Allzu sehr von dieser Welt


Verschwörungsideologien und der allgegenwärtige Antisemitismus

Nicht nur Corona geht viral, mit der Pandemie bahnen sich auch Verschwörungstheorien weiter den Weg durch die Gesellschaft. Dass Personen des öffentlichen Lebens dagegen nicht immun sind, wissen wir leider. Warum Xavier Naidoo längst kein »ungefährlicher Spinner« mehr ist, erläutern unsere Genoss*innen der iL Rhein-Neckar.

Dieser Artikel ist in einer längeren Version im Juli 2020 bereits hier veröffentlicht worden.

Als Xavier Naidoo den Bogen überspannte

Erstaunlich groß gestaltete sich der mediale Aufschrei, als Mitte März im Internet ein Video des Mannheimer Sängers Xavier Naidoo auftauchte, in dem dieser – sich selbst beim Singen filmend - einen unverhohlen rassistischen Text zum Besten gibt. Darin malt er in diletantischen Zweckreimen Bilder von sich angeblich nahezu täglich ereignenden »Mord(en), bei denen der Gast dem Gastgeber ein Leben stielt«. Die vermeintlichen Täter*innen, im Lied nur als »Ihr« angesprochen, werden nicht näher benannt, damit alles »politisch korrekt« bleibt. Die Reaktion auf das Video folgte prompt: sich überschlagende Presseberichte, Distanzierungen ehemaliger Weggefährt*innen und schließlich sogar den Verlust seines Juryplatzes in der Castingshow »Deutschland sucht den Superstar«. All das scheint Naidoo jedoch relativ kalt zu lassen, wie er in einem Interview mit einem rechten Blogger ausführt. In weiteren Filmschnipseln schwadroniert er munter weiter über den vermeintlichen »Faschismus« etablierter Parteien und die teuflischen Mächte hinter der Fridays for Future-Bewegung. Die rassistischen Ausfälle seines Gesangsvideos konnten dabei keineswegs überraschend kommen, schon seit Jahren fällt Naidoo durch seine Nähe zur Szene der sogenannten Reichsbürger und das Verbreiten homophober und verschwörungstheoretischer Inhalte auf. Trotz kritischer Medienberichte tat dies seinem Erfolg bislang keinen Abbruch. Im Gegensatz dazu bewirkten seine neusten Äußerungen offenbar eine Wende im öffentlichen Bild von Naidoo: Mit seiner Erzählung von durch als Gäste definierten Personen begangenen Morden und – offensichtlich weißdeutschen – Kindern, die sich »mit Wölfen in der Sporthalle umkleiden« müssen, redete er nun allzu offensichtlich den Schlagwörtern rechter Diskurse den Mund. Dieses neue Bild mag zu seiner Isolation in der sich weltoffen gebenden Popmusikszene geführt haben. Es zeigt jedoch – besonders vor dem Hintergrund eines weiteren, obskuren Videos, in dem Naidoo schluchzend von der Entführung von Kindern zum Zweck des Verkaufs ihres Bluts an nicht näher benannte »Mächtige« berichtet – einen vermeintlich »wirren Spinner«. Freilich mögen Verschwörungstheorien, wie sie Naidoos Weltbild zugrunde liegen, oft absurd und lachhaft wirken. Das macht sie aber nicht weniger gefährlich. Denn so wenig sie mit einer faktenbasierten Wirklichkeit gemein haben mögen, so sehr sind sie doch verwoben mit der Realität gesellschaftlicher Verhältnisse. Dies lässt sich anhand einiger von Naidoo bedienten Vorstellungen aufzeigen.

