von Systemkrise Corona!? tags Neoliberalismus Klasse soziale Kämpfe Krise(n) Datum Mar 2020
zuDie Corona-Pandemie trifft uns alle, Zeit also für klassenübergreifende Dankbarkeit statt politischem Streit. Soweit, so klar, oder? Alles Quatsch, argumentieren die Genoss*innen der IL Köln: Neoliberaler Umbau des Gesundheitssystems, Abwälzung der Corona-Probleme ins Private, einseitige Krisenpolitik zugunsten des Kapitals – mehr als genügend Gründe, die Pandemie als Klassenfrage zu verstehen und zum Ausgangspunkt für antikapitalistische Kämpfe zu machen.
Alle sind sich einig, wie schon lang nicht mehr. Angela Merkel, Friedrich Merz, Armin Laschet, Katja Kipping, wir, Linke, Rechte, Angestellte, Manager, egal. Alle sind sich einig. Wir müssen uns dankbar zeigen bei den Hunderttausenden und Millionen, die in Moment trotz Pandemie jeden Tag an der vordersten Front die Gesellschaft am Laufen halten. In den Krankenhäusern, in den Pflegeeinrichtungen, in den Notunterkünften, in den Arztpraxen, im Transport, in den Fabriken, im Einzelhandel. Millionen stehen trotz aggressivem Covid-19-Virus, trotz großer Ansteckungsgefahr jeden Tag auf der Matte und halten die Stellung und die Gesellschaft am Laufen, versorgen uns mit allem, was wir brauchen, versorgen uns im Krankheitsfall, pflegen uns, wenn wir alt sind, forschen nach Medizin.
Um 21:00 Uhr wird geklatscht. So zeigen wir unsere Dankbarkeit. Politiker*innen und Medien zeigen sich rund um die Uhr dankbar in Kommentaren und auf Pressekonferenzen. Man könnte sich in dieser klassenübergreifenden Dankbarkeit einfach mal wohl fühlen und sich selbst sagen: Trotz aller Meinungsverschiedenheiten verbindet uns auch Vieles, das Menschliche, das Soziale.
Doch das wäre falsch.
Die Vorgeschichte zur Krise
Gerade diejenigen, denen wir jetzt so dankbar sein sollen, ist in den letzten Jahrzehnten das Leben so schwer gemacht worden. Die Löhne und Gehälter standen massiv unter Druck. Mit der Einführung von Hartz 4, der Agenda 2010, dem systematischen Aufbau des Niedriglohnsektors wurde eine permanent existente Angst vor dem Abstieg aufgebaut - damit einhergehend die Zunahme der Arbeitsintensität. Gerade im Gesundheits- und Pflegebereich werden die Arbeitsschritte mit der Stoppuhr getaktet. Wer diese Formulierung übertrieben findet, sollte mal Menschen in diesen Bereichen einen Kaffee spendieren und sich den Arbeitsalltag plastisch schildern lassen.
Das Gesundheitswesen wurde in den letzten Jahren immer mehr nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umgebaut. Die Krankenhäuser wurden unter Druck gesetzt, schwarze Zahlen zu schreiben und Gewinn zu erwirtschaften. Die Krankenhäuser mussten also genau hinschauen, welche Abteilung, welche Behandlung, welcher »Typ« von Patient*innen mehr Gewinn bringen oder mehr Kosten verursachen, welche Einsparungen hier möglich sind. Mit den »Fallpauschalen« wurde der Druck erhöht, die Kosten je »Fall« so gering wie möglich zu halten, um mindestens kostenneutral zu «wirtschaften», am besten aber gewinnbringend. Und umgekehrt führen diese Pauschalen dazu, dass viele Krankenhäuser Krankheiten mit unbekannten oder komplexen Verläufen gar nicht so gern haben, weil diese sich womöglich dann am Ende gar nicht rechnen.
Wenn es nach den Thinktanks der großen Konzerne geht, ist das alles erst der Anfang gewesen. Die umfassende, systematische Privatisierung soll ja erst noch kommen. Mitte 2019 kam eine Bertelsmann-Studie zu dem »Ergebnis«, dass jedes zweite Krankenhaus in Deutschland schließen muss. Begründung: Rechnen sich nicht. Aber müssen sich Krankenhäuser rechnen – oder müssen sie die medizinische Versorgung aller sicherstellen? Und sind sie für letzteres vielleicht immer weiter ausgehungert worden, was wiederum das Argument der neoliberalen Ideolog*innen verstärkt hat, dass ja dann die Krankenhäuser selbst Gewinn erwirtschaften sollten, wenn sie schon so unterfinanziert sind?
