Alle sprechen von Solidarität. Sprechen wir von Solidarität für alle!

Eine rasante Etablierung von Solidarität auf der einen, autoritäre restriktive Maßnahmen und die Verhärtung von Ausschlussmechanismen auf der anderen Seite. Die (radikale) Linke sollte bei dieser Gratwanderung den Feind nicht aus dem Blick verlieren, sagt unser Genosse Christoph aus Hamburg und schärft den Blick für die Lehren dieser Krise.

Die Gefahr ist real

Das Wichtigste am Anfang: Die Corona-Pandemie ist eine reale und massive Gefahr für Leben und Gesundheit von Millionen Menschen weltweit. Während dieser Text geschrieben wird, ist die Zahl der Toten in Deutschland auf über 1.200 gestiegen, in Italien und Spanien sind es zehn bis zwölf mal so viele, weltweit schon fast 60.000. So unsicher die Prognosen auch sind: Dies ist erst der Anfang und die Lage wird sich verschlimmern. Die Maßnahmen, mit denen die kapitalistischen Staaten sehenden Auges eine schwere Rezession, einen Einbruch von Gewinnen und Börsenkursen produzieren, resultieren nicht aus Panikmache oder der Lust am Ausnahmezustand, sondern genau aus dieser Größe der Bedrohung.

In dieser Situation verbietet es sich für eine gesellschaftliche radikale Linke, die Corona-Pandemie zu verharmlosen oder zu bagatellisieren. Die Grippe-Vergleiche sollten wir den Verschwörungsspinner*innen überlassen und die zynische Abwägung von Menschenleben gegen Wirtschaftsinteressen den Neoliberalen. Linke müssen an der Seite der Leute – also der Lohnabhängigen, der Care-Arbeiter*innen, der Erwerbslosen, der Mieter*innen, der Wohnungslosen, der Eingewanderten, der Refugees, der Marginalisierten usw. – stehen, weil wir auch selbst Teil der so verstandenen Klasse sind. Ihre (und damit auch unsere) Interessen müssen wir vertreten: Nach Schutz vor der Krankheit, nach bestmöglicher Gesundheitsversorgung, nach Sicherung der Existenz, nach Solidarität und Zusammenhalt. Which side are you on? Diese alte Frage der Arbeiter*innenbewegung gilt heute wie damals. Wir sollten sie in und nach der Corona-Krise guten Gewissens beantworten können.

In Krisensituationen treten Stärken, aber vor allem Schwächen deutlich zutage. Das gilt für ein profitorientiertes Gesundheitswesen ebenso wie für den Einfluss und die Verankerung der (radikalen wie moderaten) Linken hierzulande. Auch wenn es eine unbequeme Wahrheit ist: Sowohl für unseren Gesundheitsschutz wie auch für unsere Existenzsicherung sind wir darauf angewiesen, dass das staatliche Krisenmanagement halbwegs funktioniert. Und solange es funktioniert, was wir uns im eigenen Interesse wünschen müssen, werden sich die Leute politisch und ideologisch eher an der Regierung orientieren und die verordneten Maßnahmen nicht im Grundsatz in Frage stellen. Vielleicht können wir punktuell Einfluss nehmen, untereinander und für unsere Nachbar*innen Solidarität organisieren – aber in der Masse wird das wenig ausrichten.

Das ist weder ein Plädoyer für den Burgfrieden, noch das Ausrufen von »Corona-Ferien« für die radikale Linke. Das wäre ein unverantwortlicher politischer Fehler. Aber es hat Konsequenzen dafür, wie und mit welchen Schwerpunkten wir jetzt agieren sollten.

Handlungsfähigkeit in der Krise

Die erste Herausforderung ist es, unsere Handlungs- und Interventionsfähigkeit zu erhalten bzw. auf eine neue Basis zu stellen. Wir haben nun schon einige Wochen Erfahrung damit, unsere Treffen und Diskussionen im virtuellen Raum der Sprach- und Videokonferenzen abzuhalten. Die Messenger-Gruppen laufen über und für manche Aktivist*in ist der politische Alltag jetzt stressiger und dichter gepackt als vor Corona.

