Politik in der Krise – 15 Thesen


1/3: Politische Ökonomie der Corona-Krise

Für ein politisches Verständnis der aktuellen Krise greift die Frage zu kurz, wer für sie bezahlt. Wir sehen aktuell eine enorme Lernfähigkeit des herrschenden Blocks, die jedoch untrennbar verbunden ist mit einer tiefen Krise neoliberaler Herrschaftstechnologie. Ein Blick für diese Gleichzeitigkeit ist wichtig, um ein Verständnis der Gefahren und der Möglichkeitsfenster für ein emanzipatorisches Eingreifen zu entwickeln.

  1. Nie war so viel Politik in einer Krise. Jede Krise ist geprägt durch das Wechselspiel von ökonomischen Dynamiken, Kapitalstrategien und politischen Eingriffen. Trotzdem hat diese Krise eine neue Qualität, denn noch nie wurde außerhalb von Kriegszeiten die Ökonomie politisch bewusst in diesem Ausmaß eingeschränkt und gleichzeitig der kapitalistische Meltdown bislang durch Gegenmaßnahmen erfolgreich verhindert.

  2. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass der kapitalistische Raubbau an der Natur das Überspringen von Viren aus tierischen Populationen auf den Menschen (Zoonose) wahrscheinlicher macht. Die Theorien, die das Covid-19 Virus damit zu einem immanenten ökonomischen Effekt des Kapitalismus erklären wollen, tragen jedoch nicht zum Verständnis der aktuellen Entwicklung bei. Sie verschleiern den Blick auf den in der jüngeren Geschichte beispiellosen Umstand, dass auf Grund eines externen ökonomischen Faktors politische Maßnahmen ergriffen werden, mit derart weitreichenden ökonomischen Folgen, wie wir sie aktuell erleben. Denn wenngleich die Weltökonomie auch ohne Corona kurz vor einem neuen Abschwung stand, bzw. die deutsche Export-Industrie bereits seit längerem mitten drin steckte, hat es gerade die Tatsache, dass die Krise durch einen externen Schock eingeleitet wurde, auf der ideologischen Ebene erleichtert, die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zu externalisieren und im Rahmen neoliberaler Dogmen die Intervention des Staates zu legitimieren. Das war auch die Voraussetzung, um die Aussetzung der Schuldenbremse im Grundgesetz (s.u.) und zahlreiche direkte und indirekte Subventionen für kriselnde Konzerne begründen zu können.

  3. Es macht in der systemischen Betrachtung einen Unterschied, ob die Arbeitslosenzahlen steigen, weil die Unternehmen wegen eines wirtschaftlichem Abschwungs Absatzeinbußen verzeichnen, oder weil den Unternehmen ihre ökonomische Tätigkeit durch die Regierung verboten wird. Gleiches gilt auch für die Zahlen zum Wirtschaftswachstum. Die weitreichende Prägung der ökonomischen Krise durch politische Eingriffe zwingt uns, klassische Indikatoren für die Bewertung ökonomischer Krisen neu zu lesen. Arbeitslosigkeit, Auftrags- und Produktionsrückgänge, Einbruch des Handels etc. haben ihre Bedeutung in der Krisentheorie nicht einfach als Faktum sondern als Indikatoren für die Zuspitzung der Widersprüche kapitalistischer Ökonomie. Unter Bedingungen, in denen politisch verordnet Teile der Ökonomie still gelegt werden, müssen sie jedoch neu interpretiert werden. Es hilft uns deshalb analytisch und politisch nicht weiter, im Bann der klassischen Krisenindikatoren auf den großen „Kladderadatsch“ zu warten. Vielmehr zeigen die aktuellen Entwicklungen das hohe Maß an politischer Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Produktiver ist es zu fragen, ob dieses Sichtbarwerden der Gestaltbarkeit selbst ein Krisenmoment der aktuellen kapitalistischen Herrschaftsweise darstellt.

