Krise als Gelegenheit?


Die Corona-Pandemie und die Philosophie der Kairós-Zeit

Die jetzige Corona-Krise bietet die Gelegenheit für eine neue solidarisch-demokratische Politik. Doch die Krise kann auch zur Katastrophe werden – wenn die radikale Linke den jetzigen Moment nicht für Organisierung nutzt, betont Alexander Neupert-Doppler.

Nun ist die Zeit der Praxis, der praktischen Solidarität. Politische Praxis ihrerseits braucht Theorie, theoretische Reflexion auf die Frage, was gegenwärtiges Handeln für zukünftige Entwicklungen bedeutet. Als ich letzten Sommer mein Buch ›Die Gelegenheit ergreifen‹ beendete, zitierte ich an prominenter Stelle folgenden Satz von Michael Hardt und Antonio Negri aus ihrem Buch ›Commonwealth‹ von 2009: »Krise heißt (…) nicht Kollaps«, sondern »bietet eine Gelegenheit, aber es bedarf politischer Organisierung, um das Ganze voranzutreiben«. Im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie ist hier eine Krise des Kapitalismus gemeint. Soll Krise nicht Kollaps bedeuten, sondern auf Organisierung und Gelegenheiten verweisen, so ist der Krisenbegriff zu weiten. Inwiefern ist die jetzige Corona-Krise auch eine politische und wirtschaftliche Krise, gar eine politische Gelegenheit?

Heidrun Kämper hat 2012 darauf hingewiesen, was Krisen und Katastrophen unterscheidet: »›Krise‹ bezeichnet gegenwartsbezogen den Moment eines Prozesses, an dem sich die weitere Entwicklung dieses Prozesses entscheidet und der von umfassenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen begleitet ist (…). Es ist der Moment des Kairós«. Kairós, der griechische Gott der guten Gelegenheiten, steht hier als Denkfigur für eine historische Zeit, in der einschneidende politische Weichenstellungen möglich sind. Kairologische Zeit meint eine Unterbrechung der gewöhnlichen, kontinuierlichen chronologischen Zeit. Kairós ist somit auch das politische Bindeglied zwischen der Kritik an Bestehendem, was nicht-mehr sein soll, und der möglichen Utopie, was noch-nicht ist. Wofür bzw. für wen bietet nun die Corona-Krise Gelegenheiten?

Geschichte ist nicht, wie sogenannte fortschrittliche Kräfte lange Zeit glaubten, Entwicklung zum Besseren. Sie ist aber auch nicht, wie postmoderne Denker*innen gerne behaupten, nur noch rasender Stillstand. Geschichte ist die Geschichte verpasster und ergriffener Gelegenheiten. Die Geschichte des Kapitalismus, die Francis Fukuyama 1992 mit Demokratie und Marktwirtschaft an ihrem glücklichen Ende wähnte, schleppt sich seit jeher von Krise zu Krise. Zu denken wäre z.B. an die Asienkrise 1997/1998, die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 oder die Politisierung der Klimakrise 2018 durch die Fridays for Future. Gerade das letzte Beispiel verweist auch auf den politischen Aspekt von Krisenwahrnehmungen. Zu Krisen gehört es, dass sie sich einerseits ereignen und sogenannten Markt- oder Naturgesetzen folgen, andererseits von Menschen erkannt, benannt und bearbeitet werden. Das gilt ebenso für einen Kairós.

Der Philosoph, Theologe und Sozialist Paul Tillich fasste den entscheidenden Moment, angesichts der Gefahr zu Beginn der 1930er Jahre, folgendermaßen: »Weil die Zeit für etwas reif ist, bricht das Bewußtsein ihrer Reife in den sensitivsten Geistern durch. Und weil das Bewußtsein durchgebrochen ist, wird das, was potentiell da war, aktuell und geschichtswirksam. Nur wo diese beiden Faktoren zusammentreffen, kann man von einem Kairós reden«. Von einer Klimakrise kann objektiv seit dem Bericht des Club of Rome 1972 gesprochen werden, die Zeit für eine sozial-ökologische Wende ist reif. Auch technische Möglichkeiten zu einer Energiewende sind objektiv vorhanden. Auf der subjektiven Seite ist es zunächst die Sensitivität der Schüler*innen, die zu einem Kairós der Klimabewegung beiträgt. Worauf es dann ankommt ist die Konzentration von Kräften, die sich um eine Nutzung des verfügbaren Zeitfensters bemühen.

