von Systemkrise Corona!? tags Internationalismus Migration Solidarität Krise(n) Datum Mar 2020
zuIn Griechenland trifft die »Corona-Krise« auf eine nationalistisch aufgeheizte Stimmung und die unhaltbaren Zustände in den Lagern für zehntausende Geflüchtete. Kein besonders hoffnungsvolles Szenario – umso wichtiger ist die solidarische Unterstützung auch aus Deutschland, argumentiert Achim aus Athen.
Das politische Klima in Griechenland hat sich verändert. Im letzten dreiviertel Jahr ist es der griechischen Regierung der Neuen Demokratie (rechts bis rechtsaußen) unter Kyriakos Mitsotakis gelungen, die nationalistischen Strömungen in der griechischen Gesellschaft zunehmend zu verstärken.
Nationalistisches Säbelrassen
Schon seit Jahren bzw. inzwischen Jahrzehnten gibt es Streit zwischen Griechenland und der Türkei über die Ausdehnung der nationalen Hoheitsgewässer. Die griechischen Hoheitsgewässer befinden sich nach wie vor innerhalb der 6-Meilen-Zone, obwohl diese Zone nach dem 1982er Seerechtsübereinkommen der UN auf 12 Meilen ausgedehnt werden dürfte. Die Türkei, die das Abkommen nicht unterzeichnet hat, erklärt jedoch seit 1990 wiederholt, dass sie eine solche Ausweitung als Kriegsgrund ansehe.
Griechenland hat seinen Nationalen Luftraum auf 10 Meilen ausgedehnt, ein Unikum im internationalen Recht, das nur die Übereinstimmung zwischen Hoheitsgewässern und Luftraum kennt. Die Türkei negiert daher auch hartnäckig diese Ausweitung des Luftraums durch ständiges Überfliegen mit ihren Kampfjets. Daraus resultieren die ständigen »dog fights« über der Ägäis – Flugmanöver, bei denen es nicht um den Abschuss, sondern »nur« um das Abdrängen der gegnerischen Flugzeuge geht.
Aktueller Anlass für die wieder lauter werdenden nationalistischen Töne sind die Auseinandersetzungen zwischen Griechenland, Zypern und Israel einerseits und der Türkei andererseits über die Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der jeweiligen Länder. Begonnen haben diese Auseinandersetzungen schon vor einigen Jahren mit dem Beginn von Probebohrungen durch türkische Schiffe in der von Zypern beanspruchten AWZ. Die Türkei will Zypern praktisch keine eigene AWZ zugestehen.
Auf der anderen Seite trägt auch Griechenland seinen Teil zu den Auseinandersetzungen bei. Schon die Syriza-Regierung hatte begonnen, Hoffnungen in verstärkten Extraktivismus zu setzen. Vor allem im Ionischen Meer, aber auch um Kreta herum werden größere Erdölvorkommen vermutet, allerdings oft in so großer Tiefe, dass sich die Ausbeutung nur bei hohen Erdölpreisen lohnen würde. Syriza verteilte Lizenzen an internationale Konsortien, bei denen teilweise auch griechisches Kapital beteiligt war. Eventuelle Interessen der Türkei bleiben dabei außen vor.
Die Türkei hat ihrerseits Griechenland provoziert, indem sie ein Abkommen mit der libyschen Regierung abschloss, das die von Athen beanspruchte AWZ erheblich einschränkt. Dieses Vorgehen reiht sich ein in Erdogans kriegerische Angriffe zunächst gegen Türkisch-Kurdistan, sodann Afrin, Rojava und zuletzt Idlib. Erdogan schürt nationalistische Tendenzen in seinem Land, da die Wirtschaft seines Landes den Bach runtergeht und er bereits die letzten Wahlen zu verlieren drohte.
Griechenlands Rechtsaußen-Regierung von Mitsotakis kommt das zupass. Sie kann unter Verweis auf die Aggressivität der Türkei selbst nationalistische Propaganda betreiben und z. B. bedeutende Rüstungsprojekte ohne viel Widerstand vorantreiben. So hat Griechenlandinnerhalb der EU den höchsten Rüstungshaushalt im Verhältnis zum BIP, innerhalb der NATO liegen nur die USA darüber. Kaum Erwähnung findet auch, dass die griechisch-türkische wirtschaftliche Zusammenarbeit reibungslos klappt. Zu erwähnen ist hier z. B. die Gas-Pipeline, die vom Kaspischen Meer durch die Türkei (TANAP) sowie Griechenland und Albanien bis nach Süditalien führt (TAP) und die in diesem Jahr ihren Betrieb aufnehmen soll.