Und so hocken jetzt die selben Figuren vor den Kameras, die zum neoliberalen Umbau des Gesundheitswesens beigetragen haben oder es sogar maßgeblich vorangebracht haben und erklären, wie dankbar wir alle sein müssen.
Jeden Tag auf der Matte
All diese Menschen, die jeden Tag auf der Matte stehen und sich um die Kranken, Alten, die Versorgung, Verteilung der Güter, um die Kinder, um die Bildung, um die Produktion kümmern, haben das auch vor Corona, vor »Social Distancing«, vor Ausgangssperren bereits jeden Tag gemacht. Ob sie ausreichend Zeit für ihre Familien und Freund*innen haben, sie sich die Mieten leisten können, sie zwangsgeräumt werden, weil ihre Wohnung zum Spekulationsobjekt wurde, sie Spielplätze, Kultureinrichtungen, Schwimmbäder in der Nähe besuchen können, sie einen Kita-Platz bekommen, ob ihre Rente im Alter überhaupt für irgend etwas ausreicht, all diese Dinge haben nie eine Rolle gespielt. Aber jetzt ist die große von oben verordnete, kollektive Dankbarkeit angesagt. Ganz vergessen, dass für die Bedürfnisse und Sorgen genau dieser Menschen nie genug Zeit und nie ausreichend Geld da war. Und auch jetzt wird es bei der Floskel der Dankbarkeit bleiben.
Praktische Solidarität mit den Beschäftigten, die auch ihren Alltag unter diesen Umständen bewältigen müssen, wäre eine hilfreiche Alternative zur floskelhaften Dankbarkeit.
Die Maßnahmen sind ja so toll
Eine alternative Form der Wahrnehmung wird deutlich durch die mediale Lobhudelei für die angeblich so unglaublich gelungenen Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Pandemie. Die ersten Fälle waren in China bereits im Dezember bekannt. Im Januar spätestens hätte die Regierung mit Maßnahmen beginnen können, ein umfangreiches Corona-Testsystem einzuführen, Betten und Beatmungsgeräte zur Verfügung zu stellen. Stattdessen hieß es da immer nur: »Alles bestens«. Weitere zwei Monate vergingen, ohne dass etwas Substanzielles passierte. Ja und jetzt sind wir mittendrin, Abriegelungen, Social Distancing, teilweise Ausgangssperren. Mit ein bisschen Pech steht uns das Schlimmste noch bevor, wie in Italien.
Südkorea ist von Anfang an einen anderen Weg gegangen. Die Regierung hat ein umfassendes Testprogramm eingeführt. So konnten schnell die Infizierten ausfindig gemacht werden, um gezielt Personen unter Quarantäne stellen zu können, anstatt keinen blassen Schimmer zu haben, wer infiziert ist und alle vorsorglich mal zum Zuhause bleiben zu verdonnern. Ausgang ungewiss.
Die Zahl der Infizierten in Deutschland beruht auf den positiven Testergebnissen - aber sie sagt nichts aus, denn, wer in den letzten Wochen beim Arzt war, kann bestätigen, dass häufig gar nicht getestet wird. Man muss »nachweisen«, dass man mit einem Infizierten Kontakt hatte. Wie das? Keine Ahnung, weil woher soll man wissen, wer infiziert ist, wenn nicht getestet wird? Ok, dann wieder ab nach Hause. Das ist das Gegenteil von einem effektiven, flächendeckenden Testsystem.
Probleme sind Privatsache
Außerdem bieten die Maßnahmen überhaupt kein Konzept für Betroffene. Kitas sind zu, Arbeit läuft weiter. Wie sollen Millionen von Berufstätigen das jetzt gemeistert bekommen? Pech. Die Betriebe sollen bitte mal freiwillig überlegen, ob sie nicht ihre Mitarbeiter in Homeoffice schicken können. Müssen sie aber auch nicht. Viele Betriebe laufen einfach weiter. Ja und was ist mit der Ansteckungsgefahr in diesen Fällen? Pech. Was ist mit Selbständigen, Freiberufler*innen, Leute, die einen kleinen Laden führen? Hier reichen einige Wochen durchaus für komplett zerstörte Existenzen. Pech. Was ist mit der Betreuung und Bildung der Kinder, die jetzt nicht zur Schule und nicht in die Kita können? Wer kümmert sich? Pech. Menschen, die von freiwilliger sozialer Infrastruktur abhängig sind, wie beispielsweise Wohnungslose, haben jetzt weniger bis hin zu gar keine Anlaufstellen. Was können sie tun? Keine Ahnung. Pech.
