Populäre Verschwörungs-theorien? Kann ich mir vorstellen.


Linke Theorien vs. Verschwörungserzählungen

Nach dem zuletzt erschienen Artikel wissen wir um einige Zustände in der Popkultur. Auch in der politischen Praxis auf der Straße und anderswo nehmen Verschwörungsideologien in den letzten Wochen an Fahrt auf. Warum sich die radikale Linke mit ihnen befassen sollte, was sie ihnen entgegen zu setzen hat und wie sie gegen ihr lautes Getose ankommt, dazu teilt der Autor dieses Artikels einige seiner Gedanken.

Hier geht's nochmal zum Naidoo-Artikel der Genoss*innen von der iL Rhein-Neckar.

Als ich bei der Post gearbeitet habe, hatte ich in meinem Bezirk im Stuttgarter Süden Abonnent*innen für zwei linke Zeitungen, eine rechte Zeitung und fünf Verschwörer-Magazine. Im Unterschied zu heute gab es vor vier Jahren keine Öffentlichkeit für Verschwörungs»theorien«. Ich setze die Anführungszeichen, weil es natürlich keine Theorien im eigentlichen Sinne sind. Beim Flyern auf Kundgebungen und Mahnwachen auf dem Stuttgarter Schloßplatz war in den letzten Jahren auffällig, wie viele ältere weiße* Menschen an mich herangetreten sind, meiner/unser Sache zugestimmt haben und sich gar nicht mehr stoppen konnten bei dem Versuch, mir die geheimen Zusammenhänge der Welt und die im Verborgenen waltenden und steuernden Kräfte zu erklären. Wenn ich im Folgenden von Verschwörungs»theoretiker*innen« spreche, meine ich nicht ausschließlich die Demoteilnehmer*innen der letzten einschlägigen Demos. Ich denke, es gibt jenseits von Demonstrationen eine sehr große Zahl von Verschwörer*innen, die auf keiner Demo, welchen Themas auch immer, zu sehen sind. Ich habe ein paar dieser Menschen getroffen und versuche in diesem Text zu erklären, warum ich es wenig überraschend finden, dass Menschen an Verschwörungs»theorien« glauben.

Verschwörungs»theorien« schaffen Selbstbewusstsein

Erst mit den Corona-Leugner*innen ist mir klar geworden, mit welchem Selbstbewusstsein mir die Menschen auf dem Schloßplatz damals ihre unhaltbaren Geschichten erzählt haben. Wenn ich selbst in politischen Diskussionen argumentiere und zum Beispiel nicht mehr genau weiß, wie viele Menschen aktuell auf der Flucht sind, dann habe ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich erinnere nur gelesen zu haben, dass es so viele wie noch nie sind, ohne das selbst überprüft zu haben. Gefühlt hab ich ein bisschen geflunkert. Nichts dergleichen beim Spektrum der Verschwörungs»theoretiker*innen«. Und das ist mein erster Punkt: Verschwörungs»theorien« schaffen, ganz real, Selbstbewusstsein. Auf einmal kann ein Mensch allein all die komplizierten Zusammenhänge der Welt ordnen. Ich sage nicht »erklären«, ich denke, der Ordnungsdrang ist viel stärker als der Wille, realistische Ursachen benennen zu können.

Verschwörungs»theorien« vermeiden Selbstzweifel und Stress

Die Philosophin Alice Pechriggl vergleicht die Anhänger*innen von Verschwörungs»theorien« mit Kindern, die sich die Augen zuhalten und denken, wenn sie nichts sehen, würden auch alle andern nicht sehen. Nach dem Motto: Wenn ich das Corona-Virus nicht wahrnehme, dann existiert es auch nicht. Wenn sich Menschen Geschichten über die großen Zusammenhänge der Welt ausdenken, können sie nach eigenem Empfinden ausblenden, was sie emotional belasten würde. Ganz nebenbei haben sie dadurch die Möglichkeit, ihre privilegierte imperiale Lebensweise und deren negative Folgen für andere Menschen auszublenden. Ich denke, diese Menschen versuchen, auf diese Art Stress zu vermeiden, der dadurch verursacht werden würde, an der eigenen Lebensweise zu zweifeln.