Verschwörungsideologien haben ein System

Wer Naidoos Thesen als Produkt eines verwirrten Geistes zu begreifen versucht, wiederholt die falsche Einschätzung, die häufig auch über die rassistischen und antisemitischen Mörder von Hanau und Halle getroffen worden ist, welche ihre Taten mit verschwörungstheoretischen Ausführungen zu begründen versuchten. Zwar mag der Neigung zur Verschwörungsideologie gelegentlich eine gewisse psychische Disposition zu Grunde liegen, doch lässt sich eine solche nicht ausschließlich auf »kranke« Individuen zurückführen, sondern muss unter Bezugnahme auf die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse gedeutet werden. Verschwörungsideologien beruhen stets auf der Konstruktion einer mächtigen Gruppe, die im Geheimen dunklen Machenschaften frönt – in seinem Fall: Kinderblut konsumierende, teuflische Mächtige, die sich den Kampf gegen die Meinungsfreiheit als Aufgabe gesetzt haben. Auf die Weise bietet Verschwörungsideologie einfache Erklärungsmuster für komplexe Prozesse. Abstrakte Dynamiken, die aus verschiedensten, teils zusammenspielenden, teils sich widersprechenden, Tendenzen hervorgehen, werden in Form der sich verschwörenden Fremdgruppe personalisiert.

Antisemitismus am Beispiel der Lieder Xavier Naidoos

Xavier Naidoo ist freilich keinesfalls ein Antisemit – schließlich hat das Oberlandesgericht Nürnberg im Oktober 2019 entschieden, dass er nicht als ein solcher bezeichnet werden darf. Wäre er es aber doch, ließe sich dies anhand zahlreicher seiner Aussagen und Liedtexte nachvollziehen. Schon lange vor den ersten offen verschwörungsideologischen Äußerungen lassen sich bei ihm Elemente erkennen, die ihre Zusammenführung im Antisemitismus vorwegnehmen. Allgemein zeichnen sich Naidoos Lieder durch ihre Hingabe an das vermeintlich Höhere aus, das »nicht von dieser Welt« (so der Titel eines seiner erfolgreichsten Lieder) kommt. Sicher ist dies in Zusammenhang mit seiner stark ausgeprägten Religiosität zu betrachten, doch bedient sich Naidoo dabei allzu genau an jenem Duktus, der letztlich nichts aussagt als seine Verblendung gegenüber den materiellen Grundlagen des Bestehenden. Diese Verschleierung der tatsächlichen Entfremdung teilen sich die Texte Naidoos mit der Verschwörungsideologie ebenso wie die Annahme von etwas (hier noch positiv besetzten) dem Individuum Übergeordneten, schwer Begreiflichen. Deutlicher schon artikuliert Naidoo seine verkürzte Systemkritik im 2004 veröffentlichten Song Babylon System. Dort wettert er gegen das titelgebende Konstrukt, dessen konkrete Ausformung er jedoch noch im Vagen belässt. Doch gerade dieses unkonkrete, in der Andeutung verharrende Gemurmel lässt sich als charakteristisch für den untergründigen Antisemitismus verstehen, wobei diejenigen, die vermeintlich über das Wesen der Verschwörung Bescheid wissen, ganz genau verstehen, was gemeint ist. Das christliche Beispiel Babylons als verdorbene Zivilisation, die als Gegenbild der natürlichen (bzw. göttlichen) Regeln konzipiert ist, ist dabei bezeichnend für eine regressive Ablehnung des Bestehenden. In eine ähnliche Richtung zielt das 2005 erschienene Abgrund, doch wird Naidoo hier konkreter, wenn er beispielsweise von den zu hohen Diäten der Bundestagsabgeordneten singt. Sehr klar benennt er eine Feindschaft gegen die Wenigen, die »manipulier(en)« und »die Weichen stell(en)«. Recht klar wird so, dass der Text mehr transportiert als Kritik am Parlamentarismus, indem er ein weiteres Mal das Bild einer abstrakten, alles kontrollierenden Elite bedient. Erstaunen mag die Kritik am Staat dennoch, die Naidoo in Abgrund als Kritik am Parlamentarismus und Steuern, und in Babylon System allgemeiner artikuliert, indem er »jede(n) Staat außer dem Ameisenstaat« als seinen »Feind« benennt. Er argumentiert hier aber keinesfalls aus einer linken, antistaatlichen Perspektive, die den Staat als autoritären »ideellen Gesamtkapitalisten« kritisiert, sondern aus einer rechtslibertären Richtung, die ihre Ablehnung des Staates autoritär begründet.

