Revolutionäre Realpolitik in Chile


Wer sagt, dass es keine Revolution mehr gibt?

»In Chile sehen wir in Aktion die Parolen und Praktiken des feministischen Streiks im Entwurf der Massen als einem plurinationalen Generalstreik.« Die argentinische Aktivistin Verónica Gago gibt Einblick in die aktuellen Auseinandersetzungen in Chile und benennt feministische Politik als alltägliche Revolution.

Ich schreibe diese Worte im Angesicht eines Chiles, in dem ein spektakulärer Aufstand der Studierenden, der Schüler*innen, der Mapuche, ein popularer, ein feministischer Aufstand, das Land entflammt hat und in einer Woche die in unserer Region, seit seinen Anfängen 1973, beliebteste Bühne des Neoliberalismus auf den Kopf gestellt hat. Ich könnte auch an die jüngsten Proteste in Ecuador denken, an die in Haiti oder an die, die Puerto Rico vor einigen Monaten erzittern ließen, nur um auf dieser Seite der Landkarte zu bleiben. Was ich für diesen Austausch vorschlage, ist, den aktuellen Zyklus als eine Wiederbelebung des politischen Antagonismus seit der Feministischen Revolution zu charakterisieren.
Immer wieder ist das Misstrauen gegenüber der Verwendung dieses Wortes - Revolution - ein Symptom für seine verengte Verwendung auf bestimmte historische Episoden und bestätigt ein Misstrauen gegenüber der Gegenwart, das darin besteht, darauf zu beharren, dass die Gegenwart einem bestimmten historischen Inhalt von Revolution nicht mehr gerecht werden könnte.
Sich in den stattfindenden Revolten und in der Dynamik des politischen Prozesses des transnationalen feministischen Streiks der letzten Jahre zu verorten (in mehr als fünfzig Ländern, die nicht auf die westliche Geographie beschränkt sind) erfordert einen Realismus für diesen Begriff. Die feministische Revolution dieser Zeit kommt, um die Verkündung des Endes der Revolution in Frage zu stellen, die mit reinem Glauben an die Niederlage damit endet, die existierenden konkreten Dynamiken von Ungehorsam, Revolte und radikalem Wandel zu befrieden und zu diskreditieren.

Von welcher Revolution sprechen wir?

Die Revolution der Körper, in den Straßen, in den Betten und in den Haushalten setzt und entwirft die Reichweite, die die Parole »Wir wollen Alles verändern!« ausdrückt. Das Begehren nach Revolution, gelebt aus dem Realismus heraus, der in der Erschütterung der sozialen Beziehungen liegt, die durch Formen des Infragestellens und des Ungehorsams alle Bereiche verändert haben, bekräftigt, dass die Zeit der Revolution jetzt ist (und kein entferntes Endziel).
Lasst uns sehen was in Chile passiert ist: Wir sehen in der Tat die Slogans und Praktiken des feministischen Streiks als Entwurf der Massen eines plurinationalen Generalstreiks. Es handelt sich dabei um eine Ansammlung von Erfahrungen, die es geschafft hat, die Struktur der Kämpfe, ihre Organisationsweisen, ihre politischen Formeln, ihre historischen Bündnisse zu verändern. Dies drückt sich in den Parolen an den Wänden aus. Zwei Beispiele:

  • »Sie schulden uns ein Leben«: Die Synthese der Parole besagt, die Schulden umzudrehen, zu fragen: Wer schuldet Wem eigentlich Was?; Gesprayt auf die Banken der Chicago Boys in Chile, dem Land mit der höchsten Verschuldungsrate pro Kopf in der Region. Angesichts des Anstiegs der Lebenshaltungskosten, d.h. der Wertextraktion aus jedem Moment der sozialen Reproduktion, wird mit der Praxis-Parole #EvasiónMasiva/Massenschwarzfahren ein finanzieller Ungehorsam umgesetzt.
  • Zweites Beispiel einer Graffiti-Synthese: »Paco/Bulle, Faschist, deine Tochter ist eine Feministin«, weist auf die tiefe patriarchale Destabilisierung hin, auf die der heutige Faschismus reagiert, auf seine filigrane, zugleich mikro- politische und strukturelle Destabilisierung.