Verschwörungs»theorien« sind linken Theorien zum Verwechseln ähnlich

Vor einigen Tagen hatte ich die erschütternde Gelegenheit, mir von zwei Genoss*innen erklären zu lassen, mit welchen - fast magischen - Methoden eine sogenannte »Weltregierung« versucht, uns durch Corona zu manipulieren und zu überwachen. Dabei war auffällig, wie nah ihre »Argumentation« an linken Argumentationen lag. Klar, als junger Linker hab ich auch so was gesagt wie, ›die‹ Pharmalobby schreibt Gesetze vor und manipuliert damit ›die‹ Abgeordneten des Bundestages, ohne das selbst je überprüft zu haben. Es gibt ein diffuses Allgemeinwissen, dass Lobbyist*innen Einfluss auf die Politik nehmen. Naja, und die Genoss*innen aus dem erwähnten Gespräch vor ein paar Tagen haben da noch einen draufgesetzt. Von einer vielleicht noch zutreffenden Behauptung sind sie – unberechtigter weise – weiter gegangen und haben behauptet, ›die‹ Pharmaindustrie sei ein geschlossener Kreis, in dem jede*r jeden*n kennt, alle die gleichen Interessen haben. Dieser Plan bestimmt, was die Gesundheitsämter zu tun haben und beinhaltet, dass die Corona-Impfungen genutzt werden sollen, um uns zu überwachen. (Die Rede des einen Genossen war begleitet von einem charmanten Augenzwinkern, das mir suggerieren wollte, dass er mir gerade exklusives Wissen anzubieten habe. Auch eine Methode das Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten. Wer hat in Zeiten der Superlativen noch Lust ganz normal schlau zu sein?). Ein anderes Beispiel: Die Linke sagt, dass die CIA die ein oder andere Regierung im Mittleren Osten abgesetzt hat. Warum sollte es Menschen schwer fallen, sich auszudenken, dass die CIA für noch mehr geheime Aktionen verantwortlich sein könnte? Gerade wenn anscheinend sehr viele Menschen nicht mehr zwischen dem unterscheiden können, was sie in Filmen gesehen haben und dem, was wirklich irgendwo passiert ist. Wir sprechen vom internationalem Kapital – ausgehend von Erkenntnismethoden des historischen Materialismus, eben im Rahmen echter Theorien. Und naja, wie viele von uns können das solide von der Analyse bis zum Argument vortragen? Die meisten halten es wahrscheinlich für plausibel und sehen keinen Grund, von einer »Weltregierung« zu sprechen. Aber ich kann mir vorstellen, dass man sich die Geschichte mit dem internationalem Kapital und wofür es alles verantwortlich sein soll, so umschreibt, dass da was Kinoreifes bei raus kommt: Eine geheime »Weltregierung«, echte Menschen, die Pläne schmieden und die mächtig genug sind, diese auszuführen. Alice Pechriggl interpretiert hinter dieser Haltung den Gedanken, dass, wenn Menschen in der Lage waren, dieses und jenes Schlechte zu erschaffen, dann sind sie auch in der Lage, es wieder rückgängig zu machen. Mein zweiter Punkt ist also: Für uns sollte die Ähnlichkeit zwischen linken Theorien und Verschwörungserzählungen bedeuten, dass wir immer klar machen müssen, dass gesellschaftliche Verhältnisse wie Patriarchat, Rassismus, Kolonialismus oder Klasse keine übernatürlichen Phänomene sind. Das können wir am besten zeigen, wenn wir historisch aufarbeiten, wie diese Verhältnisse entstanden sind. Wir sollten daher unsere Geschichtsarbeit viel intensiver, anschaulicher und aus diversen Perspektiven betreiben. Und wenn wir es nicht schaffen, unsere Interpretationen der Welt populär zu verbreiten, dann kann es passieren, dass aus Mangel an linken Deutungsangeboten Menschen, die nach Erklärungen und Einordnungen auf der Suche sind, zu Fakenews und Verschwörung greifen.