Inwiefern zeigen sich auch in der Corona-Krise Anzeichen für den Durchbruch historischen Bewusstseins? In der ›tageszeitung‹ hieß es am 21. März: »Der Neoliberalismus ist am Ende. Nur der Staat kann den Kapitalismus retten«. Massive Neuverschuldung und ähnliche Maßnahmen zeigen an, dass das Staatspersonal die Zeichen der Zeit tatsächlich verstanden hat. Aber kann es dabei nur um einen erneuten Pendelschlag vom Marktextremismus zum Staatsfetischismus gehen? Bietet die Corona-Krise nicht auch ein Gelegenheitsfenster, um Forderungen zu entwickeln, die über die Rettung des Kapitalismus hinausweisen? Wie verhalten sich Katastrophe und Krise, Gelegenheit und Organisierung, Kairós und Weichenstellungen?

Katastrophe und Krise

Katastrophe, von katastrophé = Umwendung, meint den schlechten Ausgang einer Krise. Der Philosoph Walter Benjamin schrieb dazu: »Definitionen historischer Grundbegriffe: Die Katastrophe – die Gelegenheit verpasst haben«. Nicht nur das Auftreten einer Pandemie, auch der Umgang mit ihr kann katastrophisch werden – nämlich dann, wenn der Kairós zum richtigen Handeln verpasst wird. Nun ist eine Gelegenheit stets Gelegenheit für einen bestimmten Zweck, von dem aus sich Mittel und günstige Umstände bestimmen lassen. Insofern war zum Beispiel die Finanzkrise ab 2007/2008 auch eine Gelegenheit für die deutsche Bundesregierung, um ihre Politik der Austerität im europäischen Rahmen durchzusetzen. Die Gelegenheit zu einer Abkehr vom Neoliberalismus, als Zweck oppositioneller Kräfte, wurde hingegen verpasst. Beide Zwecke entstanden nicht erst in der Krisensituation, sondern bestanden vorher.

Ändern sich die Umstände, kommt es auf die vorhandenen Mittel an. Judith Dellheim, Referentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Solidarische Ökonomie, schrieb zehn Jahre später über diesen verpassten Kairós: »Die emanzipativ-demokratischen Kräfte« scheiterten daran, »den Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 zur Stärkung ihrer Machtpositionen und zur Veränderung der Richtung gesellschaftlicher Entwicklung (zu) nutzen. Sie waren nicht dazu vorbereitet«. Vorbereitung meint in dieser Denkrichtung, von Benjamin und Tillich bis zu Negri und Dellheim: Organisierung. Konnte ich letztes Jahr noch mit der Frage nach ‚Organisation als Geburtshelferin des Kairós?‘ schließen, stellt sich in der Corona-Krise die Knappheit der Kairószeit wesentlich gravierender dar. Für die emanzipativ-demokratischen Kräfte, die um eine sozial-ökologische Transformation kämpfen, kommt nun eine entscheidende Zeit.

Schließlich ist auch eine Krisenpolitik zu Corona möglich, welche die Pandemie erfolgreich verzögern kann und trotzdem auf eine Reihe gesellschaftlicher Katastrophen hinausläuft: Die drohende Wirtschaftskrise trifft auch und gerade den Dienstleistungssektor. Dieser ist weniger abhängig von großen Investitionen, kann aber in einem Exportland wie Deutschland auch weniger als andere Sektoren mit staatlichen Unterstützungen rechnen, wenn diese nicht massiv eingefordert werden. Weiterhin droht in der Post-Corona-Situation die Abwälzung der Rettungskosten auf die Bevölkerung. Mit diesen ökonomischen Fragestellungen korrespondieren Tendenzen zum autoritären Staat. Angedachte autoritäre Maßnahmen, wie etwa die Durchsetzung von Ausgangsbeschränkungen durch umfassende Handyüberwachung, verschieben den Rahmen des politisch Machbaren.

