Politik in der Krise – 15 Thesen


2/3: Der gefesselte Odysseus

Für ein politisches Verständnis der aktuellen Krise greift die Frage zu kurz, wer für sie bezahlt. Wir sehen aktuell eine enorme Lernfähigkeit des herrschenden Blocks, die jedoch untrennbar verbunden ist mit einer tiefen Krise neoliberaler Herrschaftstechnologie. Ein Blick für diese Gleichzeitigkeit ist wichtig, um ein Verständnis der Gefahren und der Möglichkeitsfenster für ein emanzipatorisches Eingreifen zu entwickeln.

  1. Die antidemokratische Volte der neoliberalen Konterrevolution seit den 1980er Jahren richtete sich auf die verteilungspolitischen Potentiale der parlamentarischen Demokratie im Zusammenspiel mit dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Die Politik, so die Diagnose, werde durch die demokratische Partizipation der popularen Klassen unter Druck gesetzt, ihre sozialen Ansprüche zu bedienen. Die »Krise der Demokratie« (Trilaterale Kommission) (1) sei eine Folge der rise of expectations in den Jahrzehnten des Aufbegehrens nach 1968, denen sich die demokratische Politik nicht entziehen könne, solange sie sich in Wahlen legitimeren müsse. Deshalb müsse der Politik die Fähigkeit genommen werden, demokratische Forderungen mit verteilungspolitischer Wirkung nachzugeben. Ihre Autorität soll durch die Beschränkung ihrer Möglichkeiten rehabilitiert werden. Die »Entthronung der Politik« (F.v. Hayek) zielt darauf, die formale demokratische Legitimation von Herrschaft aufrecht zu erhalten, sie jedoch in ihrer Handlungsmöglichkeit zu beschneiden. (2) »Regeln statt Entscheidungsspielraum« war hierfür das Schlagwort, das 1977 durch Persscot und Kydland geprägt wurde. (3) Sie wurden dafür 2004 auf dem Höhepunkt des ideologischen Siegeszugs des Neoliberalismus mit dem sog. Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Die philosophischen Weihen für diesen politischen Klassenkampf lieferte das Konzept der »gebundenen Rationalität« (J. Elster). (4) Das Bild ist dem Mythos des Odysseus entlehnt. Dieser lässt sich an einen Mast binden als er die Insel der Sirenen passiert und verbietet seinen Gefährten auf seine Befehle zu reagieren. Er kann sich so den Lockungen der Sirenen aussetzen und ihnen zugleich widerstehen. Odysseus ist damit der Prototyp des postdemokratischen Politikers. »Es hilft Politikern wie auch dem Gemeinwohl, Anspruchsspiralen durch das Ausschließen von Handlungsoptionen zu durchbrechen. Nur wer unter Verweis auf übergeordnete Regeln, Prinzipien oder Organisationen »Nein« sagen muss, kann auch »Nein« sagen.« (M. Wohlgemuth). (5) Eine solche Politik ist davon abhängig, dass die Stricke sich nicht lösen, mit denen sie sich und alle anderen gebunden hat.

  2. Die Institutionengeschichte der neoliberalen Konterrevolution ist die fortschreitende Selbstbindung der Politik, die es ihr erschwert, auf demokratische Ansprüche durch Eingriffe in die Verfügungsgewalt über das Eigentum und in Marktmechanismen zu reagieren. Dabei hatten es die Neoliberalen schon immer darauf abgesehen, ihre ökonomischen Ordnungskonzepte in die Verfassungen einzuschreiben und sie damit de facto zu verewigen. In Deutschland und Europa wurde dies durch die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz, und wichtiger noch, die Etablierung der EZB als der Demokratie enthobene Instanz, deren institutionelle Stellung nur im Einvernehmen aller Euro-Länder geändert werden kann, geradezu mustergültig umgesetzt. »Die Märkte« werden dabei als Komplizen für die Disziplinierung von demokratisch artikulierten Ansprüchen und der popularen Klassen gesehen, die zugleich den machtpolitischen Kern der Auseinandersetzung verbergen. Der Klassenkampf wird damit geführt als ein Kampf um die Demokratie und ihre Grenzen. Im Mittelpunkt dieses Angriffs auf den demokratischen Anspruch der Gestaltung von Gesellschaft gegenüber den Verwertungsinteressen des Kapitals steht die Finanzierungsfähigkeit des Staates und – damit verbunden, aber nicht identisch – die Geldpolitik der Zentralbanken.

