Die Räder stehen (noch) nicht still!


Für mehr feministische Perspektiven und einen solidarischen Shutdown.

Dass Lockdowns keinen Spaß machen, ist klar. Dass sie nicht der einzig wahre Weg in eine rosige Zukunft sind, ebenso. Warum Lockdowns in den Pandemie trotzdem eingesetzt werden sollten und wie eine längerfristige linke Strategie sich entwickeln ließe, schreibt die Autorin dieses Artikels.

Dieser Text entstand als Reaktion auf den Artikel »Alle Räder stehen still?« von Tove Soiland, der am 05.02.2021 im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde. Daher beziehen sich manche Stellen auf Zitate aus diesem Artikel.

Seit Beginn der Pandemie fühle ich mich eigentlich wie so oft in sonstigen politischen Kämpfen: Ich habe eine Analyse und ich habe eine Kritik und ich habe Ideen, was zu tun wäre, nur leider muss ich gerade erst mal den Brand bekämpfen. Genauso ist es in der Corona-Pandemie.

Der Lockdown als Privileg!?

Ein mögliches Mittel, um diesen Brand zu bekämpfen, sind Lockdowns – echte Lockdowns. An dieser starken Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit wurde und wird viel Kritik geäußert. So auch von Tove Soiland in ihrem Text »Alle Räder stehen still?«, mit dem die Autorin dem Aufruf Zero Covid eine feministiche Debatte entgegen stellen will. Soiland zitiert dort die Epidemiologin Sunetra Gupta mit der Aussage, Lockdowns seien ein Luxus der Wohlhabenden; etwas, das sich nur die reichen Ländern leisten könnten – und selbst da nur die besser gestellten Haushalten in diesen Ländern. Dieser Aussage möchte ich widersprechen. Lockdowns sind auch oder sogar vorrangig ein Mittel der armen Länder. Länder, welche wissen, dass ihre Gesundheitssysteme einen Anstieg an Inanspruchnahmen nicht verkraften werden; Länder, die keine Beatmungsgeräte haben. Und deswegen wurden die härtesten Lockdowns auch in den ärmsten Ländern verhängt (siehe Bolivien etc.). Ausnahmen bilden Länder, in denen politisch eben gar nicht reagiert oder Corona geleugnet wurde wie z.B. die USA oder noch länger und dramatischer: Brasilien oder Nicaragua. In diesen Ländern können wir leider in einem Live-Experiment beobachten, was passiert, wenn man den Brand nicht löscht: es brennt weiter.

Auch sind Lockdowns innerhalb der verschiedenen Länder keineswegs ein Luxus der besser gestellten Haushalte. Auch wenn die Lockdowns mit 300m² und Garten natürlich deutlich einfacher zu verkraften sind, als in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit sechs Personen. Aber dazu später mehr. Vorerst versuchen wir aber mit den Lockdowns die Ansteckung zu verringern. Und dass das Ansteckungsrisiko, sowie auch Schwere der Erkrankung und Sterblichkeit eine Klassenfrage sind, wurde mittlerweile glaube ich hinreichend thematisiert. Insofern schützen Lockdowns erst einmal vulnerable Gruppen.

Und die Debatte ob Lockdown ja oder nein, scheint mir in den letzten Monaten auch völlig unangebracht. Denn wir können es nicht weiter brennen lassen! Ich bin mit meiner beruflichen Perspektive als Ärztin in einem Krankenhaus bestimmt nicht unvoreingenommen. Aber trotzdem, oder gerade deswegen, muss das jetzt auch einfach mal raus: Wann hat unsere Gesellschaft angefangen bei Menschenleben so krass utilitaristisch zu denken? Wieso muss ich immer wieder betonen, dass der Altersdurchschnitt auf unserer COVID Station aktuell bei 57 liegt? Also, nur zum Mitschreiben, wenn ein Flugzeug mit 70 Passagieren gekidnappt wird und auf das berühmte Fußballstadion zufliegt, da sitzen nur Menschen über 70 drin und die sind alle entweder immunsupprimiert oder haben eine Lungenvorerkrankung, dann sollen wir jetzt also schießen? Für mich ist ein konsequenter Lockdown aktuell nicht verhandelbar!