Sogar die richtigen Aufrufe zur Solidarität tragen Merkmale einer exkludierenden Solidarität. Die jüngste tödliche Verschärfung des europäischen Grenzregimes gerät angesichts der nationalstaatlichen Krisenpolitik aus dem Blickfeld. Nicht zuletzt für die populistische Rechte bietet die Corona-Krise einen Angst-Rohstoff, der für eine weitere Verschärfung von Migrationspolitik genutzt werden kann. Die von den Demonstrationen der Seebrücke-Bewegung schön länger geforderte Evakuierung der Lager in Griechenland, die angesichts der Epidemie noch dringlicher wäre, scheint noch weniger gehört zu werden. Selbiges gilt für die Situation von Geflüchteten in hiesigen Massenunterkünften. An sie wird selten gedacht, wenn in offiziellen Verlautbarungen davon die Rede ist, es käme nun tatsächlich auf Alle an. In diesem Sinne kann auch die vermeintliche Lösung der jetzigen Krise katastrophisch sein.

Benjamin wusste als Kapitalismuskritiker: »Daß es so weiter geht, ist die Katastrophe«. Bereits jetzt trifft die Corona-Katastrophe nicht alle Menschen gleichermaßen. Geflüchtete an den Grenzen, in den Heimen und Wohnungslose können nicht einfach zuhause bleiben, da sie keines haben. Auch für Betroffene von sexualisierter Gewalt sind solche Appelle eine Drohung. Eltern werden anders belastet als Alleinstehende, Mietende anderes als Eigentümer*innen. Homeoffice ist keine Option für Arbeiter*innen in Pflege, Gastronomie und Produktion. Über die Pandemie hinaus werden aber gerade diese Gruppen in absehbarer Zukunft vor dem Problem nachfolgender ökonomischer, sozialer und politischer Krisen stehen. Worum es nun geht ist eine Politisierung von Zukunft. Dies stellt einschneidende Aufgaben an eine Politik von unten, die bereits vor Corona unter dem Schlagwort einer verbindenden Klassenpolitik diskutiert wurde.

Benjamin riet, in der Endkrise der Weimarer Republik, zur Konzentration der Kräfte auf: »Zukunftsdrohung ins erfüllte Jetzt zu wandeln (…) ist Werk leibhafter Geistesgegenwart«. Die Zeit dafür ist jetzt wieder da.

Gelegenheit und Organisierung

Krisenzeiten bieten in der Regel gleichzeitige Gelegenheiten für verschiedene Kräfte. Ein lehrreiches Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist die sogenannte Migrations- beziehungsweise Rassismus-Krise von 2015. Zunächst gab es eine Welle der Hilfsbereitschaft, welche die sogenannte Willkommenskultur ausdrückte. Übersehen wurden dabei die Kämpfe der Geflüchteten gegen Massenunterkünfte, Abschiebungen, Grenzen.

Sunny Omwenyeke von der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant*innen kritisierte 2016: »Bevor wir uns auf die Schultern klopfen, sollten wir uns daran erinnern, dass es um Gerechtigkeit geht, und nicht um Philanthropie. Die politische Flüchtlingsbewegung fordert Solidarität und Empathie, nicht Bevormundung und auch keine Politik, die nur das ungerechte System in der Welt reproduziert«. Solidarität muss politisch werden! 2015/2016 wäre dann ein kleiner Kairós für eine andere Migrationspolitik gewesen. Leider blieb, wie Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken in der Analyse & Kritik vom März 2020 schreibt, eine Politisierung aus. Die 2013 gegründete AfD nutzte die Zeit als Gelegenheit zur Hetze. »Die Solidaritäts- und Willkommensbewegung hatte trotz ihrer zahlenmäßigen Größe diesem rechten Backlash wenig entgegenzusetzen. Sie war beschäftigt mit der Unterstützung vor Ort, hatte keine gemeinsame politische Agenda, keine Orte sich auszutauschen und Gegenwehr zu organisieren. (…) So blieb das politische Feld weitgehend den Feind*innen der Solidarität überlassen«.

