Global und solidarisch im Kampf gegen die Pandemie?


ZeroCovid und das Fehlen einer eigenständigen linksradikalen Position

Die AG Krieg & Frieden aus Berlin diskutiert kritisch das Verhältnis der radikalen Linken zum ZeroCovid Aufruf und plädiert für eine eigenständige Position, die eine solidarische Praxis von unten zentral stellt und von Erfahrungen anderer Kämpfe lernen kann.

Vorab

Als Krieg & Frieden AG der IL Berlin haben wir ausführlich über ZeroCovid diskutiert und möchten unsere Kritik hier transparent machen, wobei wir in der Gewichtung und den Aspekten der Kritik auch unterschiedliche Schwerpunkte haben. Wir haben vor allem Kritik an dem Aufruf, sind uns aber auch bewusst, dass ein reformistischer Aufruf seiner eigenen Logik nach Begrenzungen hat, die er nicht überschreiten kann. Deswegen finden wir, dass es eigentlich eine eigenständige linksradikale Position bräuchte, die den Aufruf kritisiert und das Diskursfenster, das ZeroCovid eröffnet hat (positiver Effekt), nutzt, um eigene Positionen oder Fragen zu verbreiten. Für eine kritisch-solidarische Begleitung innerhalb Zero-Covids reicht es unserer Meinung nicht. Dafür ist selbst die reformistische Tendenz im Aufruf zu schwach. So viel zur Einordnung in welchem Verhältnis wir ZeroCovid und die radikale Linke sehen.

Globale Dimension

Eine Pandemie ist per Definition ein globales Phänomen und kann als solche auch nur in globaler Perspektive verstanden und bekämpft werden. Jede linke Position muss das zum Ausgangspunkt machen. Dabei geht es nicht nur um Impfstoffe, sondern grundsätzlich um das Ausbeutungsverhältnis zwischen dem Globalen Nord und dem Globalen Süd. All die Ressourcen, die aufgewendet werden und zusätzlich aufgewendet werden könnten, um die Pandemie zu bekämpfen, basieren auch auf dieser Ausbeutung. ZeroCovid blendet diese Frage weitestgehend aus bzw. beantwortet sie maximal europäisch. Wir sehen das Argument, dass Europa eine soziale und ökonomische Realität ist und ein europäischer Bezug Sinn machen kann. Trotzdem sollte die Linke, wenn sie keinen Umriss von Ansätzen für eine global-solidarische Bekämpfung der Pandemie zeichnen kann (oder sich aus strategischen/taktischen Gründen bewusst dagegen entscheidet), zumindest die Frage und Problematik aufwerfen und nicht – wie bei ZeroCovid – vorschnell und ungenügend beantworten. Ansonsten kommt der Vorwurf des Eurozentrismus und Metropolenchauvinismus von PoC, migrantisierten Genoss*innen und Genoss*innen aus dem Süden zu Recht.

Gesundheit

Weil ZeroCovid zunächst nur ein Vorschlag ist, die Epidemie zu bekämpfen (also vom Standpunkt der Epidemiologie aus argumentiert), reproduziert er damit ein gefährliches Gesundheitsverständnis. Er vermittelt ein zugleich steriles und verengtes Verständnis von Gesundheit. In diesem Körperbild geht es nur noch darum, nicht krank zu sein oder sogar darum, mit allen Mitteln zu leben, wobei nur noch als krank definiert wird, der/die* einen Infekt hat. Sozial-psychologische Aspekte, kurz: der Körper als gesellschaftlich produziert kommt darin nicht mehr vor. Auch aus historischer Perspektive sollten wir uns der Gefahr bewusst sein, wohin die Logik der Segregation von gesunden und kranken, »anderen« Körper führen kann und gleichzeitig als radikale Linke in positiver Bezugnahme auf z.B die Anti-Psychatriebewegung oder die »Aidsbewegung« einen Gesundheitsbegriff emphatisch propagieren, der Solidarität, Rücksichtnahme und Autonomie zum Ausgangspunkt hat und dabei natürlich auch den immer wiederkehrenden Widerspruch zwischen den beiden Polen thematisiert.

