von G20 Gipfel tags Ereignis Gipfelproteste Militanz Datum Sep 2017
zuDie Kritik am Riot vom Freitagabend in Hamburg erstreckt sich bis weit in die (radikale) Linke hinein. Thomas Seibert nimmt den Riot und seine Kritik zum Anlass, um über die Positionen der »Mehrheitslinken« und der »Minderheitslinken« nachzudenken – sowie darüber, welche Grenzen beide haben und wie sie den Riot für eine produktive Selbstkritik nutzen könnten.
Der folgende Text ist die Dokumentation eines Vortrages von Thomas Seibert auf der Veranstaltung »Was war da los in Hamburg? Riot. Theorie und Praxis der kollektiven Aktion«, die am 14.09.2017 in Frankfurt stattgefunden hat. Neben Thomas haben dort auch Karl-Heinz Dellwo und Achim Szepanski gesprochen. Die Beiträge aller drei Vortragenden lassen sich auf dem NON-Blog nachlesen bzw. bei Soundcloud nachhören.
Die mehrheitslinke Kritik am Freitagabend
Der Freitagabend in Hamburg wurde nicht nur von den politischen Eliten und ihrem Medienpersonal kritisiert, sondern auch von der Mehrheitslinken, die in diesem Fall von ihren parlamentarischen Parteien bis zu den Strömungen der radikalen Linken reicht, die sich auf Mehrheitspositionen ausrichten. Das Recht der mehrheitslinken Kritik ist schon im Namen angezeigt: Sie sammelt die Mehrheit der Linken, und sie sammelt die Linken, die sich strategisch und programmatisch auf die Mehrheit der Gesellschaft beziehen. Und tatsächlich sollte die Linke möglichst groß und möglichst stark sein, auch zahlenmäßig, und sie sollte sich strategisch und programmatisch auf die Mehrheit der Gesellschaft beziehen, weil die Veränderung dieser Gesellschaft nur dann die Selbstveränderung der Gesellschaft sein wird. Wozu eine Linke fähig ist, die sich gegen die Gesellschaft stellt und sich gegen die Gesellschaft durchsetzen will, davon haben wir im 20. Jahrhundert wirklich und ein für alle Mal genug gesehen.
Dies gilt umso mehr, seit wir alle davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich eben nicht zuerst über Zwang reproduziert, sondern über Verhältnisse der Hegemonie, die immer auch solche des sittlichen bzw. gouvernementalen Zusammenhangs von Regierung der Gesellschaft und Selbstregierung der Einzelnen sind – alles in allem also wiederum Verhältnisse, in denen die Mehrheit, deshalb heißt sie so, den Ton angibt.
Dazu gehört und dem entspricht, dass Gesellschaftskritik stets immanente Kritik sein sollte, Kritik, die von innen ansetzt, die im Trend der gesellschaftlichen Entwicklung liegt – dort ansetzt, wo dieser Trend, wie gebrochen auch immer, von sich aus schon nach links weist. Andernfalls ist und bleibt Kritik »abstrakt«, und »abstrakt« ist das Schimpfwort, vor dem jeder und jede panisch auf der Flucht ist, das niemand auf sich sitzen lassen will: sei doch endlich mal »ganz konkret«, entwickele Deine Kritik immanent. All‘ das ist gegen die Freitagnacht und gegen den riot ins Feld geführt worden, und das zu Recht. Punkt.
Blinde Flecken
Und trotzdem. So richtig sie ist: auch die mehrheitslinke Position hat wie jede Position ihren blinden Fleck. Sie sieht eben nicht, was sie nicht sieht und sie sieht nicht, dass sie überhaupt etwas nicht sieht. Will man das Nichtgesehene der mehrheitslinken (und damit natürlich auch der mehrheitsgesellschaftlichen) Kritik sichtbar zu machen, muss man drastisch werden – auch das bringen Mehrheitsverhältnisse so mit sich. Ich zitiere deshalb, im dialektischen Gegenzug, den berüchtigsten Satz André Bretons, niedergeschrieben 1930, im Zweiten Manifest des Surrealismus:
»Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.« (André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus. In: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977: 56).