Eine ähnliche Situation könnte sich nun wiederholen. Im März 2020 entstehen in vielen deutschen Städten Initiativen, die sich um Solidarisierung angesichts der Corona-Krise bemühen. Nachbar*innen, die sich vielleicht vorher gar nicht kannten, kümmern sich um Ältere, organisieren zum Beispiel Einkaufshilfe. Freilich ist es sehr zu begrüßen, wenn eine gemeinsam erlebte Gefahr als Gelegenheit zur Solidarisierung begriffen wird. Zugleich muss es jetzt darum gehen, eine Politisierung der Krisenbearbeitung in Angriff zu nehmen. Politik, die sich ansonsten in der Chronologie von Legislaturperioden und Tarifrunden bewegt, könnte nun lange bestehende Probleme, wie Wohnungsnot und Prekarisierung, unter anderen Vorzeichen angehen. Die Ankündigung der Bundesregierung vom 21. März, wonach zwischen Mai und September Jahres keine Kündigungen aufgrund von Mietschulden erlaubt sind, geht in die richtige Richtung – anschließend wird es um einen Mietschuldenerlass gehen müssen! Vielleicht lässt sich, zumindest anhand von Forderungen, endlich der Schritt von einer intervenierenden zur organisierenden gesellschaftlichen Linken vollziehen? Ein gutes Beispiel sind die Forderungen der Initiative Corona-Soli Köln: Evakuierung der Geflüchtetenlager! Corona-Grundeinkommen für Alle! Aneignung von Hotelzimmern für jene, denen Gewalt droht!

Hier wird deutlich, was eine antirassistische und feministische verbindende Klassenpolitik sein könnte. Theoretisch festzuhalten bleibt, dass eine Krise auch Kairós für die Konstitution neuer Organisationsformen sein kann. In ihrem Weltbestseller ›Empire‹ aus dem Jahr 2001 betonten Hardt und Negri die Bedeutung von Organisierung für einen Bruch mit dem Bestehenden, der seinen Ausgangspunkt in ganz alltäglichen Praxen findet und somit eine solide Grundlage für Politikwechsel böte. »Sicherlich muss es einen Augenblick geben, an dem die Wiederaneignung und Selbstorganisation eine Schwelle erreichen und zu einem realen Ereignis werden. (…) Das einzige Ereignis, auf das wir noch immer warten, ist dasjenige der Errichtung oder genauer: der revolutionären Erhebung einer mächtigen Organisation«. Damit ist keine Neu-Gründung von Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, Bewegungen oder anderen Organisationen gemeint, sondern vielmehr das Wirksamwerden solidarischer Netzwerke.

Sind solche Netzwerke in der Corona-Krise im Entstehen? Dies wird sich an der Frage entscheiden, ob aus der gegenseitigen Hilfe, die aus der Not geboren ist, auch Formen einer politischen Solidarität entstehen, die als Ansprüche die Politik nach der Krise prägen können. So wenig dies absehbar ist, umso mehr hängt es von Perspektiven ab, die wir heute aufmachen. Widerstand gegen Abschiebungen, Klimaerhitzung, Sexismus, Sozialabbau und Zwangsräumungen werden auch und gerade nach der Corona-Krise bitter nötig sein. Soll die Krise als Kairós genutzt werden, geht es darum sich vorzubereiten auf eine Zeit, in der es geboten sein wird, »Widerstand auch in einer Form konstituierender Macht umzuwandeln, um die sozialen Beziehungen und Institutionen einer neuen Gesellschaft zu schaffen«. Zukunftsmusik? Ja. Aber auch ein nötiger Rhythmus für (Krisen-)Politiken der Hoffnung!

Kairós und Weichenstellungen für die Zeit nach Corona

Eine weit verbreitete Metapher im Hinblick auf eine anstehende Zukunftspolitik ist die Weichenstellung. Mario Neumann und Maximilian Pichl schreiben im ›Freitag‹ (12/20) über den Ausnahmezustand: »Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt, die Weichen werden in der beginnenden Wirtschaftskrise, der Entwicklung der sozialen Infrastruktur, der Geltung von Menschenrechten und dem Fortgang der Demokratie gestellt«. Gelegenheit und Gefahr gehen dabei Hand in Hand. Zumindest aber verweisen die teilweise sozialen, teilweise autoritären Maßnahmen auf einen Bruch mit der gängigen politischen Logik. Diese ist in der Regel von Entwicklungspfaden abhängig, wie der Politikwissenschaftler Claus Offe sagt. »Die Periodizität von allgemeinen Wahlen macht es politisch kostspielig, den Wählern Opfer und Anstrengungen abzuverlangen, die vielleicht erst in der übernächsten Wahlperiode beginnen, Erträge abzuwerfen. […] Insofern tendiert die Logik des politischen Prozesses dazu, die Zukunft zu diskontieren (wenn nicht auszubeuten), die verbleibende Zeit für die vorsorgende Gestaltung der Zukunft zu unterschätzen und den richtigen Zeitpunkt (Kairós) für Weichenstellungen zu verpassen«. In der Krise gerät Politik doppelt in Bewegung: Zum einen verkürzt sich der Handlungszeitraum von Legislaturperioden auf die Gegenwart von Wochen, gar Tagen, zum anderen sind es Tage und Wochen, in denen neue Zukunftspfade aufscheinen.

