Politik in der Krise – 15 Thesen


3/3: Moralische Ökonomie in der Corona-Krise

Für ein politisches Verständnis der aktuellen Krise greift die Frage zu kurz, wer für sie bezahlt. Wir sehen aktuell eine enorme Lernfähigkeit des herrschenden Blocks, die jedoch untrennbar verbunden ist mit einer tiefen Krise neoliberaler Herrschaftstechnologie. Ein Blick für diese Gleichzeitigkeit ist wichtig, um ein Verständnis der Gefahren und der Möglichkeitsfenster für ein emanzipatorisches Eingreifen zu entwickeln.

  1. Dabei hat sowohl die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff als auch die Corona-Krise gezeigt, dass die staatliche Liquiditätsgarantie ein mächtiges Souveränitätsrecht ist. Vielleicht ist die selektive Garantie der Dollar-Liquidität inzwischen sogar eine mächtigere Stütze der bröckelnden US-Hegemonie als der gesamte Gewaltapparat der US-Army. Die Liquiditätsgarantie ist damit ein politischer Akt sui generis. Ob Kurzarbeiter*innengeld, Kompensationen für Einnahmeausfälle, Kreditgarantien für Unternehmen: Die Abhängigkeit der Unternehmen von den Liquiditätsspritzen des Staates haben in kürzester Zeit ein Fester geöffnet, in dem demokratische Ziele gegenüber dem Kapital hätten durchgesetzt werden können. Darauf wurde weitestgehend verzichtet – während gegenüber Ländern wie Griechenland im Anschluss an die Finanzkrise die finanzielle Abhängigkeit als Hebel genutzt wurde. Die technokratischen »Rettungs«-Aktivitäten für die »angeschlagenen Unternehmen« machen deutlich, dass die Machtprobe mit dem Kapital nicht gewollt ist, während sie mit den populären Klassen der süd-osteuropäischen Krisenländer erbarmungslos gesucht wurde – bis hin zur gewaltsamen und autoritären Krisenlösung und Erpressung. Dies zeigt auch die Grenzen jeder sozialdemokratischen Politik, für die die Unantastbarkeit des Privateigentums sakrosankt ist. Für eine antikapitalistische Linke stellen sich jedoch anderseits aus diesen Erfahrungen, Fragen zur Bedeutung des Staates in der Krise für unsere Konzepte gesellschaftlicher Transformation. Welche Konsequenzen hat es für linke Strategien, dass wir viel zu weit weg von den Staatsapparaten waren um die Machthebel, die in dieser Krise gegenüber dem Kapital angelegt waren, auch nur im Ansatz nutzen zu können? Welche Bedeutung hat diese Erfahrung für unsere Transformationsstrategien?

  2. Nach 2007 hat es das Kapital verstanden, gestärkt aus der Krise hervor zu gehen. Das ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer bruchlosen Fortsetzung der Hegemonie austeritärer Ordnungspolitik. Die Fähigkeit, die Abhängigkeit von staatlichen Finanzhilfen in eine Dominanz des Finanzkapitals zu wandeln, liegt in der Verwandlung der Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Staatsschuldenkrise. Auch in der aktuellen Krise sehen wir die Vorbereitungen für dieses finanzpolitische Aikido. Mit den neuen Schulden, die aufgenommen werden, werden zugleich bereits die Tilgungspläne verabschiedet.(1) Damit wird institutionell die nächste Runde der Austerität vorbereitet. Die Botschaften dazu werden bereits eingeübt: »Nachdem wir gemeinsam die Krise überstanden haben, müssen wir nur gemeinsam ihre Kosten zahlen.« Nachdem schon auf progressive Bedingungen für die Vergabe der staatlichen Unternehmenshilfen während der Krise verzichtet wurde, bleibt so auch danach für Experimente (z.B. die Enteignung von Wohnungsunternehmen) kein Platz mehr. Zugleich merken jedoch selbst deutsche Ökonomen derzeit, dass Schulden zu Niedrigzinsen nicht zwangsläufig ein Problem darstellen. Damit aktualisiert sich aber bislang nur ansatzweise die potentiell in der EZB-Politik angelegte Politisierung der Schulden. Demgegenüber bräuchte es gesellschaftliche Kräfte, die die Re-Politisierung der Schulden gegen das austeritäre Narrativ als Chance begreift.(2)

