Nicht nur dein Problem.


Gesundheit als eine Frage der Gesellschaft

Gesundheit sollte nicht individuell verhandelt werden müssen, so die Autorin dieses Beitrags. Warum das Verständnis von Gesundheit in größerem Rahmen gedacht werden sollte und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, um den Gesundheitsbegriff zu politisieren, erfahrt ihr hier.

Während eines Termins bei unserer Hausärztin wird wohl vielen von uns einfallen, von dem chronischen Husten zu erzählen. Vielleicht auch den Tinnitus nochmal ansprechen, auch wenn wir wissen, dass wir uns selbst schon damit nerven und mensch ja sowieso nicht viel daran machen kann. Sollte das Gegenüber Vertrauen erwecken und ein bisschen mehr Zeit haben als sonst, fällt uns auch noch ein zu sagen, dass wir seit kurzem immer so plötzlich anfangen zu weinen, doch gar nicht genau wissen wieso. Wenn es gut läuft, erhalten wir einen sekundenlangen betroffenen Blick, eine Überweisung an andere Expert*innen und die Frage, ob wir schon einmal an eine Therapie gedacht haben, um das Weinen in den Griff zu kriegen...

Worüber wir nicht beim Thema Gesundheit und erst recht nicht in unserer Hausarztpraxis reden, sind unsere Wohnsituation und das Problem mit dem Schimmel – leider ruft uns der Vermieter nicht zurück, weil er weiß, dass wir uns eh keinen Anwalt leisten können. Worüber wir nicht sprechen, sind unsere drohende Arbeitslosigkeit oder der Umstand, dass wir eine halbe Stunde unterwegs waren, um eine Praxis zu erreichen, die überhaupt noch Patient*innen annimmt. Worüber wir nicht sprechen, ist, dass unsere Freundin, die leider nicht das Glück hat, den deutschen Pass zu besitzen, sich hier nicht einfach einen Termin machen konnte. Wir reden beim Arzt, in der Klinik oder wo immer Gesundheit gerade verhandelt wird, nicht über unsere kollektive Angst vor der Zukunft und existierende Ungerechtigkeit, die uns Unbehagen bereitet. Wir schweigen über die Bedrohung des Klimawandels, Ertrinkende im Mittelmeer und darüber, dass wir unseren Lebensstandard nur auf Kosten anderer aufrechterhalten können. Zu unserem bisherigen Gesundheitsbegriff gehört weder die Angst, unseren Aufenthalt zu verlieren, noch, abstrakt gesagt, in unserer Leistungsfähigkeit nachzulassen.

(Auch) Gesundheit ist nicht gerecht verteilt

Gesundheit ist eine Sache der Gesellschaft. Dieser Gedanke kann komisch klingen, weil wir sehr früh lernen, dass Krankheiten etwas sind, was uns passiert. Wenn wir Pech haben oder uns »falsch verhalten«. Aber es ist nicht allein Pech oder Eigenverschulden, was krank macht. Die Beweislage dafür, dass unsere Lebensverhältnisse darüber bestimmen, wie krank oder wie gesund wir sind und wie früh wir sterben, ist heute so gut, dass es kaum noch zu leugnen ist. In Deutschland leben die reichsten 10% der Bevölkerung ca. 10 Jahre länger als die ärmsten 10%. Dies lässt sich niemals nur durch »ungesunde Ernährung, an der die Leute selbst schuld sind«, erklären. Unsere Arbeit, unser Wohnort und unsere Umwelt, die Versorgung in unserer Stadt und unsere soziale Umgebung bestimmen in ihrem Zusammenwirken maßgeblich darüber, wie es uns geht.

Weltweit haben sich Gruppen zusammengefunden, die Gesundheit auf eine alternative, ganzheitliche Weise verstehen und sie in sogenannten Gesundheitszentren organisieren wollen und es zum Teil schon tun. In Lateinamerika wurden während der 1960er Jahre untragbare Arbeitsbedingungen und ungleiche Machtverhältnisse und deren Verknüpfung zu Gesundheit angeprangert. Resultat aus der Kritik war unter anderem die Entstehung von Stadtteilgesundheitszentren. Die Organisation Médecine pour le peuple in Belgien versorgt unter anderem mit den Forderungen nach gesellschaftlicher Transformation und nach hochwertiger Versorgung für alle bereits einen großen Teil der belgischen Bevölkerung – auch die ohne belgischen Pass. In Hamburg bringt die Poliklinik im Stadtteil Veddel juristische und psychologische Beratung, hausärztliche Versorgung und politische Organisierung unter ein Dach. In Berlin, Dresden und Halle verfolgen Menschen einen parallelen Ansatz und auch in Köln steht zurzeit ein »Schwesterprojekt« mit dem Namen SoliMed dazu in der Entstehungsphase