Schaffen wir Möglichkeiten für Selbstbewusstsein und positives Selbstwertgefühl als Strategie gegen Verschwörung und Rechte

An Selbstbewusstsein mangelt es in unserer Gesellschaft in allen Milieus, Klassen und Communities. Selbst habe ich einen Großteil meiner Jugend damit verbracht, in dem mir gegebenen Umfeld sexistisch und rassistisch sozialisierter Menschen einen Standpunkt zu finden, den ich aus und durchhalten konnte. Und das ist mein dritter Punkt: Wir werden die Gesellschaft nur befreien, wenn wir Möglichkeiten schaffen, wie jeder Mensch Selbstbewusstsein und ein positives Selbstwertgefühl finden kann. Das ist ein Punkt ganz jenseits der Fragen, wie arm oder reich ein Mensch ist (Der Mensch lebt nicht vom Brot allein). Wer ein positives Selbstwertgefühl hat, ist außerdem weniger anfällig für den Versuch, sich selbst aufzuwerten indem er/sie* Migrant*innen, Fremde, Andere, etc. abwertet. Abwertung erzeugt bei manchen vielleicht ein Selbstwertgefühl, aber es ist ein perverses, auf Lügen aufbauendes und unterscheidet sich deshalb von einem positiven. In diesem Sinne, könnte die Leitlinie Möglichkeiten schaffen, dass Menschen Selbstbewusstsein und ein positives Selbstwertgefühl finden können Teil einer antifaschistischen und anti-verschwörerischen politischen Strategie sein.

Kollektive Bildungsprozesse müssen unsere Basis bleiben

Unsere Theorien sind gut und richtig, aber sie überfordern uns. Keine*r kennt alle und viele haben nur Teile davon gehört. Wir kommen weiter nicht drum herum, uns ständig mit Analyse und Theorie zu befassen. Mein vierter Punkt ist daher: Wir sollten unsere Bildungsprozesse kollektiver gestalten. Viele Genoss*innen eignen sich Theorien privat an und testen und korrigieren ihr Wissen dann irgendwo zwischen Smalltalk und Plenum mit den Genoss*innen aus. Wir sollten dagegen Möglichkeiten schaffen, Theorien gemeinsam zu erarbeiten, darüber konkret mit dem Text in der Hand zu sprechen und zu üben, wie wir einschätzen können, wie realistisch und wie weitreichend eine Theorie oder eine Behauptung ist. Das sind und bleiben unsere Basics. Dabei bringt es wenig, dass eine Person redet und die andern zuhören müssen. Jede*r Einzelne muss sich selbst mit den Inhalten auseinandersetzen.