  3. Wenn es stimmt, dass das Zentrum der neoliberalen Konterrevolution in der institutionellen Beschneidung der politischen Handlungsfähigkeit besteht, dann ist diese Hegemonie aktuell brüchig. Das linke Lamento, das in der aktuellen Staatsverschuldung lediglich die Ouvertüre für den nächsten Austeritätsschub entdecken will, verkennt die qualitative institutionelle Verschiebung, die mit der sekundären Verstaatlichung der Schulden durch die EZB einher geht. Es verkennt die Risse im hegemonialen Block, die sich z.B. in den Konflikten in der EZB zeigen. Es reflektiert nicht die Tatsache, dass die EU gerade bereit ist, 390 Mrd. Euro als nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse zu vergeben(3), nur um zu verhindern, dass sich die südeuropäischen Staaten souverän verschulden können. Darüber hinaus werden sowohl im Rahmen der Digitalisierungs- als auch der Green-New-Deal-Diskussionen von CDU bis Grünen wieder stärkere Formen der wirtschaftlichen Planung eingefordert. All das ist nicht aus sich heraus progressiv. Es verdeutlich jedoch die Krise des Marktes als Regierungstechnologie. Die Fesseln sind gelöst. Die Frage ist nun, wie laut die Sirenengesänge werden. Dies aber wird nicht in den Staatsapparaten entschieden, sondern in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die beginnen, wenn versucht wird das Schuldenregime in einen neuen Disziplinierungsschub für die Gesellschaft zu übersetzen. Das Gelegenheitsfenster ist jedenfalls da, über die sozialen Konflikte die Bruchstellen der institutionellen Rigidität zu vertiefen. Konkreter gesprochen: Der Druck für die Politik, die aktuell sichtbar werdenden Finanzierungsmöglichkeiten auch zu nutzen, kann durch unsere Kämpfe verstärkt werden, wenn sie sich nicht vom Schuldenparadigma einschüchtern lassen.

  4. Um die aktuellen Auseinandersetzungen als Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Gesellschaft führen zu können, müssen wir aus dem herrschenden Dispositiv der Schuldenlogik heraustreten. Die Frage »Wer zahlt für Schulden« greift zu kurz, weil sie im hegemonialen Diskurs der Schulden verhaftet bleibt. Die Frage bleibt zwar wichtig, weil sie es ermöglicht, den gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Gewinner*innen und Verlier*innen der herrschenden Gesellschaftsordnung zu markieren. Sie löst das allgemeine »Wir« auf in eine Klassen- und damit Verteilungsfrage. Sie stellt damit den gesellschaftlichen Reichtum und seine groteske Ungleichverteilung in den Mittelpunkt. Austerität ist aber mehr als Umverteilung. Sie ist Gouvernementalität – Einheit von Institution und Ideologie. Sie ist die Organisation institutioneller Rigidität gegen Ansprüche von unten, in deren Mittelpunkt die Schulden stehen, die moralisch als Ausdruck von Maßlosigkeit in der Vergangenheit oder als Verpfändung der Zukunft (die künftigen Generationen) gedeutet werden. Dem muss entgegen gehalten werde, dass eine Gesellschaft als Ganzes sich nicht verschulden kann. Schulden konstituieren Schuldverhältnisse. Welche Machtstrukturen sich daraus ergeben, ist der Gegenstand gesellschaftlicher Kämpfe.

  5. Jeder Versuch der Durchsetzung eines neuen Schuldenregimes trifft dabei auf eine veränderte moralische Ökonomie von unten. Die aktuelle Krise hat zu einer Aufwertung von gesellschaftlicher Planung geführt und Berufe in den Mittelpunkt gerückt, die bislang gesellschaftlich abgewertet wurden. Diese moralische Aufwertung wird nicht so einfach zurück zu drehen sein. Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eine solche gesellschaftliche Aufwertung sich auch übersetzt in eine erhöhte Kampfbereitschaft der entsprechenden Berufsgruppen. Die neuere Entwicklung tritt zu einem säkularen Trend hinzu, dass in vielen Bereichen, die in den letzten Jahrzehnten prekarisiert wurden und sich oft um die soziale Daseinsvorsorge gruppieren, seit einigen Jahren neue Ansprüche an gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung entstehen, die sich zunehmend in kleine und große Konflikte übersetzen. Zum Teil verbinden sie sich dabei mit universalistischen Perspektiven etwa wie aktuell in den Auseinandersetzungen um den Öffentlichen Nahverkehr die gewerkschaftlichen Kämpfe mit der Klimabewegung und Fridays for Future. Auch in der Forderung nach Schuldenstreichung liegt das Potential für internationale Solidarität. Zusammen mit Umverteilungsforderungen, wie sie z.B. durch »Wer hat, der gibt« formuliert werden, ließe sich die Auseinandersetzung um das gesellschaftlich Mögliche offensiv führen. Die Möglichkeitsfenster waren noch sie so weit geöffnet, die über die letzten 40 Jahre immer enger gewebte goldene Zwangsjacke abzustreifen. Das zutiefst politische Moment, das sich in dieser Krise als Gestaltungsfähigkeit von Gesellschaft zeigt, zu verteidigen gegen die Versuche ein neues eisernes Gehäuse der Sachzwänge zu schmieden, ist die aktuelle Aufgabe linker Politik und Praxis.

Den ersten Teil der Reihe mit den Thesen 1-5 findest du hier, den zweiten mit Thesen 6-10 hier.

Zum Weiterlesen:

(1) Aktuelle Zahlen zur Staatsverschuldung in Deutschland.

(2) Zu Planwirtschaft und Geldpolitik.

(3) Weiteres zu aktuellen Entwciklungen der Geldpolitik in der EU hier und hier.

Autor: Kalle Kunkel ist in der Stadt-AG der IL-Berlin aktiv.

Bild: Der Aufstand in Chile 2019 richtete sich gegen die Institutionalisierung kapitalistischer Herrschaft in der Verfassung von Chile. Sie war das Modell-Projekt für die „Entthronung der Politik“, die mit diktatorischer Gewalt durchgesetzt wurde. Quelle: Frente Fotográfico