Soziale Determinanten von Gesundheit

Ansatzpunkt dieser Zentren sind häufig die sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit. Diese lassen sich, wie oben bereits angerissen, unter mehreren Kategorien wie Arbeit, Wohnen, Zugang zum Gesundheitssystem oder Diskriminierung zusammenfassen. Dass diese Lebensbereiche Einfluss auf unsere Gesundheit haben, lässt sich belegen und ist spürbar. Forschung aus dem Bereich »Embodiment« zeigt, dass Angst vor Entlassung sich in unsere Körper einschreibt. Personen, die länger arbeitslos sind, sterben mit höherem Risiko auch früher. In Köln arbeiten genau an den Orten die meisten Ärzt*innen, wo es den größten Wohlstand gibt. An Orten mit weniger Wohlstand sind die Menschen häufiger erkrankt. Hier gibt es aber – paradoxerweise - sehr viel weniger Allgemeinmedizinpraxen, Fachärzt*innen und Apotheken. Geflüchtete Personen müssen, um Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten, zum Teil erniedrigende Verfahren durchlaufen und bekommen manchmal nicht einmal die notwendigen Informationen, um überhaupt Hilfe anzufordern. Dies wird seit Jahren von Gruppen wie Women in Exile & Friends kritisiert, aber sehr gern beiseitegeschoben - beziehungsweise als Teil rassistischer Politik in Kauf genommen.

Bei den sogenannten »Determinanten« geht es nicht darum, sie in Kategorien einzuordnen und an einzelnen Stellschrauben zu drehen, sondern vielmehr, sie zusammen zu verstehen. Und zu fragen, in was für einer Gesellschaft wir zurzeit leben und welche Gruppen darin welche Privilegien haben. Wichtig ist aber auch zu verstehen, dass es nicht nur »die Armen« sind, die leiden. Unter unserem derzeitig durchökonomisierten Gesundheitssystem leiden wir alle, Gesundheit betrifft uns alle. Ungerechtigkeit ist etwas, das wir alle spüren. Leistungsdruck spüren wir alle. Vom Klimawandel sind wir alle – wenn auch nicht gleichermaßen – betroffen und wir alle wissen, dass wir uns gerade in »gläserne Patient*innen« verwandeln. Diese Probleme lassen sich nicht beseitigen, wenn einzelne zur Ärztin, zum Heilpraktiker oder zur Psychotherapeutin gehen.

Krankenhaus statt Fabrik

Wir müssen in den Blick nehmen, wie Gesundheit aktuell organisiert ist und erkennen, dass Privatisierung, Ökonomisierung und Selbstoptimierung Säulen sind, auf die unser Gesundheitssystem aufbaut. Gesundheit ist zu einem der größten Wirtschaftszweige überhaupt geworden. Die Arbeitsbedingungen in diesem System sind vielerorts menschenverachtend, ebenso wie die Versorgung erkrankter Menschen unter stetigem Kostendruck. Die Fallpauschalen (DRGs) in Krankenhäusern führen zu massiven Fehlanreizen und einem Nebeneinander von Unter-, Fehl- und Überversorgung. Im ambulanten Sektor sind Ärzt*innen zu Kleinunternehmer*innen geworden und müssen schauen, wie sie über die Runden kommen. Die Initiative Krankenhaus statt Fabrik zeigt uns bereits mit ihrem Namen, was gerade falsch läuft.

»Es ist ja nicht so schlecht wie anderswo« wird dann oft gesagt - wo immer dieses anderswo sein soll. Auf diese ›Argumentation‹ lassen wir uns jedoch nicht ein, weil sie die falschen Fragen aufwirft. Verglichen mit den Mitteln, über die der deutsche Staat verfügt, ist die Lage im Gesundheitssystem prekär. Und dies wird breit kritisiert: Im Verein demokratischer Ärzt*innen und Ärzte, bei der IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) oder Mezis (Mein Essen zahl’ ich selbst – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte) wird seit Jahren und Jahrzehnten stark gemacht, dass Gesundheit keine Ware ist. Junge Ärzt*innen und Studierende aus ganz Deutschland vernetzen sich seit einigen Jahren als kritische mediziner*innen und arbeiten in Krankenhaus, Uni und auf der Straße für eine neue Art, Gesundheit zu denken. Arbeitskämpfe von Seiten der Pflegenden nehmen in ganz Deutschland, von Berlin bis ins Saarland, zu. Bündnisse für mehr Personal in der Pflege vertreten lautstark ihre Forderungen nach guten Arbeitsbedingungen und einer menschlichen Pflege.