Viele Aktivist*innen sind auf mehreren Ebenen und unterschiedlich stark selbst von der neuen Situation betroffen. Es gibt eine psychische Belastung durch die Unsicherheit, die Sorge um die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen. Es gibt handfeste materielle Sorgen, weil es unter uns nicht wenige gibt, die durch die Maschen der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen fallen – z.B. weil Nebenjobs für Student*innen wegfallen, ohne dass dies durch Kurzarbeitergeld oder Soloselbstständigen-Beihilfen ausgeglichen würde. Und es gibt diejenigen, die jetzt mehr und unter stark erschwerten Bedingungen arbeiten müssen: Die Pfleger*innen und Ärzt*innen natürlich, aber zum Beispiel auch alle, die Kinderbetreuung und Home-Office unter einen Hut bringen müssen.

Daher steigt die Notwendigkeit, dass wir als Genoss*innen aufeinander achtgeben, uns psychisch und materiell unterstützen und so gut es geht versuchen, dass niemand den Kontakt verliert oder abgehängt wird. Das hört sich vielleicht banal an, ist aber weit mehr als Sprach- und Videokonferenzen zu organisieren und dort die politische Lage zu diskutieren.

Darauf aufbauend bedeutet Handlungsfähigkeit, den öffentlichen Raum nicht kampflos dem Krisenmanagement preiszugeben. Denn so sinnvoll es ist, die Kontakte zu beschränken, Abstand zu halten und auch sonst alles zu tun, um die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen: Es gibt einen überschießenden autoritären Aktionismus, der sich zum Teil in absurden Regelungen, wie dem Verbot beim Spaziergang eine Pause auf einer Parkbank einzulegen, niederschlägt; viel problematischer aber darin, dass Polizei und Ordnungsbehörden wirklich jede Meinungsäußerung im öffentlichen Raum unterbinden wollen. Auf höherer politischer Ebene drückt sich diese autoritäre Tendenz darin aus, dass jetzt »Machertypen« wie Markus Söder ihre Stunde gekommen sehen und sich mit immer neuen Anordnungen profilieren wollen. Aber auch für alle anderen politisch Verantwortlichen entsteht der Druck, irgendetwas zu tun, um sich nicht Untätigkeit vorwerfen zu lassen.

Nicht Trotz und Risiko sollten jetzt unsere Leitlinie bei Aktionen sein, sondern Verantwortungsbewusstsein und Schutz aller Beteiligten. Das gilt sowohl für die Planung und Durchführung von Aktionen als auch für ihre inhaltliche Fokussierung, aus der ebenfalls Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit der Anliegen deutlich werden sollten. Auf dieser Basis ist aber vieles möglich, was die Behörden dennoch zu verhindern versuchen.

Denn auch diese Frage werden wir nach der Krise beantworten müssen: Was haben wir getan, um für die geflüchteten Menschen in den griechischen Lagern einzutreten? Was für die Wohnungslosen auf den Straßen unserer Städte? Was für die Refugees, die auch hierzulande in Camps eingesperrt werden, in denen Abstand kaum möglich ist und eine Quarantäne gleich Hunderte betrifft?

Solidarität für alle: Was jetzt unmittelbar getan werden kann

Die offizielle, staatliche erklärte Solidarität hat riesige Leerstellen und Löcher. Diese zu benennen und anzugreifen ist gegenwärtig die - online wie offline - mobilisierungsfähigste politische Auseinandersetzung. Das betrifft die überfällige Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager (#LeaveNoOneBehind) ebenso wie die sichere und menschenwürdige Unterbringung von Wohnungslosen und die Auflösung der Lagerunterbringung in Deutschland (#OpenTheHotels). Antirassismus ist auch in Zeiten der Corona-Krise kein Luxus- oder Nischenthema, sondern legt direkt den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die von Spaltungen, Ausschlüssen und Ungleichheiten durchzogen ist.

Die sozialen Auseinandersetzungen um die Existenzsicherung der vielen Menschen, die jetzt ihr Einkommen verloren haben, deren Mieten und sonstige Kosten aber weiterlaufen, stehen erst am Anfang. Sie werden aber an Bedeutung zunehmen – und vor allem weiter und stärker geführt werden müssen, wenn die akute Gesundheitskrise hoffentlich überwunden ist. Noch herrscht Unübersichtlichkeit über die angekündigten Hilfsprogramme und es ist vielen noch nicht klar, ob es für sie konkret ausreichende Hilfe geben wird. Bald wird aber der Punkt kommen, an dem auch bei der sozialen Absicherung die Frage akut wird, ob die Solidarität tatsächlich für alle gilt. Forderungen nach mietfreiem Wohnen während der Krise und nach einem bedingungslosen Corona-Grundeinkommen gehen in die richtige Richtung – vor allem wenn wir sie nicht national, sondern mindestens europäisch verstehen und erheben.