Gewöhnlich sein, statt recht zu haben

Was ist der Unterschied zwischen linker Argumentation und Verschwörungs»theorien«, wenn sie sich oberflächlich manchmal ähneln? Mal ganz simpel und persönlich: Ich argumentiere nur mit Material, dass ich überprüft habe – soweit das eben geht – und das ich nach meiner Alltagserfahrung für realistisch einschätze. Beispielsweise kenne ich Menschen, die übers Mittelmeer gefahren sind, ich glaube ihnen, was sie sagen, ich höre Nachrichten von Menschen, die gerade dort sind und ich glaube ihnen, was sie sagen, und deswegen kann ich mir vorstellen, wie es dort gerade so ungefähr abgeht. Ich habe in der Vergangenheit immer versucht, nach besten Wissen zu argumentieren, aber um der arroganten Selbstsicherheit der Konservativen meines Heimatdorfes standzuhalten, musste ich in meiner politischen Jugend, doch mehr Fachwissen suggerieren als da oft war. Fast ein bisschen flunkern oder eben ausweichen. Für mich war der Schritt, in einem Plenum vor Genoss*innen, in der Diskussion mit arroganten Linken oder einer selbstverliebten Mittelschicht sagen zu können: „»Zu diesem Thema weiß ich nichts!«, wie eine Befreiung von dem Druck, den unsere Leistungsgesellschaft auf jedes Individuum legt gewirkt. Für mich ein wichtiger Schritt der kritischen Männlichkeit. Ich bin nicht in allen Situationen suverän, ich weiß ohne Autokorrektur nicht wie man souverän richtig schreibt, ich bin dir nicht unterlegen, nur weil ich dir nicht überlegen bin und ich weiß vieles einfach nicht. Muss ich auch nicht, denn ich muss in dieser Welt nicht als einzelnes Individuum bestehen, ich bin Teil solidarischer Bewegungen, die mich davon befreien, alles allein schaffen zu müssen. Das ist mein fünfter Punkt: Lasst gut sein, Genoss*innen. Wir müssen nicht in jedem Gespräch bis ins letzte recht behalten. Wir können uns auf unsere Genoss*innen verlassen, unter denen mal die eine, mal der andere gute Argumente findet und mit uns teilt. Bei uns sind die Leute organisiert, die Gewalt traurig, Freiheit fröhlich und Solidarität glücklich macht. Wir überzeugen die Leute, die bereit sind, unseren Planeten vor die Hunde gehen zu lassen vermutlich nicht, indem wir noch souveräner sein wollen als sie, sondern vielleicht indem wir zeigen, dass in einer befreiten Gesellschaft auch Menschen ganz gewöhnlich sein können und trotzdem wichtig sind, versorgt werden, Möglichkeiten haben, ihr Selbstbewusstsein und ein positives Selbstwertgefühl zu finden und in der Lage sind politisch und sozial Verantwortung zu übernehmen. Selbst wenn sich manche Menschen auf manchen Gebieten besser auskennen, sollte daraus auch und gerade in einer befreiten Gesellschaft keine Hierarchie folgen. Basisdemokratie heißt, eigene Fähigkeiten einzubringen - daraus leiten sich aber keine Privilegien ab. Die Mentalität, recht behalten zu wollen, könnte dazu führen, dass Genoss*innen mit Verschwörungs»theorien« liebäugeln, weil sie vor sich selbst oder vor anderen nicht zugeben wollen, dass sie eben doch nicht alle Verhältnisse auf der Welt erklären können.

Argumente werden sie nicht überzeugen

Was bei Verschwörungsanhänger*innen noch deutlicher wird als bei Rassist*innen: Argumente werden sie nicht überzeugen. Einer Rassist*in konnte man ja noch vorrechnen, wie viele Menschen in ihrer Stadt leben und wieviel Prozent davon Geflüchtete sind. Warum haben wir sie trotzdem nicht überzeugt? Ich denke, manche unorganisierte Rassist*innen oder unorganisierte Verschwörer*innen glauben nicht unbedingt, was sie selbst behaupten. Es gibt zahlreiche andere Gründe warum sie rassistische und falsche Behauptungen machen: Zugehörigkeit zu einer Gruppe herstellen zu wollen, die für einen Caretätigkeiten übernimmt (ja, auch Nazis versorgen sich irgendwie, auch wenn ich‘s mir gruselig vorstelle); eigene Privilegien an anderer Stelle verteidigen zu wollen; die eigene Macht erhalten zu wollen etc. Mein sechster Punkt ist daher: Hören wir auf, Menschen nur durch rationale Argumente gegen Rassismus und Verschwörung überzeugen zu wollen. Wir werden die große Zahl der Alltagsrassist*innen auch nicht mit Gewalt langfristig für die befreite Gesellschaft gewinnen. Wir werden beides machen müssen: Argumentieren und uns gleichzeitig die Mühe machen, andere Probleme, die die Leute eben auch haben und auf die sie mit zahlreichen Vermeidungs- und Kompensationsstrategien reagieren, zu verstehen und mit ihnen nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, die jenseits von Rassismus, Hass, Kolonialismus, Angst, Depression und Einsamkeit liegen. Auch privilegierte Verschwörungsanhänger*innen haben Probleme mit ihrer Psyche, damit, die Welt zu verstehen, mit sexualisierter Gewalt, mit Leistungsdruck und mit den Folgen der Politik des Staates, der alle ihre Lebensbereiche durchdringt. Ich vermute, viele von ihnen greifen zu Verschwörungs»theorien« um klarzukommen. Nicht alle von ihnen machen das aus Hass oder Machtgier. Und mit denen, die das eben nicht tun, müssen wir einen Umgang finden.