Pogromfantasien statt linker Herrschaftskritik

Dass seine Ablehnung des Staates nichts zu tun hat mit einer progressiven Ablehnung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, zeigt sich im Lied »Wo sind sie jetzt?«, in dem er sehnsuchtsvoll fragt: »Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer? Wo sind unsere Führer?«. Am Parlamentarismus kritisiert er also gerade nicht dessen Aufgabe bei der Organisierung gesellschaftlicher Zustimmung für die herrschende Produktionsweise (und die hiermit einhergehenden faktischen Beschränkungen demokratischer Entscheidungen), sondern, dass den Parlamentarier*innen die mystifizierte Kraft »starker Männer« fehle, deren angestrebte Herrschaft sich nicht demokratisch, sondern nur biologistisch begründen lasse. Typisch für seinen autoritären Charakter ist hier die Verherrlichung »echter Männlichkeit« gegenüber den Politiker*innen, welche als »die Streber, die Psychos, die Mamasöhnchen« – also als nicht dem patriarchalen Bild »starker Männer« entsprechend – diffamiert werden. Zu eigen ist seinen politischen Liedern zudem seit jeher die Orientierung auf ein nahendes Untergangsszenario. So sagt er etwa in Babylon System voraus, dass es bald ein »Chaos« gibt, nach dem »Gutes auferstehen« soll. Eine derartige Betonung der reinigenden Kraft von Katastrophe und Gewalt mag begründet liegen in dem Wunsch, die versteckte Barbarei der herrschenden Verhältnisse negativ aufzuheben in der offenen Barbarei der Apokalypse, deren Herbeisehnen kaum versteckt wird – ein Element, das auch in faschistischen Ideologien eine zentrale Rolle spielt. Nur naheliegend ist also auch der Schulterschluss zur Bewegung der sogenannten Reichsbürger, auf einer deren Mahnwachen er 2014 auftrat. Mit ihrer Verquickung aus Verschwörungsideologie und autoritärer Ablehnung des bestehenden deutschen Staates boten sie ihm eine passende geistige Heimat. Geradezu wie eine Hymne der Verschwörungstheoretiker*innen klingt so auch sein 2017 erschienenes Lied Marionetten, in dem er das wohl klassischste Element des Verschwörungsantisemitismus bedient: Die Metapher der im Dunkeln gelassenen Puppenspieler, die Politiker*innen nach ihrem Willen an der »Nabelschnur Babylons« steuern. In den Zeilen

»Und wenn ich so einen in die Finger kriege, dann reiß ich ihn in Fetzen und da hilft auch kein Verstecken hinter Paragrafen und Gesetzen«

bringt schließlich Naidoos Programm auf den Punkt, das in bester Tradition Pogrom heißt: Die  Vernichtung der personifizierten Irrationalität des Ganzen im barbarischen Ausbruch der gesellschaftlich (beispielsweise durch »Paragrafen und Gesetzen«) sanktionierten Gefühle. Bis zuletzt waren die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Skandalen, zu den Naidoos antisemitische Aussagen medial erklärt wurden, groß genug, sodass es der Mehrzahl seiner Hörer*innen und Auftraggeber*innen stets möglich war, diese als vermeintliche Ausrutscher zu entschuldigen. Die Tatsache, dass nach der letzten Mittestudie 32,7% der repräsentativ ausgewählten Befragten der Aussage, Politiker und andere Führungspersonen seien Marionetten der dahinterstehenden Mächte zustimmen, und damit der Kernaussage des antisemitischen Marionettensongs, lässt Naidoos Positionen fast wie ein werbetaugliches Gimmick erscheinen, solange ihre rechte Ideologie sich nicht allzu offen und konstant präsentiert. Die eingangs erwähnten Videos, die seit März 2020 in schöner Regelmäßigkeit erscheinen, überschritten dagegen offenbar das Naidoo medial zuerkannte Maß an Verschwörungsideologie. Das scheint gewollt gewesen zu sein, bildeten sie doch den Beginn der Werbephase seines angekündigten »patriotischen Albums«. In einem Interview mit dem rechten Blogger Oliver Janich berichtete Naidoo stolz, wie er seine Chance genutzt hätte, vor dem kalkulierten Skandal noch bei DSDS in der Jury zu sitzen. Damit wandte er vermeintlich selbst jene Form der kalkulierenden List an, die er bei vermeintlichen Verschwörer*innen verabscheut, worin man einmal mehr einen Fall der pathischen Projektion erkennen mag.