Dieser Satz bringt den Unterschied zum Ausdruck, um den es am Freitagabend gegangen ist und um den es in jedem riot geht: Es gibt die Reform, die Revolution und die Reformation der Gesellschaft, und sie zielen je auf ihre Weise auf die Veränderung der Gesellschaft zugunsten einer anderen Gesellschaft. Und es gibt die Revolte, die, radikal verstanden, immer Revolte gegen die Gesellschaft ist – nicht zugunsten einer anderen Gesellschaft, sondern gegen Gesellschaft überhaupt, auch gegen sich selbst als gesellschaftliches Subjekt. Die Revolte widersetzt sich der Gesellschaft, sofern sie überhaupt ein Zwangsverhältnis ist, und jede wirkliche wie jede mögliche Gesellschaft – Gesellschaft überhaupt – ist und wird ein Zwangsverhältnis sein.
Die Revolte als Sache einer Minderheitslinken
Die Revolte wird deshalb per definitionem immer Sache einer Minderheit sein, damit auch die Sache einer Minderheitslinken – so sehr, dass französische und griechische Anarchist*innen es vorziehen, sich gar nicht als Linke zu verstehen: »Deshalb würde ich im Extremfall«, schreibt Daniel Giraud, ein anderer Denker-Dichter des riots, »einen verzweifelten Faschisten einem zufriedenen Anarchisten vorziehen«. Wohlgemerkt: im Extremfall! (Daniel Giraud, Vorspiel zur Apokalypse. In: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd. 2, Berlin 1975: 242)
Die Revolte ist deshalb auch niemals konkret, sie stellt deshalb auch niemals eine pragmatisch begründete Forderung – sie will, wie Che Guevara richtig sah, das Unmögliche und ist so verstanden immer abstrakt – im eigentlichen Sinn des Wortes: vom lateinischen abstractus kommend, abgezogen, weggezogen, und von abstrahere, abziehen, wegziehen, entfernen, trennen. Wer revoltiert, der oder die zieht sich ab, zieht sich weg, der oder die entfernt und trennt sich von den anderen, von der Mehrheit wie von der Mehrheitslinken. Wer im radikalen Sinn des Begriffs wie der Sache revoltiert, vollzieht, was man gemeinhin »abstrakte Negation« nennt und in der Regel als solche auch ablehnt. Wer revoltiert, kommuniziert nicht mehr, redet nicht mehr mit, steigt aus der Gabe und Gegengabe von Argumenten aus und beugt sich nicht länger der »Einsicht in die Notwendigkeit« – und sei sie noch so gut begründet. Wer revoltiert, behauptet die Freiheit gerade in ihrem Gegensatz zu allem Notwendigen und zu jeder Einsicht ins Notwendige: er oder sie behauptet die Freiheit gerade als das Andere zum Notwendigen, als das, was jedes Ziel und jeden Zweck außer Kraft setzt und insofern Ziel und Zweck an sich selbst ist. Politisch aber, daran hängt hier alles, bleibt das trotzdem Kommunikation: die Revolte ist, gerade im Bruch der Kommunikation, ein kommunikativer Akt: sie kommuniziert das Nichtkommunizierbare.
(Un-)Mögliche Vermittlungen
Die minderheitslinke Revolte und ihre mehrheitslinke Kritik stehen zueinander im Verhältnis eines Widerspruchs, der nicht zu vermitteln ist. Gerade als solche fordern sie zu einer Dialektik heraus, in der das Dritte zu den beiden Gegensätzen nicht deren teigige Vermischung sein kann, sondern das Andere zu beiden, das Neue und Unvorhergesehene, in dem die ursprünglichen Gegensätze zugrundegehen (zurück in ihren Grund gehen). Weil das so ist, ist der riot auch nicht in dem kontrolliert entgrenzten zivilen Ungehorsam »aufzuheben«, in dem die radikalen Strömungen der Mehrheitslinken ihm gelegentlich sehr nah kommen können: jeder zivile Ungehorsam – deshalb heißt er so (lat. cives, die Bürger*innen) – bleibt trotz allem eine Artikulation der Mehrheitslinken und gehört damit zuletzt der Mehrheitsgesellschaft an. Nicht zufällig kann man diese Differenz an den Kleinwagen sichtbar machen, die am Freitagabend abgefackelt wurden – das Moment, das die Mehrheitslinken am meisten empört hat: Was aus mehrheitslinker Sicht zu recht eben nicht zu rechtfertigen ist, bleibt aus der Position der Revoltierenden schon deshalb geboten, weil Kleinwagen nichts als die Gratifikation bilden, die den Subalternen fürs Dazugehören zugesprochen wird: Sie stellen derart kein bloß kontingentes, sondern ein essenzielles Symptom der freiwilligen Knechtschaft dar, mit der die Revolte bricht.