Konkrete Kampferfahrungen schaffen

Die Erfahrung der meisten Menschen in unserer Gesellschaft ist, dass sie auf alles, was um sie herum passiert, ab ihrer Haustür, keinen Einfluss mehr haben. Nicht einmal, ob die Farbe der Straßenlaterne, die ins Schlafzimmer scheint, weiß oder orange ist. Unsere Lebenswelt ist total abstrakt. Trotzdem verändert sich die Gesellschaft ständig und wir sind gezwungen, uns daran anzupassen. Aus linker Perspektive können wir verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse benennen, wodurch wir erklären können, warum und wie sich die Gesellschaft verändert. Wenn einem Menschen diese Analysen fehlen, dann kann ich mir schon vorstellen, dass der Eindruck entsteht, dass irgendwie geheime Kräfte dafür verantwortlich sein müssen. Der Glaube an Magie ist auch in Europa noch im 20. Jahrhundert weit verbreitet gewesen, wie beispielsweise in »Christus kam nur bis Eboli« von Carlo Levi sehr anschaulich für ein italienisches Dorf im Faschismus beschrieben wird. Ein Freund aus Nigeria erzählte mir von verschiedenen Erklärungsmustern in seiner Heimat, die sich ganz selbstverständlich auf Magie stützen. Beispielsweise sagt er, dass es bei einem natürlichen Todesfall teilweise üblich ist anzunehmen, jemand habe den*die Tote*n verflucht. Wie können Menschen verstehen lernen, dass nicht geheime oder magische Kräfte für Veränderungen in der Umgebung verantwortlich sind? Ich denke, indem sie selbst die Erfahrung machen, die eigene Umgebung zu verändern. Daher mein siebter Punkt: Konkrete Kampferfahrungen könnten dazu führen, dass Menschen von abstrakten Verschwörungsmächten ablassen und lernen, sich ihre Umgebung zu eigen zu machen.