Sandro Mezzadra berichtet am 14. März auf der Internetseite ›Euronomade‹ aus Italien von Streiks in Fabriken, wo die Arbeitenden es nicht hinnehmen, dass sie trotz Ansteckungsgefahr weiterhin arbeiten sollen. Hier schärft die Krise das Klassenbewusstsein. Allerdings erinnert uns die Corona-Krise auch daran, dass dessen nationale Formen unzureichend sind. »Das Virus hat auf spöttische Weise den völlig illusorischen Charakter der Herrschaft und des Grenzfetischismus aufgezeigt«. In der globalen Welt sind nicht nur Waren und, trotz allen Widrigkeiten, auch Menschen mobil, sondern eben auch Epidemien. Hilfe, die für Europa zum Beispiel aus China kommt, verweist auf die Notwendigkeit transnationaler Perspektiven. Gesundheitspolitik wird zum globalen Politikfeld einer noch nicht existierenden Weltrepublik, was allen nostalgischen Träumen der Rechten von nationaler Souveränität entgegengehalten werden muss.

Die Alternative muss zur konkreten Utopie gebündelt werden, um Politik orientieren zu können. Alex Demirović schreibt in seinem Text ›In der Krise die Weichen stellen‹ für die Zeitschrift ›Luxemburg‹, die Not der Krise mache die Notwendigkeit von guten öffentlichen Einrichtungen einsehbar. Was für die Klimakrise gilt, etwa mit Bezug auf öffentlichen Nahverkehr, verdichtet sich im engen Zeitrahmen der Pandemie. Demirović kommt zu der zentralen These: »Ein Infrastrukturkommunismus würde helfen«. Nur: Wie durchsetzen? Verena Kreilinger und Christian Zeller vom ›Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative‹ geben in ›Corona-Epidemie – Eine historische Wende‹ zu Recht zu bedenken: Es »trifft diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen«. Andererseits konnten, worauf mich Lisa Doppler hinwies, im Refugee-Streik der Jahre 2012-2015, in den KiTa-Streiks, den Recht-auf-Stadt-Mobilisierungen und den Frauen- und Klimastreiks der letzten Jahre, viele Menschen Erfahrungen machen. Die Perspektive von Demirović, »Denormalisierung transformatorisch wenden«, setzt voraus, sich nun darauf aufbauend zu organisieren.

Die Corona-Krise ist ein Organisierungs-Kairós. Das Denkbild vom Gott der Gelegenheit illustriert die Idee.

Kairós trägt auf antiken Darstellungen die Schicksalswaage auf Messers Schneide, sie kann sich in unserem Fall sowohl zur Seite einer marktradikal-autoritären Lösung der kommenden Wirtschaftskrise als auch zur Seite einer solidarisch-demokratischen Politik neigen, wie es Neumann und Pichl betonen. Da der geflügelte Kairós schnell vorbeifliegt, ist genau jetzt, wie Demirović vorschlägt, ein Infrastrukturkommunismus als Hebel wie Maßstab der Kritik anzusetzen. Wie schwierig es ist, einen Kairós zu nutzen, wird durch dessen vorderen Haarschopf und den kahlen Hinterkopf symbolisiert: Es ist schnell zu spät, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Es kommt daher, wie Mezzadra betont, darauf an, sich vorzubereiten, sich zu verbinden, sich transnational zu organisieren. Antonio Negri schrieb 2003: »Kairós ist eine Art, die Welt zu sehen«. Angesichts der schrecklichen Weltlage heute ist einzusehen: Es geht um eine Konzentration auf Folgen der Corona-Krise, um die Konstitution einer starken sozialen Linken zu befördern.

Autor: Dr. Alexander Neupert-Doppler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Theorie am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. Nach Büchern zu ›Staatsfetischismus‹ (2013) und ›Utopie‹ (2015) erschien 2019 sein Buch ›Die Gelegenheit ergreifen – Zur Politischen Philosophie des Kairós‹. Zur Denkfigur des Kairós schrieb er bereits für den Debattenblog.

Das Bild des Kairós wird uns von den Libertären Kommunist*innen Osnabrück zur Verfügung gestellt.