In dieser offenen Sequenz - die sich heute in Chile als bedeutende Szene zeigt - können wir Rosa Luxemburgs Konzept der revolutionären Realpolitik ins Spiel bringen. Beide Ebenen werden nicht als Gegensätze erlebt: Es gibt nicht Reform oder Revolution als Koordinaten, die die Praxis trennen. Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Zeitlichkeiten, die nicht in ihrer Trennung voneinander funktionieren: spezifische Klagen der alltäglichen Missstände und eine Parole, die schreit: »Wir wollen Alles«.
Ich möchte diese doppelte Zeitlichkeit betonen, denn wenn sie gleichzeitig und nicht sequentiell- fortschreitend ist, erlaubt sie eine radikale Kritik am neoliberalen Kapitalismus und eine Neudefinition der Totalität. Denn es geht um eine konkrete und energische Ablehnung der vielfältigen Enteignungen und der neuen Formen von Ausbeutung, mit denen das Kapital in unserem Leben vorrückt und dabei den Kampf an jeder Front, an der heute eins gegen eins gekämpft wird, führt (von der Staatsverschuldung bis zur Prekarisierung; vom Neo-Extraktivismus und seinen »Opferzonen« bis zur Militarisierung, von der Kriminalisierung der Grenzen bis zur Produktion von »internen Feinden«).

Wenn die feministische Bewegung zu einem Massenfeminismus wird, wie es in den letzten Jahren geschehen ist, ist dies eine Antwort auf die philanthropischen und paternalistischen Modi, mit denen die Prekarität korrigiert werden soll, während gleichzeitig konservative und reaktionäre Formen der Subjektivierung mit Hilfe von Angst aufgezwungen werden.
Revolutionäre Realpolitik ist eine Form, tägliche Transformationen mit dem Horizont radikaler Veränderungen zu verbinden, in einer Bewegung im Hier und Jetzt, in einer Bewegung der gegenseitigen Ergänzung, in einer Politik von unten. So verschiebt sich die Teleologie des »Endziels«, nicht weil sie aufhört zu existieren oder geschwächt ist, sondern weil sie in eine andere zeitliche Beziehung zur Alltagspolitik tritt und jede konkrete und punktuelle Handlung mit revolutionärer Dynamik durchdringt. Die Opposition wird so zur Komplementarität im Sinne der Radikalisierung einer konkreten Politik, die der Feminismus auf die Straße, in die Betten und in die Haushalte bringt.
Aber noch mehr: Sie schafft eine strategische Zeitlichkeit, die der aktuelle zeitliche Einsatz der Bewegung ist. Sie ermöglicht es in den bestehenden Widersprüchen zu arbeiten, ohne auf das Erscheinen von absolut befreiten Subjekten oder auf ideale Bedingungen für die Kämpfe zu warten, noch vertraut es auf einen einzigen Raum, der die soziale Transformation totalisiert. In diesem Sinne appelliert sie an die Kraft des Bruchs in jeder Aktion und beschränkt den Bruch nicht auf einen spektakulären letzten Moment einer streng evolutionären Akkumulation. Dies impliziert eine weitere Stärke des Begriffs des Feminismus als alltäglicher Revolution, weil er bestreitet, dass sich die Ausrichtung jeder Krise, ausgehend von konkreter Politik determiniert und uns damit einen wertvollen Hinweis für feministische Politik gibt. Eine Politik, die nicht unter einem lebensnotwendigen Pragmatismus stehen darf, sondern eine Politik die begierig ist alles zu revolutionieren und deshalb in der Lage ist den Realismus neu zu erfinden. Eine revolutionäre Realpolitik.

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text erschien im Original bei CTXT - Revista Contexto und wurde von uns und nicht professionell übersetzt. Wir bitten daher um Nachsicht bezüglich sprachlicher Feinheiten.

Autorin: Verónica Gago ist Argentinierin, Aktivistin und Intellektuelle in den feministischen Kämpfen vor Ort. Für unseren Blog sprachen wir bereits mit ihr über die »Ni Una Menos«-Bewegung in Lateinamerika.

Bild: Großdemonstration auf dem Plaza Banqeudano, Santiago de Chile, im Oktober 2019, von Hugo Morales.