Ein Vergleich: Verschwörungstheorien und Sekten im 19. Jahrhundert

Auch in der Geschichte finden wir die Flucht vor neuen Realitäten ins Abergläubische. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat die Industrielle Revolution ganz England im Würgegriff und breitet sich weiter über ganz Europa aus. Für die Bevölkerungen sind die mit der Industriellen Revolution einhergehenden Veränderungen teilweise verheerend. Viele Bäuer*innen wurden bis dahin vom Adel ausgebeutet. Im 19. Jahrhundert verlieren viele ihr Land, müssen in die Städte ziehen, verlieren dabei ihre Nachbar*innenschaften und gewohnten sozialen Verhältnisse, finden sich in lebensunwirklichen Fabriken und gesundheitsschädlichen Behausungen wieder. Statt vom Adel werden sie jetzt von Kapitalist*innen ausgebeutet. Als eine Reaktion darauf ist zu beobachten, wie sich unzählige Sekten gründen und die Zahl ihrer Besucher*innen die Zahl der Besucher*innen der katholischen Kirchen übersteigen. Die Menschen haben nach Angeboten gesucht, die ihnen halfen, die Katastrophen, die die globalisierte kapitalistische Produktionsweise für das Leben bedeutet hat, ordnen zu können. Neben Sekten boten diese Möglichkeit im 19. Jahrhundert auch die aufkommenden Arbeiter*innen-Bewegungen. Die Reaktion auf die Katastrophe, die die Industrielle Revolution mit sich brachte, ist vergleichbar mit heute. Zahlreiche Katastrophen und die tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft durch neoliberale Staatsprogramme und einen völlig irrationalen Finanzmarktkapitalismus reißen Menschen derart schnell aus ihren Lebensgewohnheiten, dass sie anfangen, sich massenweise auf die Suche nach Ordnungssystemen zu machen. In diesem Sinne haben wir eigentlich auch Chancen, Menschen für linke Politik zu begeistern. Das wäre mein achter Punkt: Wir könnten unsere Theorien und Erklärungsmuster anderen Menschen anbieten, um ihnen zu helfen, sich in der Welt zurecht zu finden. Wir sollten also mehr orientierungsgebend arbeiten, statt urteilend über richtiges und falsches Denken. Ein Genosse hat mich darauf hingewiesen, dass wir den großen Run auf Verschwörungs»theorien« auch als eine Schwäche der kapitalistischen Ideologie interpretieren können. Sie ist durch viele Krisen derart unglaubwürdig geworden, dass sich Menschen auf die Suche nach Alternativen machen. Demnach müssten wir auch auf ideologischer Ebene die Chance haben, uns als glaubwürdige Alternative zu etablieren.

Eine Reaktion auf positivistische Wissenschaften

Wir sollten Verschwörungserzählungen auch als eine fehlgeleitete Gegenreaktion auf die positivistischen Wissenschaften interpretieren. Die positivistischen Wissenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie gesellschaftliche Zusammenhänge voneinander getrennt analysieren und nur noch Antworten auf einzelne Fragen, nicht aber auf größere Zusammenhänge geben können. Beispielweise analysieren sie Gewalt an Bahnhöfen und schlagen vor Kameras aufzuhängen. Sie analysieren in diesem Zusammenhang aber nicht, warum Gewalt in der Gesellschaft reproduziert wird und wo sie stattfindet, wenn sie wegen der Kameras weniger an Bahnhöfen stattfindet. Menschen erkennen diese Teilantworten und die Zerstückelung gesellschaftlicher Zusammenhänge als Aushöhlung ihrer Erfahrungswelt und sinnentleerter Wissensanhäufung. Die Gegenreaktion in Verschwörungserzählungen ist nun, überall Zusammenhänge und Verbindungen zu konstruieren. Und zwar in einer liberalistischen Art und Weise, bei der jedes Individuum sich selbst Zusammenhänge ausdenken und in den Pool der Erzählungen werfen kann. Aus diesen Pools, die sich bevorzugt im Internet zusammenbrauen, können sich dann die populärsten Versionen verbreiten. Als neunten Punkt schlage ich vor: Unsere Strategie gegen die Sinnentleertheit positivistischer Wissenschaften sollten große historische Erzählungen sein, die in der Lage sind Ereignisse und gesellschaftliche Zusammenhänge aus der Perspektive der Unterdrückten zu interpretieren. Bleiben wir beim Beispiel der Gewalt, könnte das heißen, die Entwicklungen und Arten von Gewalt in der Geschichte bis auf den heutigen Tag sichtbar zu machen. Und daran anschließend die Gewalt in der Gesellschaft in all ihren Fassetten zu verdeutlichen und zu erklären an welchen Stellen sie sich gegen die Unterdrückten richtet und an welchen Stellen sie sich im Sinne der Unterdrückten Bahn bricht.

Wunder-Heilung - warum auch nicht?