Der Staat

ZeroCovid hat keinen praktischen Vorschlag wie ein solidarischer! Shutdown von Unten aussehen könnte und bleibt damit auf der Appellationsebene. Warum sollten wir Hoffnungen oder nur die leise begründete Annahme haben, dass dieser Staat, der in seiner Logik und seiner Institutionen strukturell rassistisch begründet ist, die Gesundheitsversorgung kaputt gemacht hat, so vieles in der Pandemie schon versäumt hat und Leute über die Klinge springen lässt,...ihr kennt die Brutalität dieses Staates, uns helfen wird. Hinzu kommt, dass rassistische und patriarchale Praxen sich unter Corona mehr verschärft haben. Warum glauben wir, dass ein solch umfangreicher Forderungskatalog, wie der von ZeroCovid, umgesetzt und der Staat dabei noch solidarisch mit uns umgehen würde? Somit verdoppelt er die autoritäre Tendenz des Staates bzw. reproduziert sie in unserem Denken. Dem Aufruf fehlt eine gesellschaftliche Analyse, die über Corona hinaus geht. Nur am Beispiel der Digitalisierung: Die Digitalisierung ist ein neoliberaler Traum des entmaterialisierten Menschen und in dem es nur noch 1 und 0 gibt, kein drittes, keine Alternative. Ein Kampagnenaufruf der so weitgehend politisch und ökonomisch die Gesellschaft gestalten will, muss solche Prozesse, die sich unter Corona noch beschleunigen, zumindest anreißen und problematisieren, ansonsten trägt er sie mit. Außerdem spielt der Freiheitsbegriff in dem Aufruf keine Rolle und lässt bei uns alle Alarmglocken klingeln, wenn wir uns an historische Beispiele (z.b. Sowjetunion) erinnern, in denen zu Gunsten der Gleichheit, die Freiheit bei Seite geschoben wurde. Somit blieb der Eindruck bei uns hängen, dass hinter der ZeroCovid-Strategie sich ein Staatssozialismus verbirgt, den wir ablehnen und der im Kapitalismus sogar zu einem autoritären Lockdown mit ein bisschen finanzieller Abfederung verkümmert. Das haben wir auch daran festgemacht, dass der Aufruf den Widerspruch zwischen Demokratie/Freiheit und Gesundheit ohne Begründung verneint. Als radikale Linke sollten wir offen sagen, dass darin ein Widerspruch besteht und diesen offen aushandeln, unter Uns und in unserer Praxis. Ansonsten wird die Negierung des Widerspruchs totalitär und allmachtsphantastisch, eben weil sie Widersprüche stummschalten muss. Und zu guter Letzt liegt ZeroCovid eine Naturwissenschaftsgläubigkeit zu Grunde, die ganz unideologisch behauptet, es gäbe objektive Maßstäbe, ohne offen zu legen, dass auch Wissenschaft ideologisch sein kann und demokratisch ausgehandelt werden muss. (Das Argument mag nicht für die Tatsache gelten, dass es ein Nukleinsäuremolekül gibt, welches den menschlichen Organismus angreift. Bereits bei den Schwellen der Inzidenzen, die diese oder jene Maßnahme begründen oder sogar der Definition von Inzidenz wird die Behauptung von naturwissenschaftlicher Objektivität schwieriger. Offensichtlich wird es bei der Frage der Folgen der Pandemie bzw. den Strategien gegen sie, die nicht ohne Geistes- und Sozialwissenschaften auskommen sollten.)