  4. Verglichen mit dem muddling-through im Angesicht der Weltwirtschaftskrise 2007ff sind die politischen Reaktionen auf die aktuelle Krise von einer beindruckenden Stringenz und Geschwindigkeit geprägt. Das pragmatische Abrufen der geldpolitischen Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise 2007 ff. in der aktuellen Krise verweist auf eine enorme Flexibilität und Lernfähigkeit der sozialtechnologischen Eliten seit damals. Während die Durchsetzung sozialer Stoßdämpfer, vor allem aber die geldpolitischen Antworten in Form von Zinssenkung und Ankauf von Anleihen durch die Zentralbanken (Quantitative Easing) und Liquiditätsgarantien 2007ff. von massiven Auseinandersetzungen im herrschenden Block begleitet waren und die Durchsetzung der lockeren Geldpolitik durch Mario Draghi in der EZB seinerzeit auf massiven Widerstand der monetaristischen Falken aus Deutschland traf (1), wurden sie dieses Mal vergleichsweise geräuschlos ins Werk gesetzt (2). Für eine emanzipatorische Perspektive ist dies eine ambivalente Entwicklung. Zum einen wurden damit weitere krisenhafte Zuspitzungen mit den entsprechenden sozialen Verheerungen zumindest in den kapitalistischen Zentren bislang verhindert. Zum anderen zeigt sich die Lernfähigkeit des Herrschenden Blocks im Changieren zwischen ordnungspolitischem Dogmatismus und Flexibilität und damit eine neue Sicherheit im Umgang mit ökonomischen Schocks, was diese aus Herrschaftsperspektive weit weniger bedrohlich erscheinen lassen. Das sogt für eine erstaunliche Stabilität in der Instabilität.

  5. Ordnungspolitik ist moralische Ökonomie von oben. Sie soll Erwartungen regulieren und den Raum für das Denkbare abstecken, indem sie die Handlungsmöglichkeiten der Herrschenden, mit denen diese auf Ansprüche von unten reagieren können, beschränkt. Aus dieser Perspektive besteht aktuell die Gefahr vor allem in der Sichtbarkeit des politisch und damit potenziell auch sozial(politisch) Machbaren. Die Erweiterung fiskalischer Spielräume und die Nutzung geldpolitischer Instrumente werden im ordnungspolitischen Diskurs deshalb gleich gesetzt mit den Grundrechtseinschränkungen durch Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht: Ein aktuell unvermeidliches, aber so schnell wie möglich zu überwindendes Übel. Die ordnungspolitische Sorge, dass die Leichtigkeit, mit der aktuell Geld mobilisiert werden kann, weitere gesellschaftliche Ansprüche wecken könnte, soll gebannt werden, indem die aktuelle Lockerung der institutionellen Zügel gerahmt bleibt von den Dispositiven des Ausnahmezustandes. Das Aufscheinen der Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Spielregeln unsichtbar zu machen, ist deshalb der strategische Kern der aktuellen Ordnungspolitik, in deren Mittelpunkt die Schulden stehen. Die Schulden sind dabei nicht einfach ein ökomisches Faktum, sondern vielmehr eine diskursive Chiffre. Sie sollen bereits jetzt eine scheinbar objektive Grenze für gesellschaftliche Ansprüche in der Zeit nach Corona markieren. Dafür wird der falsche Eindruck erweckt, die Gesellschaft als Ganzes würde sich zu Lasten »der zukünftigen Generationen« verschulden und diese Schulden müssten in der Zukunft gemeinsam abgetragen werden. Ein Bild, in dem die Eigentums- und Klassenverhältnisse hinter den Schuldenverhältnissen unsichtbar gemacht werden.

Den nächsten Teil der Reihe mit den Thesen 6-10 findest du hier, den dritten mit den Thesen 11-15 hier.

Zum Weiterlesen:

(1) Wenn sich Notenbank und Bürger entfremden, gedeiht der Populismus

(2) Adam Tooze: How coronavirus almost brought down the global financial system

Autor: Kalle Kunkel ist in der Stadt-AG der IL-Berlin aktiv.

Bild: Der Aufstand in Chile 2019 richtete sich gegen die Institutionalisierung kapitalistischer Herrschaft in der Verfassung von Chile. Sie war das Modell-Projekt für die »Entthronung der Politik«, die mit diktatorischer Gewalt durchgesetzt wurde. Quelle: Frente Fotográfico