Auf einer der Verschwörer-Demos in Stuttgart hat eine angebliche Krankenpflegerin gesprochen. Bei ihrer Rede wurde deutlich, wie sehr sich die Menschen Wunderheilungen wünschen. Ob sie wirklich Krankenpflegerin war oder nicht spielt dabei keine Rolle – die Rede ist auf jeden Fall nicht spontan, sondern ausgearbeitet. Und auch hier kann man wieder sagen: Ja, irgendwie nachvollziehbar. Ein bisschen kitschig, aber wäre doch nett, wenn Wunder passieren und Menschen geheilt würden. Außerdem zeigte sich, dass auch die Verschwörerungsanhänger*innen eine Ahnung davon haben, dass ein privatisiertes Gesundheitssystem das falsche System ist, um die Gesundheit der Bevölkerung zu garantieren:

»Und ich möchte nochmal sagen: Wir müssen weg von der Privatisierung, sie zerstört. In meinem Herzen fühle ich, es kann nicht richtig sein mit Gesundheit Geld zu verdienen. Warum? Weil die Ethik auf der Strecke bleibt.«

Ja klar! Es ist nicht nur der Neoliberalismus am Gesundheitssystem Schuld, es ist auch einfach ethisch falsch, was da gemacht wird. Auch wenn Menschen keine Analyse der Gesellschaft haben, merken (fühlen) sie eben, dass das Gesundheitssystem sogar für Privilegierte nicht perfekt ist. Wir müssen anerkennen, dass Menschen so denken/reagieren. Ihre gesamte Rede zielte stark auf die Momente des Gefühls, der Emotion und Intuition ab. Alles Ansätze, die wir aus feministischen Perspektiven erst mal begrüßen würden.

»Man macht Dienst nach Vorschrift, aber der Patient stirbt. Mit einem anderen Blick, mit mehr Offenheit, wäre er vielleicht am Leben.«

Man weiß nicht genau, was oder wen sie damit meint, aber vom Prinzip her muss das doch gut in den Ohren der Teilnehmer*innen klingen: Irgendwie Offenheit und Vielfalt statt Dogmen und Vorschrift und es wird sogar möglich, Blinde zu heilen. Mein zehnter Punkt ist: Wir sollten anerkennen, dass Menschen sich ein langes Leben, Wunderheilung und das Paradies wünschen.

»Es ist so wichtig, dass wir gut uns fühlen und keine Angst haben, weil das macht unser Immunsystem kaputt. Das Immunsystem ist das Wichtigste, was wir haben. Warum? Es hilft uns, schlimme Situation zu überleben und die Herzenergie, die wir spüren, die Verbundenheit zu den Menschen, die ist das Wichtigste.«

Wenig überraschend, dass sich atomatisierte Individuen Verbundenheit wünschen. (Wahrscheinlich aus den Erfahrungen von tausenden Individuen, die verbunden durch das gemeinsame Massensaufen auf dem Stuttgarter-Wasen (eine Art Oktoberfest) eine falsche Art von Kollektivität empfinden.) Und ja, ein angekratztes Immunsystem macht uns anfälliger für Corona. Deswegen brauchen Menschen jetzt: Kostenlose Toiletten, Wohnungen, Gesundheit, Aufenthalt, saubere Luft, keine Schulden, weniger Stress etc. Wir sollten in diesen Punkten ein Programm aufzeigen, dass aus dem Geilen-Leben-für-mich ein Gutes-Leben-für-Alle macht.

Autor: Zara ist über Jahre als Journalist für linke Medien in Stuttgart tätig gewesen und hat zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen in der Stadt beobachtet. Er war in der Ortgruppe der Interventionstischen Linken Stuttgart organisiert und unterstützt zurzeit ökologische und migrantische Gruppen.

Bild: Creative Commons. »Was ich nicht sehe, ist auch nicht da«: Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beschreibt mit dem seinem Begriff des Egozentrismus ein Entwicklungsstadium von Kindern, in dem sie (noch) nicht in der Lage sind, die Perspektive anderer einzunehmen sowie die eigene als eine Sichtweise unter vielen zu begreifen. Klassisch zeigt sich dies anhand der Annahme jüngerer Kinder nicht mehr sichtbar zu sein, wenn sie sich selbst die Augen zu halten.