Kapitalismus & Pandemie

Pandemien existieren erst seit dem Kapitalismus. Mit der Massentierhaltung und Zerstörung von Biodiversität werden in Zukunft in Kombination mit der Globalisierung die Gefahr von Zoonosen und damit Pandemien zunehmen. Eine linksradikale Position sollte genau diese Ursachen benennen und eine Perspektive eröffnen, nicht wie wir langfristig mit Pandemien umgehen, sondern wie wir langfristig die Gefahr von Pandemien verringern können. Also gesellschaftliche Bedingungen schaffen, in denen Viren wenig bis gar keine Chance haben. Oft wird diese Frage ja unter der Dichotomisierung »Mit dem Virus leben (und sterben)« vs. »Den Virus ausrotten« verhandelt. Unserer Meinung nach ist das keine Frage des entweder-oder, sondern ein gesellschaftlicher Widerspruch, den wir aushalten und immer wieder austarieren müssen. Unter kapitalistischen Verhältnissen müssen wir mit dem Virus leben und dafür kämpfen, dass alle die gleichen Chancen haben den Virus zu überleben und dafür kämpfen, dass Pandemien gar nicht erst entstehen können. Wir geben uns nicht damit zufrieden, uns in einer dystopischen Welt einzurichten und lehnen den Katastrophen-Tonfall der Politiker*innen und Medien ab, der uns orientierungslos macht. ZeroCovid kann eine Welle brechen und die Ausbreitung verlangsamen, vielleicht, aber er kann nicht den Virus ausrotten. Historisch gesehen wurde noch keine Epidemie und Pandemie mit Quarantäne und Isolation ausgerottet, sondern durch gesellschaftliche Erfindungen und Weiterentwicklungen im Bereich der Hygiene, Nahrungspolitik, Impfstoffe oder Medikamente. Wir verwehren uns immer wieder dagegen, dass dies eine zynische Einstellung ist bzw. würden den Vorwurf gerne an uns alle richten und behaupten: Auch vor der Pandemie waren wir zynisch, denn wir konnten damit leben, dass Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, wir haben nichts gegen die Ermordungen von Mapuche-Aktivist*innen in Chile getan. Ihr seht: der Zynismusvorwurf führt in ein moralischen Relativismus. Stattdessen sollten wir die Erfahrung, dass wir zum ersten Mal direkt mit dem Tod der eigenen Weißen Metropolenkörper konfrontiert sind, politisieren, was auch bedeuten würde eben jenen Körper in ein globales Ausbeutungsverhältnis einzubetten.

Praxis

Der Aufruf trägt einen extremen Widerspruch in sich. Denn ZeroCovid kann keinen strategischen Praxisvorschlag machen, ohne seine eigene Prämisse, nämlich Zuhause bleiben, zu unterlaufen. Deswegen bleibt nur die Aufforderung, der Staat solle die Maßnahmen umsetzen. Mit der oben bereits genannten Kritik des Autoritarismus bleibt damit nur ein entleerter Begriff der Solidarität, weil er keinen Bezug mehr zu den Menschen hat, die besonders von der Pandemie betroffen sind und den Menschen ihre Autonomie abspricht. Statt weiter Forderungen zu stellen, müsste es doch darum gehen, endlich in eine solidarische Praxis von Unten zu kommen, sich zu wehren, Protest zu organisieren und vor allem mit den Menschen gemeinsam Wege zu finden, den Zumutungen der Pandemieauswirkungen und -politik entgegen zu treten. In dem Zusammenhang halten wir auch die Bezugnahme auf die Prozentzahlen an Zustimmung zur aktuellen Lockdownpolitik falsch bzw. glauben, dass diese wie so oft aus einer Alternativlosigkeit entspringen, die wir durchbrechen müssten. Selbstkritisch müssen wir sagen, dass wir es bisher nicht geschafft haben, so eine Praxis zu entwickeln, weil auch wir zunächst verängstigt waren und den Austausch abgebrochen haben. Aber was würde dagegen sprechen, all die geschlossenen linken Räume jetzt zu öffnen? Für die Einsamen, für die überforderten Eltern, die Jugendlichen, die Obdachlosen, für diejenigen, die politisch diskutieren wollen, für diejenigen, die Verbündete suchen, der Arbeitgeberin oder dem Chef des Pflegeheims aufs Dach zu steigen, um der größten Hürde zur Umsetzung unserer Ideen endlich entgegenzutreten? Die Vereinzelung.

Abschließend

Auch wenn wir beispielsweise die Position teilen, dass man »die Wirtschaft« stärker angreifen muss, glauben wir, dass bei den Menschen nicht nur der Fokus auf »die Wirtschaft« hängen bleibt, sondern ebenso die dem Papier eingeschriebene Perspektive auf Gesellschaft, die wir versucht haben zu umreißen und zu kritisieren. All die genannten Kritikpunkte sind für uns von essenzieller Bedeutung. Der Aufruf lässt die hier formulierten Fragen und Probleme bewusst oder unbewusst Außen vor. Eine linksradikale Position sollte unserer Meinung nach offener, widersprüchlicher, mutiger, praktischer und bescheidener sein.


Autor*in: Krieg & Frieden AG der IL Berlin

Bild: Oaxaca 2006, Amador Fernández-Savater Quelle