Die Maßnahmen der Bundesregierung zielen zum Großteil darauf ab, all diese Probleme zur Privatsache zu machen.
Und natürlich ist es toll, dass Menschen eigenständig beginnen, eine Infrastruktur aufzubauen, um älteren und auch kranken Menschen zu helfen. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich aber vor allem aus der massiven Aushöhlung der sozialen Infrastruktur, weil sich der Staat in den letzten Jahrzehnten immer mehr aus der Finanzierung zurückgezogen hat. Auch hier gilt, dass Verantwortliche aus der politischen Elite und Zeitungen, die jahrelang Sozialkürzungen schön geschrieben haben, sich darüber freuen, dass Strukturen von Freiwilligen entstehen, um entstehende Versorgungslücken zu schließen. Eine Parallele ist vielleicht die beschleunigte Zunahme von Tafeln als Folge der Agenda 2010, die ausschließlich auf Ehrenamt und Spenden aufbauen. Auch hier gibt es immer viel Lob. Und natürlich ist es gut, dass es diese Tafeln gibt. Aber es ist nicht gut, dass die Tafeln überhaupt notwendig sind.
Pandemie als Klassenfrage
Das Zögern der Regierung bei der Eindämmung des Virus basiert nicht auf bösem Willen oder Dummheit. Ok, Dummheit ein bisschen schon. Im Kapitalismus darf dem Wachstum und der Profitlogik nichts im Wege stehen. Der reibungslose Ablauf muss gewährleistet sein. Die Angst, dass die Produktion gestört werden könnte und die Börsen mit Angst reagieren, hat dazu geführt, dass in den aller meisten Ländern mehrere Monate gar nichts unternommen wird. Wie beim Klimawandel haben Wissenschaftler*innen früh auf die drohende Krise aufmerksam gemacht. Unternommen wurde zunächst nicht viel: Ignorieren, Lippenbekenntnisse, halbherzige Maßnahmen und dann plötzlich drastische Maßnahmen, weil zu spät. Auch jetzt, wo angeblich so sinnvolle Maßnahmen beschlossen werden, klammert man die Produktion und die Situation am Arbeitsplatz weitgehend aus, wenn man mal von einigen Appellen an die Arbeitgeber*innen absieht. Selbst wenn es zu einer drastischen Maßnahme wie einer Ausgangssperre kommen sollte, wären Betriebe weitgehend ausgenommen. Und es geht hier nicht nur um zur Zeit wirklich relevante Jobs wie im medizinischen Bereich oder in der Versorgung. Arbeitgeber*innen können zu diesem Zweck einfach einen Wisch ausstellen, mit dem Beschäftigte durch Polizeikontrollen kommen können. Es scheint, dass der Virus gewillt ist, einen Bogen um Betriebe und Lohnarbeit zu machen.
Das Paradoxe ist, dass die Krise jetzt erst Recht mit voller Wucht zuschlägt und genau diese Szenarien eintreten, die zu verhindern versucht wurde. Nicht nur sind die Leitindizes in der Welt so stark eingebrochen, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Weltwirtschaft, die in den letzten Monaten eh schon taumelte, ist jetzt in der Krise. Dass die Bundesregierung, der EZB, die Federal Reserve Bank, die US-Regierung und weitere Staaten in aller Welt wieder versuchen, die Kapital-Schleusen zu öffnen und die Finanzmärkte mit Liquidität zu fluten, hat nach der Krise 2008 scheinbar noch funktioniert. Dieses Mal scheinen all die Maßnahmen zu verpuffen. Die Zinsen waren bereits sehr niedrig oder bei null und die Anleihekäufe liefen bereits seit fast zehn Jahren auf Hochtouren. Es scheint, dass diese Maßnahmen jetzt aber die Panik an den Börsen noch verstärken. Ein Hauch von 1929 liegt in der Luft.
Während aber wieder über Nacht Milliardenhilfen für Banken und Konzerne in Aussicht gestellt werden konnten, um den Panikmodus an den Finanzmärkten in den Griff zu bekommen, werden alle anderen zurückgelassen. Viele Existenzen sind akut bedroht. Viele werden sich momentan genau diese Fragen stellen. Wie kann das sein, dass Liquidität immer sofort mobilisierbar ist, wenn die Finanzmärkte, die Banken und Konzerne im großen Umfang betroffen sind und nie, wenn Menschen auf der Flucht, Menschen in existenzieller Bedrohung, Menschen in der Pflege, Menschen, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, Menschen im Alter aus dem letzten Loch pfeifen? Warum steckt man dieses Geld nicht in Corona-Testsysteme und den Ausbau von Krankenhäusern? Was hat den größeren gesellschaftlichen Nutzen, die Liquidität der Bank oder Betten, Beatmungsgeräte, Testsysteme, die allgemeine Versorgung aller?