Die Coronakrise als Brandbeschleuniger: Naidoo, Hildmann, Lovelock & Co.

Aktuell vertritt und verbreitet Naidoo die Theorie der sogenannten »QAnons«. Laut dieser verjüngen sich reiche, mächtige und berühmte Menschen durch den Konsum des in Kinderblut vorhandenen Stoffes Adrenochrom, das im echten Leben lediglich ein Abbauprodukt des Hormons Adrenalin ist. In unterirdischen Lagern würden dafür zahlreiche Kinder gefangen gehalten und ermordet. Als positive Figur stehe dem gegenüber US-Präsident Donald Trump, der in einer geheimen Mission derzeit die gefangenen Kinder befreien würde. Der Gegenangriff der Mächtigen bestehe derweil im Coronavirus, das bewusst dazu eingesetzt werde, die Bevölkerung von den tatsächlichen Vorgängen abzulenken und zugleich Grundrechte abzubauen. Die Erzählung von satanistischen, Kinder ermordenden Zirkeln ist bei Naidoo nichts Neues: Im 2012 erschienen Wo sind sie jetzt singt er über kindermordende Geheimbünde, wobei er diese in homophober Manier mit Homosexualität in Verbindung bringt. Strukturell zeigt sich hier einmal mehr die Nähe von Naidoos Theorien zum Antisemitismus: Ein altes und schon im mittelalterlichen Antijudaismus bekanntes Narrativ ist das der in okkulten Ritualen Kinder schlachtenden Juden*Jüdinnen. Die Coronakrise stärkt das Mobilisierungspotential von Verschwörungstheorien als irrationelle Krisenerklärungsversuche. Wo autoritärer Staat und kapitalistischer Markt an Grenzen stoßen, öffnen verkürzte Analysen Tür und Tor für das strukturell antisemitische Gerede der Verschwörungsideolog*innen. Getreu Adornos Ausspruch, dass ein Deutscher ein Mensch sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben, versammeln sich so seit vielen Wochen deutschlandweit Menschen in der Annahme, der Wahrheit hinter der alles umfassenden  Verschwörung auf die Schliche gekommen zu sein. Figuren wie Naidoo, der sich lange gesellschaftlich breiter Akzeptanz sicher sein konnte, schaffen hier Anknüpfungspunkte für diejenigen, die - sich selbst als normale Bürger*innen verstehend - vielleicht Bedenken hätten, gemeinsam mit offenen Neonazis auf die Straße zu gehen. Dieser gefährlichen Normalisierung entgegenzuwirken kann nur bedeuten, Xavier Naidoo und anderen Verschwörungsideolog*innen wie Atilla Hildmann oder Leon Lovelock keine Bühne zu bieten und ihre Ideologie als das zu entblößen, was sie ist: strukturell antisemitisch und autoritär. Wichtig bleibt dabei, klarzustellen, dass die Genannten keine vereinzelten Ideolog*innen sind, sondern dass ihre Ideologie nur in Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit der sie bestimmenden Wertförmigkeit und der aus ihr hervorgehenden Entfremdung begriffen werden kann und strukturell ihrer Erfüllung im Pogrom oder rechten Terroranschlägen entgegenstrebt. Somit ist diese Ideologie – um es mit dem leicht abgeänderten Titel eines Lieds von Xavier Naidoo zu sagen – allzu sehr von dieser Welt. Und genau diese Welt, in deren Fundament ihre falsche Selbsterkenntnis im Antisemitismus schon eingeschrieben steht, an eben diesem Fundament zu verändern, darunter kann unser Anspruch nicht liegen.

Autor*innen: Die Interventionistische Linke Rhein-Neckar kann nicht nur schlaue Analysen schreiben, sondern kämpft unter anderem auch aktiv für das Recht auf Stadt, den Queerfeminismus und ist sogar im Radio!

Bild: Wolf. von Miki Yoshihito. Das Bildnis vom Wolf im Schafpelz ist der Bibel entlehnt und umschreibt jene, die ihre schadenbringenden Absichten durch harmloses Auftreten angeblich zu vertuschen versuchen.