Allerdings: Wenn es einen Fortschritt der Linken des 21. über die des 20. Jahrhunderts gibt, dann verdichtet er sich im Verhältnis der moderat-mehrheitsgesellschaftlichen und der radikal-minderheitsgesellschaftlichen Linken zueinander. Da, wo dieses Verhältnis trotz des ihm einbeschriebenen, nicht zu vermittelnden Widerspruchs zu einem beiderseits bejahten Verhältnis wird, gibt es keine letzte Kritik, die die Gegenseite letztlich zum Schweigen, d.h. auf Linie bringt. Stattdessen liegt der Sinn von Kritik und Gegenkritik in der Herausforderung jeder der beiden Seiten zur Selbstkritik. Das impliziert dann kein Geben und Nehmen beider Seiten, sondern wird ganz einseitig und insofern asymmetrisch sein.
Kritik und Selbstkritik
Im Fall des riots ist es so, dass der riot, auch wenn den Aufständischen das im Augenblick zu Recht ganz egal ist, die Mehrheitslinke über ihre Grenze und damit über ihre Unwahrheit aufklärt: eben die Linke zu sein, die sich durch sich selbst auf die Anerkennung durch die Mehrheit ausrichtet. Das ist dann zwar demokratisch, doch nur bedingt emanzipatorisch, weil an den Bestand selbst eines Mehrheitsverhältnisses gebunden, d.h. an die Unterdrückung der Minderheit, so klein und irrelevant sie auch sei. Es liegt an der Mehrheitslinken, diese Einsicht anzunehmen – und für sich selbst produktiv zu machen: zu verstehen, dass die Befreiung der Mehrheit, so legitim und weitreichend sie auch sein mag, nie die Befreiung aller sein wird. Die Mehrheitslinke verstünde dann, dass noch die befreiteste Gesellschaft ein Zwangsverhältnis sein wird, weil Gesellschaft als solche ein Zwangsverhältnis ist.
Natürlich geht es auch um eine Selbstkritik der Revolte. Sie liegt zunächst einmal darin, sich über sich selbst klar zu werden. Gelingt das, kann die Revolte ihren Unterschied zur bloßen Gewalt – und zur fundamentalistischen Gewalt verstehen. Es sind in Hamburg Dinge passiert, die bloße Gewalt waren: das Zusammenschlagen eines Betrunkenen durch zwei Militante, die in diesem Augenblick nichts anderes als Bullengewalt verübt haben: mit eben dem Genuss am Zuschlagen, den wir an vielen Bullen wahrnehmen. Ihren Unterschied zur fundamentalistischen Gewalt versteht die Revolte dann, wenn sie sich selbstkritisch vergegenwärtigt, dass sie zwar ein strategisches Moment aller Kämpfe bleiben wird, doch nie zu deren Strategie werden kann und deshalb stets die Sache eines Augenblicks bleiben muss – eines Augenblicks allerdings, der sich im gelingenden Fall nicht mehr vergisst. Versteht die Revolte, dass sie nie Strategie werden kann, versteht sie auch, dass strategisches Handeln von links immer mehrheitslinkes Handeln sein wird – und deshalb auch so angegangen werden muss.
Letzte Anmerkung: Der Sinn der Revolte ist nicht und niemals aufs konkrete Ansinnen der empirisch Revoltierenden zu reduzieren. Deshalb kann das, was im Schanzenviertel geschehen ist, nicht durch den Nachweis kleingeredet werden, dass manche der aktiv Beteiligten gar nicht auf der Höhe des Ereignisses waren. Was für ein Gemälde oder ein Gedicht gilt – nicht auf das verrechnet werden zu können, was die Malerin oder Dichterin »sagen wollen« – gilt auch für die militante Aktion: sofern sie Akt der Revolte, und nicht Taktik der Mehrheitslinken ist. Dem entspricht, dass die Aktion ihre Selbstkritik in sich trägt: im Unterschied zum Beispiel zwischen denen, die ihre Flachbildschirme ins Feuer warfen, und denen, die sie nach Hause geschleppt haben. Letztere bezogen den radikalsten Posten der Mehrheitslinken, erstere kommunizierten das Nichtkommunizierbare: das nie zu bestreitende Recht der Furie des Verschwindens.
Thomas Seibert ist Philosoph, Autor und politischer Aktivist. Er arbeitet als Menschenrechtsreferent bei medico international, ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg Stiftung und im Koordinierungskollektiv des Democracy in Europe Movement 2025 und seit Langem in der Interventionistischen Linken aktiv.
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