Aber natürlich ist das »Brand löschen«, also der Lockdown oder auch der Shutdown (wie im Zero Covid-Aufruf gefordert), eben nur ein »Brandlöscher« und keine politische Strategie darüber hinaus. Deswegen ist es unbedingt notwendig den Ruf nach einem solidarischen Shutdown mit drei weiteren Überlegungen zu verknüpfen:

1. Wer sollte denn überhaupt zu Hause bleiben?

Tove Soiland schreibt in ihrem Artikel dazu:

»In der Gesundheitswirtschaft sind es 7,5 Millionen, das ist jede sechste Arbeitnehmende. Hinzu kommen die Beschäftigen im Sozialwesen, in der Kleinkindererziehung, in den Schulen und im Einzelhandel. Diese personenbezogenen Dienstleistungen, also Dienstleistungen, die eine physische Präsenz erfordern, umfassen laut verschiedenen Berechnungen der Feministischen Ökonomie rund ein Drittel des Bruttoinlandproduktes. Hinzu kommt, dass ein Teil der Industrie Nahrungsmittelproduktion ist, es gibt die Lebensmittelverarbeitung und die Landwirtschaft, die physische Logistik und das Transportwesen (inklusive Müllabfuhr, Post, Taxi und Verkehrswesen). Vermutlich ist es nicht falsch, davon auszugehen, dass damit alles in allem rund 50 Prozent der Beschäftigten in Branchen arbeiten, deren Stilllegung ein Kollaps der Versorgung der Bevölkerung bedeuten würde.«

Diesen Gedanken finde ich sehr spannend. Wichtig ist zuerst einmal, dass die anderen 50%, welche nicht in den genannten Bereichen arbeiten, tatsächlich konsequent zu Hause bleiben sollten. Was aktuell ja nicht geschieht und unter anderem vom Zero Covid-Aufruf also zurecht kritisiert wird. Aber natürlich ist es wichtig zu wissen, dass man also mit dem Shutdown nicht erreichen kann, wirklich in ein Zero Covid Szenario zu gelangen. Daher schnell weiter zu

2. Den Shutdown solidarisch machen:

Tove Soiland schreibt:

»Wissen die Initiatoren, was es heißt, mit kleinen Kindern in engen Wohnungen eingesperrt zu sein? Und warum haben all diese Bevölkerungsteile kein Anrecht auf unsere Solidarität?«

Und die erwähnte Epidemiologin Sunetra Gupta geht noch weiter mit:

»...müssen die ärmsten und verletzlichsten Menschen unweigerlich die Hauptlast des Kampfes gegen das Coronavirus tragen, wobei die schwerste der Arbeiter*innenklasse und den Jungen aufgebürdet wird.«

Ja, das stimmt! Ich teile die Idee, dass im Shutdown nicht alle gleich leiden, sondern ein Shutdown super ungerecht ist! Deshalb dürfen wir den Shutdown an sich nicht als politische Idee verteidigen, sondern nur als »Brandlöscher«. Aber dieser »Brandlöscher« ist notwendig. Denn leider stehen gerade die Interessen der Mutter, die mit ihren Kindern in der Wohnung eingesperrt ist, im direkten Gegensatz zu den Interessen der doppelt immunsupprimierten Mutter! Und deswegen müssen wir ihn eben durch Umverteilungsmaßnahmen finanziell gerechter machen! Aber auch durch andere praktische Maßnahmen, wie z.B. Hotels zu besetzen, um diese für Geflüchtete und wohnungslose Menschen nutzbar zu machen. Und einem für alle Eltern bezahlten Sonderurlaub, solange, bis der Shutdown vorbei ist. Und dass alle Zwangsräumungen ausgesetzt werden. Und dass alle Abschiebungen ausgesetzt werden. Und dass alle Gewinne in der Pandemie direkt verstaatlicht werden etc. Auch davon redet Zero Covid, bleibt nur ziemlich unkonkret. Noch wichtiger ist mir aber

3. Weiter denken!

In dem Manifest des Kollektivs Feministischer Lookdown steht:

»In unserer Wahrnehmung ist es der Pflegenotstand, der die meisten Toten verursacht. (…) Um dem permanenten Pflegenotstand in den Krankenhäusern, Langzeiteinrichtungen und in der ambulanten Pflege zu beenden, bräuchte es vermutlich die Verdoppelung der Ressourcen für das gesamte medizinische, Pflege- und Reinigungspersonal.«

Ich finde diese Schwerpunktsetzung sehr richtig. Meiner Meinung nach braucht es jedoch nicht unbedingt eine Verdopplung der Ressourcen in den Krankenhäusern, aber es braucht eine Verdopplung der Ressourcen in der Pflege von älteren Menschen. Ob zu Hause oder im Pflegeheim oder im Krankenhaus. Diese Argumentation sollte meiner Meinung nach in allen linken Covid-Texten und Forderungen enthalten sein! Und genauso das generelle Anprangern vom Verständnis der Care-Arbeit im Kapitalismus. Das Kollektiv schreibt dazu:

»Wir fordern seit Jahren, dass Care-Dienstleistungen nicht als Kostenfaktor dargestellt werden, weil sie die Grundlage jeder Gesellschaft bilden. Wir fordern seit Jahren, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass der Care-Sektor strukturell massiv unterfinanziert ist und dass nicht die Wirtschaft diesen subventioniert, sondern dass umgekehrt die Care-Arbeiter*innen mit ihrer schlecht oder gar nicht bezahlten Care-Arbeit den Rest der Wirtschaft subventionieren. Wir fordern seit Jahren ein Ende der unsinnigen Restrukturierungen im Care-Sektor, die versuchen, Care-Dienstleistungen wie eine Autoproduktion zu reorganisieren.«