Überhaupt gehört – gerade angesichts des offensichtlichen Versagens der EU auch nur ansatzweise Solidarität unter den Mitgliedsstaaten zu organisieren – die europäische Vernetzung der Bewegungen und der radikalen Linken wieder auf die Tagesordnung.

Unmittelbar notwendig ist auch, dass wir die Aktionen von Krankenhausbeschäftigten, Pfleger*innen usw. unterstützen (#HörtUnsZu), mit denen diese mehr Personal, ausreichende Schutzausrüstung und bessere Bezahlung fordern. Deutlich skeptischer bin ich bei Aktionen zur Verteidigung der Grundrechte, gegen autoritäre Maßnahmen, Aushebelung demokratischer Rechte, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Skeptisch deswegen, weil viele Maßnahmen ja tatsächlich sinnvoll sind, um die Ausbreitung der Corona-Infektionen einzudämmen. Daher werden sie auch von einer überwältigenden Mehrheit – wenn wir den Umfragen glauben dürfen – akzeptiert und begrüßt. Die Konsequenz daraus kann natürlich nicht sein, dass wir einfach alles hinnehmen. Aber unsere Kritik müsste sich schon daran orientieren, ob Maßnahmen besonders absurd sind oder ob sie dem proklamierten Ziel der Solidarität für alle sogar entgegenstehen.

Die eigentliche Bewährungsprobe für die Linke ist aber, ob sie Solidarität nur propagiert oder auch praktisch werden lässt. Überall sprießen Nachbarschafts-Soli-Gruppen aus dem Boden, die Unterstützung z.B. beim Einkaufen für Menschen mit besonderem Risiko oder in Quarantäne organisieren. An vielen dieser Initiativen sind Linke bereits beteiligt oder haben sie gar ins Leben gerufen. Das sollten wir ausbauen, denn eine der positiven Folgen der gegenwärtigen Situation könnte ein neuer 2015-Moment der praktischen Solidarität sein. Die Beziehungen und Erfahrungen werden – genau wie bei der Solidarität im »Summer of Migration« – bleiben und für nicht wenige prägend werden.

Nach der Krise ist vor der Krise: Die Lehren festhalten

Ohne Besserwisserei und belehrenden Ton – aber dennoch deutlich – sollten wir die Lehren aus der Corona-Krise für das Danach festhalten und dafür sorgen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten:

(1) Der kapitalistische Markt ist völlig ungeeignet, um verantwortliche oder auch nur effektive Entscheidungen zu treffen, wenn es darauf ankommt.

(2) Das gilt insbesondere für das Gesundheitswesen, das dringend ent-kapitalisiert und vergesellschaftet werden muss.

(3) Systemrelevant sind nicht Banken und Aktienkurse, sondern die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Versorgung der Bevölkerung.

(4) Alles kann politisch entschieden werden, wenn Notwendigkeit und Wille ausreichen. Milliarden entstehen aus dem Nichts, die Produktion kann angehalten und umorganisiert werden.

Es gibt also ein Möglichkeitsfenster für positive gesellschaftliche Veränderungen nach der Coronakrise. Und es gibt ebenso gewaltige Risiken, dass die Kosten der Krise von oben nach unten abgewälzt werden, dass der Nationalismus neuen Auftrieb bekommt und dass die Mächtigen Geschmack am autoritären Durchregieren finden.

Die genauen Bedingungen dafür kennen wir so wenig wie den weiteren Verlauf der Pandemie und die genauen Folgen für die kapitalistische Ökonomie. Hier fahren wir genauso auf Sicht wie gegenwärtig alle Expert*innen und die herrschende Politik. Sicher aber ist: Um die Zukunft im Sinne der Chancen und nicht der Risiken zu entscheiden, braucht es eine handlungsfähige, organisierte und orientierende Linke. Ob wir das werden, entscheidet sich nicht nach, sondern bereits in der Krise. Corona-Ferien können andere machen, die radikale Linke ist zwar nicht system-, aber zukunftsrelevant.

Autor: Christoph Kleine ist in der IL Hamburg organisiert und aktiv in der Seebrücke.

Bild: Which Side Are You On? von Kevin Poh.