  3. Ein zentraler Baustein zur »Entthronung der Demokratie« lag in der Zentralbankpolitik. Diese sollte im Zuge der sogenannten Monetaristischen Wende von der Finanz- und Wirtschaftspolitik des Staates getrennt werden. An Stelle ihrer Einbindung in staatliche Wirtschaftspolitik sollte sie lediglich »regelgebunden« einen festen Rahmen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Länder abgeben. Für diese »Regelgebundenheit« hatten Neoliberale wie Hayek und Friedman schon lange unter dem Schlagwort der »Unabhängigkeit der Zentralbank« getrommelt. Mit den Studien von Presscot und Kydland bekam diese Ideologie ihre mathematisch-wirtschaftswissenschaftlichen Weihen und ihren politischen Schlachtruf. Zugleich wurde als Regel vor allem das Ziel der »Geldwertstablität« (also Vermeidung von Inflation) in den Mittelpunkt gestellt. Die disziplinierende Wirkung der Arbeitslosigkeit war dabei mal mehr mal weniger offen Teil des Kalküls. Deutschland hat mit der monetaristischen Wende besonders ernst gemacht und die damit etablierten Prinzipien mit der Schaffung des Euro auch in der EZB durchgesetzt. Die Geldpolitik konnte damit nicht mehr als Instrument der Wirtschaftspolitik genutzt werden. In dem Moment, in dem die Zentralbank keine Verantwortung mehr für die Staatsfinanzierung übernimmt, werden die Staaten abhängig von der Bewertung der Finanzmärkte, an denen sie ihre Schulden aufnehmen müssen. Die Schuldenphobie und die Ideologie der »schwarzen Null« haben in dieser selbst geschaffenen Abhängigkeit von den Finanzmärkten ihr sachliches Fundament. Dies führt in der Krise zu einer grotesken Gleichzeitigkeit von Geldschwemme und Geldknappheit. Während durch die lockere Geldpolitik der EZB die Vermögenswerte auf den Finanzmärkten explodieren, geraten Staaten, die von der Wirtschaftskrise getroffen werden in Geldknappheit, weil die Finanzmärkte die Zinsen für ihre Staatsanleihen erhöhen. Die disziplinierende Wirkung dieses Drucks ist dabei innerhalb der EU Teil der politischen Ökonomie bei der Durchsetzung von Austerität, deren strategisches Zentrum Deutschland bildet. Deutschland als ein Gewinner dieser Konstellation hat den Druck der Finanzmärkte auf Länder wie Griechenland, Spanien und Italien genutzt, um hier die Zerstörung der gesellschaftlichen Solidarität zu forcieren. Dabei wurde sehr flexibel auf die Möglichkeit zurückgegriffen, den Druck wirksam werden zu lassen oder die Länder vor der Erpressung durch die Finanzmärkte abzuschirmen. Jede dieser Abschirmungen musste jedoch von den populären Klassen dieser Länder teuer erkauft werden durch Zerstörung ihrer Solidarsysteme und Ausverkauf der öffentlichen Güter.

  4. Die Dauerkrise seit 2007, die durch Corona eine Zuspitzung erfährt, ist auch eine Krise der austeritären Ordnungspolitik, die nur noch durch auf Dauer gestellte Provisorien aufrecht erhalten werden kann. Bereits der Einstieg der EZB in die sogenannten Offenmarktkäufe nach der Finanzkrise von 2007 hat die Trennung von Geldpolitik auf der einen und Finanz- und Wirtschaftspolitik auf der anderen Seite ad absurdum geführt. Mit den Offenmarktkäufen hat die EZB begonnen, Staatsanleihen aus der Eurozone aufzukaufen. Offiziell mit dem Ziel die Inflationsrate auf knapp unter 2 Prozent anzuheben. Es ist jedoch offenkundig, dass der wichtigste Effekt dieser Maßnahme die Abschirmung der Staatsanleihen der europäischen Krisenländer ist, deren Zinssätze so niedrig gehalten werden. De facto ist damit die Zentralbank in die Finanzierung der Staatsschulden eingestiegen. Der Umweg über die Offenmarktkäufe sorgt jedoch dafür, dass dies nur zu dem Preis möglich ist, dass immer neues Geld in die Hände der Finanzmarktakteure gespült wird, denen die Staatsanleihen abgekauft werden.

  5. Mit dem Aufkaufen der Staatsschulden durch die EZB hat sich eine Re-Politisierung der Schulden vollzogen. Schulden konstituieren ein soziales Verhältnis. Von David Graeber haben wir gelernt, dass die Frage, wie dieses Verhältnis ausgestaltet ist, eine hoch politische Frage ist und dem entsprechend umkämpft. (6) Über 20 Prozent der deutschen Staatsschulden bestehen inzwischen gegenüber der EZB. (7) Mit der Aufnahme der Schulden in die Bilanz der EZB konstituieren diese kein Schuldverhältnis mehr zwischen privaten Akteuren und dem Staat. Die disziplinierende Macht des Marktes ist damit zumindest temporär suspendiert. Die Schulden sind damit auch nicht mehr verwoben mit der privaten Zirkulation des Geldes. Keine Bank, kein Fonds hat diese Schulden in seinen Büchern. Tatsächlich ist damit der Staat bei sich selbst verschuldet.

Den ersten Teil der Reihe mit den Thesen 1-5 findest du hier, den dritten mit den Thesen 11-15 hier

Zum Weiterlesen:

(1) Michel Crozier, Samuel P. Huntington, Joji Watanuki: The Crisis of democracy. New York 1975

(2) Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft - Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Frankfurt a.M. 2019

(3) Kydland, Finn E.; Prescott, Edward C.: Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans. In: The Journal of Political Economy, Vol. 85, No. 3, 1977, S. 473-492

(4) Jon Elster: Subversion der Rationalität. Frankfurt a.M. 1987

(5) Michael Wohlgemuth: Reformdynamik durch Selbstbindung – Zur Politischen Ökonomie von Meinungen, Emotionen und Interessen

(6) David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart 2014

(7) Welche Anleihen die EZB in ihrem Depot hat – eine Bilanz

Autor: Kalle Kunkel ist in der Stadt-AG der IL-Berlin aktiv.

Bild: Der Aufstand in Chile 2019 richtete sich gegen die Institutionalisierung kapitalistischer Herrschaft in der Verfassung von Chile. Sie war das Modell-Projekt für die „Entthronung der Politik“, die mit diktatorischer Gewalt durchgesetzt wurde. Quelle: Frente Fotográfico