Was sich in Medien und in manchen Zeitungskommentaren manchmal wie eine gemütliche Auszeit vom üblichen Alltagstrubel anhört - Stichwort Entschleunigung - ist für viele eine bedrohliche Situation. Gerade Menschen, die im normalen Kapitalismusbetrieb bereits am gesellschaftlichen Rand den Alltag als Kampf empfinden, werden die momentane Lage und auch mögliche kommende Ausgangssperren als unerträglich empfinden. Menschen, die sich nicht überlegen können, ob sie heute im Garten ein bisschen harken oder ihrem Hobby nachgehen können, sondern die mit ihren Familien in zu kleinen Wohnungen ausharren müssen. Menschen, die im normalen Kapitalismusbetrieb schon nicht wissen, wie es in einem Jahr für sie aussehen wird, weil sie von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag gesteckt werden, werden momentan potenziell von Existenzängsten heimgesucht.
Der ganz normale, reibungslos funktionierende Kapitalismus basiert bereits auf Unsicherheit, Ausgrenzung, Angst vor dem Absturz. Die Erfahrungen, die sich jetzt dazu addieren und zwar über Nacht, werden nachhaltig und kompromisslos Menschen in neue Realitäten stürzen.
Wir bleiben drin. Wir bleiben laut.
Die Lage, in der Linke sich momentan befinden, ist paradox. Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, bleibt nichts übrig, als sich dem »Social Distancing« anzuschließen und mit dazu aufzurufen, dass sich möglichst alle beteiligen.
Gleichzeitig ist gerade in der Krise eine laute Linke gefragt. Eine Linke, die nicht der Regierung zujubelt, wie toll sie ihre Arbeit macht. Gerade in der Krise ist mehr nötig, als aus Dankbarkeit zu klatschen. Gerade in der Krise wird eine Linke benötigt, die den Finger in die Wunde legt und feste drückt, indem sie aufzeigt, wie wir in diese Lage geraten sind und welche Verantwortung das herrschende System, die Profitlogik des Kapitalismus, die systematische Einführung von Marktmechanismen in all unseren Lebensbereichen haben. Gerade in der Krise muss sich eine Linke formieren, die Seite an Seite und laut mit denen steht, die besonders getroffen werden, das nötige Geld einfordert, das für Banken und Konzerne sofort mobilisiert werden kann, aber nicht für die Versorgung der Menschen.
Und genau das ist das Paradox dieser Zeit. Bisher wirken linke Bewegungen und Gruppierungen perplex. Verständlich zwar, aber auch hier ist versäumt worden, rechtzeitig Krisenszenarien im möglichst breiten Bündnis durchzuspielen.
Es wird jetzt darum gehen müssen, kreative Formen zu finden, linke Kritik und auch linke Visionen für eine Welt ohne Kapitalismus in die Öffentlichkeit zu transportieren. Die Vorschläge für akute Maßnahmen liegen auf dem Tisch: Von Mietenstopp über die Forderung nach einem Corona-Grundeinkommen über eine Vergesellschaftung des Gesundheitswesens. Es gilt, Seite an Seite mit allen Beschäftigten im Gesundheitswesen und im Einzelhandel zu stehen, den Menschen auf der Flucht, ohne Wohnung, ohne Aufenthaltsstatus, ohne Perspektiven praktisch und konkret zu helfen. Und das Ganze unter Einhaltung des nötigen Abstands und ohne sich in Massen zu versammeln. Das wird eine große Herausforderung der nächsten Zeit.
»Krise« ist abgeleitet vom griechischen »krisis«, dem entscheidenden Augenblick. Viele Millionen Menschen sind praktisch über Nacht in einer neuen Realität aufgewacht. Das, was bisher als sicher und stabil galt, ist erschüttert. Der Kapitalismus und seine Regierungen versagen als effiziente Krisenmanager. Viele sehen jetzt deutlicher denn je, wer die Gesellschaft wirklich am Laufen hält, auf wen es ankommt. Sind wir bereit, die Chancen zu nutzen?
Autorin: Die Interventionistische Linke Köln macht seit 2007 linksradikale Politik in Köln und ist aktuell vor allem in den Feldern Klima, Soziale Kämpfe, Antifaschismus, Antirassismus und Feminismus/Frauen*Streik aktiv.
Bild: »Make the rich pay for Covit 19«, seen in London, United Kingdom (Photo:Facebook/Jorge Martin).