdem mussten wir feststellen, dass jede Person der Reisedelegation über ihren Kampf, ihre Strategie, ihre Fragen und Anliegen souveräner referieren konnte als die allermeisten radikalen Linken in Deutschland über ihre Sache in der Lage wären zu sprechen. Auch das von der EZLN vorgenommene Framing lädt uns zum Nachdenken ein. Während wir es gewohnt sind, uns in -Ismen oder Nicht-Ismen in parolenhafter Sprache zu verständigen, ist ihr zentraler Antagonismus jener, dem Projekt des Todes ein Projekt des Lebens entgegenzustellen.

Die sieben orgranisationsinternen Prinzipien der EZLN:

• Einheit (kein Wettbewerb untereinander, sondern Zusammenhalt)

• Kritik & Selbstkritik (auf konstruktive Art und Weise, nicht die Person, die Handlung wird kritisiert)

• Genoss*innenschaft (keine freundschaftliche Bande zu einigen Wenigen, sondern gleicher genoss*innenschaftlicher Umgang mit allen)

• Disziplin (die eigene Aufgaben bis zum Ende erfüllen und keine Ausreden fürs Nicht-Erfüllen finden)

• Sicherheit (nicht mit Unbeteiligten über interne Prozesse reden; nicht mehr reden als notwendig ist; lieber öfter Stillschweigen bewahren)

• Information (sich permanent informieren, was wo wie passiert und was davon wichtig für die Organisation ist)

• Planung (bevor etwas ausgeführt wird, gewissentlich sich darauf vorbereiten und alle Schritte durchsprechen)

Die Reise war aber auch auf anderer Ebene von immenser symbolischer Bedeutung. Sie hat in Zeiten von Corona bewiesen, dass auch inmitten einer Pandemie das Unmögliche möglich wird, dass es einen Weg geben kann, der für die Öffnung des Politischen streitet, der ein neues Fenster aufmacht, der massenhaft neue Konstellationen und neue Erfahrungen schafft. Auf den Punkt gebracht: An die 180 Personen, allesamt bäuerlich-indigen, bewegten sich über drei Monate über alle europäischen Grenzen hinweg, hielten mehrere tausend Veranstaltungen ab und trafen sicherlich mehr als 10.000 Personen. Das heißt, dass mit Organisierung und Disziplin, mit persönlich-gemeinsamer Verantwortungsübernahme, mit adäquaten gesundheitlichen Sicherheitsmaßnahmen - und sicherlich auch mit der nötigen Portion an Dusel und Glück -, das möglich wurde, wovon im Vorfeld viele abrieten. Die Idee des Unmöglichen dazu hatten die Zapatistas, dass sie aber erfolgreich umgesetzt wurde, das ist der gemeinsamen Arbeit zu verdanken. In anderen Worten: Wenn wir nur anders wollten, wir könnten auch Unmögliches erreichen. Wir müssten vielleicht nur eines: das Unmögliche wieder begehrenswert machen.

Die Reise hat uns über unsere politischen Differenzen hinaus in einem temporären, gemeinsamen Raum zusammengebracht. Sie hat zu neuen Erfahrungen geführt und neue Konstellationen möglich gemacht. An anderen Stellen wurden durch die Reise politische und persönliche Konflikte vertieft. Auch die generellen, aktuellen, destruktiven Konfliktlinien und Dynamiken, die es in der deutschen Linken gibt, haben sich durch den Prozess der Vorbereitung gezogen und ziehen sich weiterhin durch. Indem zwischen den Akteur*innen, die die Reise hierzulande vorbereitet haben, zu wenig politisch miteinander gesprochen wurde, fand zeitgleich eine Entpolitisierung der Dimension der Reise statt. Es besteht die Gefahr, dass die neuen Erfahrungen und Konstellationen wieder verloren gehen. Am Ende wird es vielleicht nur eine Auswechslung von Personen gegeben haben, aber keine umfassende Weiterführung politischer und strategischer Debatten.

Viele werden sich wieder beteiligen, wenn nächste Etappen der »Reise für das Leben« anstehen oder wenn es andere Vorschläge von zapatistischer Seite geben wird. Ob wir jedoch unabhängig etwas Eigenes finden werden (›Eigenes‹ im Sinne einer Analyse, die wir alle teilen; im Sinne einer Praxis, die wir alle ausleben; im Sinne eines utopischen Fluchtpunktes, auf den wir alle zusteuern), ist aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung ungewiss. Wir haben also ein Puzzle vor uns liegen. Werden wir in der Lage sein, die einzelnen Teile zusammenzufügen, passen sie überhaupt zusammen? Keineswegs überraschte uns daher die schlichte Feststellung schon zu Beginn seitens der Zapatistas: »Danach wird jede*r ihren*seinen Weg fortsetzen oder nicht«.

Wir hatten um ein eigenes Treffen mit den Comp@as gebeten und uns gründlich darauf vorbereitet. Für uns als interventionistische Linke war das inhaltlich Wichtigste im Zuge des Austauschs nicht, welche konkreten Entscheidungen die EZLN im Laufe ihrer Geschichte und unter welchen spezifischen Verhältnissen getroffen hat. Entscheidend und erhellend fanden wir vielmehr die Rückschlüsse und Erfahrungen, die auf einer Metaebene zusammengefasst und formuliert worden sind. Allen voran ihre, wir nennen sie hier einfach mal so, sieben organisationsinternen Prinzipien (siehe Kasten oben) sowie die Notwendigkeit, eine eigene Analyse der Verhältnisse vorzunehmen, und daraus eigene Instrumente und Mittel des Kampfes zu entwickeln. Ein Importieren der zapatistischen Theorie und Praxis und auch der Sprache erscheint uns als hinderlich, als es uns-zu-einfach-machend - denn nur, weil das Verhältnis ein umgedrehtes ist (die Peripherie/der Süden/... gibt dem Zentrum/dem Norden/... etwas vor), ist das nicht gleichbedeutend mit der Richtigkeit der Handlung.

Autor*innen: AG InterSol der Interventionistischen Linken

Bild: Ein Poster, von aeneastudio.