von Systemkrise Corona!? tags Utopien Ereignis Subjektivität Datum Mar 2020
zuEine Berliner Genossin hat sich dem Debattenblog anvertraut und versucht, ihre Gedanken in Zeiten von #corona zu sortieren. Was war, was ist, was bleibt? Ein subjektiver, alltagsnaher Blick auf die aktuellen Umstände.
Lieber Debattenblog,
ich benutze dich heute wie mein Tagebuch, denn mein Kopf schwirrt von den ganzen Veränderungen in meinem Leben. Und die Debatte zu den Auswirkungen von Corona, die an unterschiedlichen Stellen geführt wird finde ich sehr spannend, doch mir fehlt eine subjektive Perspektive und das sich selbst als auch als Objekt des Corona-Regimes zu verstehen.
Durch Corona liegen die Strukturen der Gesellschaft auf selten klare Weise dar. Die Auswirkungen von Armut, Wohnungslosigkeit, Rassismus und Patriarchat sind ganz leicht zu erkennen.
Und auch meine Privilegien, als Angehörige der Mittelschicht mit nettem WG-Zimmer und Festanstellung sind ziemlich eindeutig.
In dieser Offenkundigkeit der Krise greift der Sozialstaat stärker durch und einige neoliberale Mythen werden enttarnt und zurück gedreht. Vielleicht gibt es sogar die Möglichkeit einige dieser möglichen Einsichten über die Zeit von Corona hinaus zu retten. Wir werden sehen. Dabei liegt es auch an uns. Und dann gibt es ja auch noch die Wirtschaftskrise…
Was mich momentan allerdings noch beschäftigt, ist wie Corona unser Denken verändert. Ich glaube viele Denkmuster, die jetzt adäquat scheinen und vielleicht sind werden wir über die paar kommenden Monate trainieren und ich hoffe sehr dass sie sich nicht in unseren Köpfen fest setzen.
In eigentlich jeder Krise werden Sündenböcke gesucht. Jens Spahn kann meinetwegen zurücktreten, weil er die Krankenhäuser ruiniert hat. Aber ich habe Angst, dass auch eine urbane, kosmopolitische und offene Lebensweise Sündenbock werden könnte.
Ich war die letzte Woche auf dem Land. Da hat sich fast nichts verändert. Man kann einfach raus gehen, die Betreuung von Kindern und Alten funktioniert halbwegs, Kneipen und Clubs gibt’s eh keine. Das Leben in der Stadt dagegen ist völlig anders: all das was es aus macht Veranstaltungen, Arbeit und Individualismus funktionieren nicht mehr.
Ich finde es entsteht eine Corona-Denkart. Man fängt an in der Logik eines Virus zu denken. Wie springt er von einer zur anderen Person über und wie muss ich mich verhalten um das zu verhindern. Ich denke den halben Tag darüber nach wie ich meinen Alltag so strukturiere, dass ich nichts übertragen oder einfangen kann.
Das Nachdenken über Hygiene schreibt sich in den Alltag ein. Es führt dazu anderen Menschen als möglichen Überträgern zu begegnen. Insbesondere solchen die Ärmer oder weniger »sauber« aussehen will man nicht zu nahe kommen. Und Sexualität abseits von monogamen Beziehungen scheint eh undenkbar.
Wir versuchen uns verantwortungsvoll gegenüber der Gesellschaft zu verhalten. Das ist einerseits solidarisch, bringt aber auch mit sich, dass Leute die sich anders verhalten schräg angeguckt werden. Wir verhalten uns gut für »die Gemeinschaft« - wenn Leute das nicht tun gefährden sie »die Gemeinschaft«. Das bringt soziale Repression mit sich. Weniger individualistisches Denken ist gut, doch die momentane Kehrseite ist repressive soziale Kontrolle. Ich will keine Oma sein die durch die Gardine lukt und bewertet was ihre Nachbarn tun und ich will auch nicht das meine Nachbarn mich bewerten ohne zu wissen was los ist. Ständig denkt man sich »Darf der das?« oder »Darf ich das?«. Irgendwie gewöhnen sich alle ziemlich schnell an autoritäres Denken.
Wir bilden kleine Kreise von Menschen, die wir sehen. Wir fragen uns »Wer gehört zu unserer Community und wer nicht«. Durch die Logik des Virus sind wir gezwungen Zäune um unsere Communities zu ziehen. Anarchist*innen mögen das Bezugsgruppen nennen, aber ich find das eigentlich kleinbürgerlich.
Hinzu kommt natürlich noch der Nationalismus. Es gibt eine Ausgangssperre die zu recht Menschen schützen soll, aber gleichzeitig werden Heime für Geflüchtete abgeriegelt, weil eine Person Corona hat, worauf sich vermutlich alle anstecken und die Versorgung beschissen ist. Das ist auch aus medizinischer Sicht Wahnsinn, aber weil die Menschen im Heim nicht zur Nation gezählt werden, ist der naheliegende Schluss Ausschluss (bzw. Einschluss).
Ich habe Angst dass all das nach Corona bleibt. Falls es überhaupt ein so scharf zu trennendes »nach Corona« geben sollte. Schließlich wissen wir nicht wie lange der Virus gefährlich bleiben wird und wann der Corona-Krisenmodus wieder aufgehoben wird. Und wie wird er aufgehoben? Ein »Zurück auf Vorher« von heute auf morgen halte ich für unwahrscheinlich. Außerdem scheint es so als würden wir gleichzeitig in einer fetten Wirtschaftskrise stecken, die erneuter Anlass für autoritäres Regieren wäre.
Wir unterwerfen uns dem staatlichen medizinisch-hygienischen Kontrollapparat aus Einsicht in die Notwendigkeit, sowohl physisch als auch psychisch. Ich denke in der Analyse und der strategischen Diskussion der physischen Unterwerfung sind wir ganz gut. Doch ich glaube, dass auch die geistige Unterwerfung, mag sie auch nur vorübergehend sein, nicht spurlos an uns vorbei geht und dass wir aufpassen müssen sie wieder los zu werden.
Dieser Mix aus Hygiene, autoritärem Durchgreifen und Autoritätshörigkeit, Abschottung, Kleinbürgerlichkeit und Chauvinismus gefällt mir nicht. Ich sehe ja auch die Ansätze von Solidarität und die Möglichkeiten die sich durch ein Zurückdrängen des Neoliberalismus ergeben. Aber die Befürchtung dass daraus nicht Kommunismus sondern konservatives Mittelalter wird würde ich gerne hinzufügen.
Ich will alle Kollektivität, Offenheit, Sexpositivität und auch die Partys zurück bekommen!
Autorin: Emma ist in der IL Berlin organisiert und macht antirassistische Kiezpolitik.
Bild: Von der Autorin - ihr Textbearbeitungsprogramm in der Krise.