Seit mehr als einem Jahr gehört das Wort Corona zu unserem alltäglichen Sprachgebrauch. Die Idee für diesen Artikel ist vor dieser Zeit gedacht worden, aber die Pandemie verdeutlicht auf augenöffnende Weise unsere Hauptaussage: Gesundheit ist politisch. Aber die bisherige Antwort auf die Pandemie bleibt zumeist individualisiert: Die Einzelne oder der Einzelne kümmert sich darum und hält Abstand, hört auf, seine Freund*innen zu treffen. Genauso wie die oder der Einzelne zur Therapeutin geht, um die eigene Depression in den Griff zu bekommen. Mit der Forderung, Abstand zu halten, verhält es sich ähnlich wie mit der Forderung mit dem Rauchen aufzuhören: Beides mögen sehr sinnvolle Forderungen sein. Trotzdem bleiben sie hochgradig unpolitisch. Denn sie finden auf der Ebene des Einzelnen statt. Gehen wir nicht darüber hinaus, drohen wir eher gesellschaftlichen Wandel zu verhindern, als ihn zu fördern. Uns kommt es so vor, als könnten wir so Verantwortung übernehmen und Dinge ändern. Doch die Dinge, die wir ändern, sind lediglich unser eigenes Verhalten und Erleben. Es sind nicht unsere Verhältnisse. Und damit wird Verantwortung zu Pseudoverantwortung. Wahre Verantwortung kann nur auf vielen Schultern getragen werden, sie kann nur geteilt existieren. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, das Pflegesystem zu reformieren und Menschen, die darin arbeiten, anständig zu bezahlen. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, die Patente für Impfstoffe freizugeben, damit tatsächlich mal etwas von Solidarität, die über nationale Grenzen hinausgeht, zu spüren ist. Gerade jetzt wäre es wichtig, die Frage zu stellen, was das gute Leben für alle bedeutet und so zum Beispiel das Leben in Altenheimen grundsätzlich zu verbessern und nicht bloß das Überleben von allen durch niedrige Infektionszahlen zu propagieren.

Kollektive Organisierung

Wir müssen die Art ändern, wie wir über Gesundheit nachdenken, und verstehen, dass eine kranke Person in einem kranken System nur schwer gesund werden kann. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, welche Bedingungen es braucht, damit wir uns gesund fühlen. Es braucht eine radikale Veränderung der Verhältnisse. Es braucht Orte, an denen Menschen sich mit anderen Menschen austauschen können, die die gleichen Probleme kennen. Menschen, die in Gruppen organisiert sind, in denen sie Druck auf die Strukturen ausüben können, die sie unterdrücken. Es braucht sozialen Zusammenhalt, der durch die Pandemie so unfassbar brutal eingeschränkt wird. Es braucht konkrete kollektiv formulierte Forderungen nach verkürzter Arbeitszeit und besseren Arbeitsbedingungen gerade im Gesundheitssektor, es braucht sichere vernünftige Versorgungsstrukturen, die für alle erreichbar sind, konkrete Maßnahmen gegen gesellschaftliche Bedrohungen wie den Klimawandel und es braucht Strukturen, in denen alle – egal wie leistungsstark, reich und deutsch - mitentscheiden können. Es braucht ein System, in dem Verantwortliche - und damit meinen wir dann auch unter anderem die kranke Person – Gesundheit ganzheitlich denken und unterschiedliche Ursachen in den Blick nehmen können. Sonst bleiben die Ursachen weiterhin im Nebel und die Menschen weiterhin krank. Wir müssen raus aus der Vereinzelung und aus der Ohnmacht.

Leseempfehlungen:

Autorin: Freytag Grau ist seit 3 Jahren in der Kölner Gruppe Solimed unterwegs und hat ihre Inspiration dafür vor allem in Gesundheitszentren im Libanon und in Griechenland gewonnen. Ansonsten ist sie kritische Psychologiestudierende und begeistert sich für Tanz und andere Formen von joyful militancy.

Dieser Artikel wurde erstveröffentllicht in der wunderbaren arranca!. Die Ausgabe #54 - »Kämpfe um Gesundheit« und viele andere können hier bestellt werden.

Bild: tree in the fog, von bambe1964.