Leider werden diese generellen Kritiken und das Konzentrieren auf langfristige und grundlegend verändernde Perspektiven oft dazu genutzt, um kurzfristige Schutzmaßnahmen wie einen Lockdown zu delegitimieren. So argumentiert leider auch Tove Soiland mit statistischen Zahlen und will unbedingt beweisen, dass ein Lockdown keine gute Maßnahme ist. Sie schreibt: »Diejenigen Länder, die die härtesten und längsten Lockdowns hatten, weisen die höchsten Sterblichkeitsraten auf.« Leider ist diese Korrelation wirklich gar keine gute Argumentationsgrundlage. Denn diese »härtesten Lockdown« sind wahrscheinlich in denjenigen Ländern verhängt worden, die ihren Gesundheitssystemen am wenigsten vertrauen können und die eben keine andere Wahl hatten. Das Ergebnis ist dann trotzdem immer noch schlecht, denn ein Lockdown ist eben nicht die Lösung - aber ohne wäre es noch schlimmer gekommen.

Im Manifest für einen feministischen Lockdown wird sogar argumentiert, dass das Virus gar nicht so tödlich sei und Statistiken usw. werden angezweifelt. Abgesehen davon, dass ich diesen Teil wirklich schlecht recherchiert und teilweise einfach inhaltlich falsch finde, hat es mich stutzig gemacht, dass eine politische Argumentation nun scheinbar unbedingt mit Statistiken unterlegt werden muss. Denn oft werden Statistiken dann falsch zitiert oder interpretiert und machen einen Text schlechter und nicht besser. So wird bei Soiland zum Beispiel damit argumentiert, dass die Übersterblichkeit 2020 ja gar nicht so hoch war. Das macht in meinen Augen keinen Sinn, denn wir haben ja auch absurd viel dafür in Kauf genommen, dass es so gekommen ist! Ist das jetzt also eine Argumentation für oder gegen den Lockdown? Außerdem ist die Argumentation, eine feministische Perspektive auf den Lockdown zu werfen ja vor allem eine politische Argumentation, und vielleicht ist es gar nicht notwendig nach Statistiken zu suchen, die diese Argumentation untermauern! Denn in meinen Augen werden hier eben, wie bereits eingangs beschrieben, das Brandlöschen und die weiteren politischen Perspektiven durcheinandergebracht und das führt meiner Meinung nach zu einer Schwächung der eigenen Argumente.

Für eine Antwort von Links

Und weiter steht im Manifest für einen feministischen Lockdown: »Covid19 ist für Ältere eine gefährliche Krankheit. Diese gezielt zu schützen ist möglich, ohne Lockdown, aber mit Mitteln, die den Kapitalismus tatsächlich zur Kasse bitten«. Im April 2020, als das Manifest geschrieben wurde, hätte ich diesem scharf widersprochen, denn im April 2020 musste gehandelt werden, um einer Überlastung der Gesundheitssysteme vorzubeugen. Ohne Wenn und Aber. Aber wir müssen dem eben unbedingt etwas hinzufügen, damit es eine Antwort von Links sein kann! Schon damals hätten wir lauter sein müssen und ein Jahr später darf man uns nicht mehr überhören können: Ja, wir sind solidarisch und bleiben zuhause. ABER wir wollen jetzt von euch das Versprechen:

  • Alle Krankenhäuser rekommunalisieren (noch besser: vergesellschaften)!
  • DRG-System sofort abschaffen!
  • Häusliche Pflege durch Angehörige oder Freunde gesellschaftlich/ staatlich entlohnen!
  • Alle Gewinne in der Krise verstaatlichen und in Darseinsfürsorge investieren!

Dieses ABER darf viele Monate später, wenn es wieder einmal um einen Lockdown geht wirklich nicht mehr fehlen! Diese Forderungen müssen also Teil eines jeden Rufes nach einem Shutdown sein! Sonst kann ich ihn nicht mittragen. Denn ja, der Shutdown, egal wie solidarisch wir ihn organisieren, ist scheiße!

Also, es ist wie in allen unseren politischen Kämpfen, besonders in den Kämpfen im Care-Bereich: Wir stecken im Widerspruch fest, den der Kapitalismus mit sich bringt. Nein, es ist keine politische Lösung nach einem Shutdown zu rufen. Und trotzdem sollten wir es tun. Aber wenn wir das tun, lasst uns nicht aufhören jeden Tag von unseren politischen Alternativen zu erzählen!

Wirklich jeden Tag!

Autorin: Karen ist in der Interventionistischen Linken Bremen organisiert. Als Ärztin und Epidemiologin freut sie sich sehr über die vielen Beiträge rund um die Covid19-Pandemie auf dem Debattenblog.

Bild: Es brennt. Von Mathias Erhart.