Der unmenschliche Umgang mit den Geflüchteten
In das nationalistisch aufgeheizte und entsprechend mit Angst besetzte Klima hinein fielen die erhöhten Zahlen von nach Griechenland Geflüchteten, die sich 2019 mit ca. 60.000 Menschen (Seeankünfte) im Vergleich zu 2018 fast verdoppelt haben. Das ist zwar immer noch nur ein Bruchteil dessen, was 2015 von Griechenland zu bewältigen war, aber andererseits auch keine zu vernachlässigende Anzahl von Personen.
Da das widerliche EU-Türkei-Abkommen Griechenland dazu anhält, die Geflüchteten auf den ostägäischen Inseln unterzubringen, gibt es erhebliche Probleme. Eigentlich sollten die Ankommenden entsprechend dem Abkommen gleich wieder in die Türkei als sicheres Drittland zurückgeschoben werden. Dies passiert jedoch deswegen nicht, weil die Türkei sich weigert, sie zurückzunehmen. Die türkische Regierung stellt sich auf den Standpunkt, dass die EU ihrerseits ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen nicht einhalte, und sie hat damit nicht einmal Unrecht: Erstens sind von den versprochenen 6 Mrd. Euro erst etwa 4 Mrd. geflossen, zweitens hat die EU die von der Türkei ausgehandelte und von ihr als unabdingbare Voraussetzung angesehene Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger nie eingeführt.
Soweit die Geflüchteten nicht für die umgehende Abschiebung vorgesehen und in den geschlossenen Abteilungen der Hot Spots (Detention Centers) untergebracht sind, leben sie unter Umständen Monate oder sogar über ein Jahr unter völlig untragbaren Bedingungen innerhalb oder außerhalb der Hot Spots wie Moria auf Lesbos oder BIAL auf Chios.
Diejenigen, die als besonders schutzbedürftig qualifiziert werden, werden nach ihrer Registrierung von den Inseln in Lager auf dem griechischen Festland verbracht. Hier sind die Bedingungen nicht ganz so dramatisch wie auf den Inseln; gleichwohl kann auch hinsichtlich der Festlands-Lager von adäquater Unterbringung oder Betreuung keine Rede sein.
Weitere Gesetzesverschärfungen
Die Regierung hat gleich nach Amtsübernahme einige Maßnahmen durchgeführt, die die (Über-)Lebensbedingungen für Geflüchtete in Griechenland weiter erschweren: Sie haben keinen kostenlosen Zugang mehr zum Gesundheitssystem, sie dürfen die ersten 6 Monate nicht arbeiten, der Zugang zum Asylsystem ist komplizierter geworden. Im November 2019 ist ein neues Asylgesetz verabschiedet worden, das das Verfahren erheblich beschleunigt und für viele Geflüchtete nahezu unüberwindliche verfahrenstechnische Hindernisse aufbaut.
Die Geflüchteten auf dem griechischen Festland leben oft in abgelegenen Lagern, abgeschnitten von der Möglichkeit, Hilfe zu finden, sich zu integrieren oder Zukunftsperspektiven für sich selbst zu entwickeln. Die Zahl der Obdachlosen wächst und mit dem Ausschluss anerkannter Asylberechtigter von staatlich bezahltem Wohnraum stehen immer wieder Hunderte auf der Straße, bis sie selbst eine Wohnung finden oder in andere europäische Länder weiterfliehen können.
Menschen, die über die Landgrenze am Evros in die Städte gekommen sind, haben keinen unmittelbaren Zugang zum Asylverfahren. Sie können daher auch nicht in den normalen Aufnahmelagern unterkommen und müssen monatelang ohne Registrierung und ohne Sozialleistungen in Lagern bleiben, wo sie in Zelten, überfüllten Gemeinschaftsräumen oder Containern anderer Bewohner*innen leben.
Erdogans Erpressungspolitik und seine Folgen
Erdogan hat Ende Februar die Situation noch weiter eskalieren lassen, indem er Geflüchtete als Druckmittel gegenüber der EU missbrauchte und erklärte, die Türkei werde ihre Grenzen für geflüchtete Menschen öffnen.
Dieser Schritt der Türkei hat in Griechenland in Medien und Politik zu einem Aufschrei der Empörung geführt. Es wurde ein regelrechter Propagandakrieg entfesselt, gespickt mit Lügen und Falschmeldungen. Leider hat das in Teilen der Bevölkerung zu einer Art Panik geführt. Viele hatten noch die Bilder von Anfang 2016 vor Augen, als nach der Schließung der Grenze zu Mazedonien über 12.000 Geflüchtete von Idomeni in die großen Städte zurückkehrten und über Wochen auf Plätzen und in Parks campieren mussten. Natürlich gab es in dieser verzweifelten Situation auch Geflüchtete, die sich mit Kleinkriminalität über Wasser zu halten versuchten.
Die durch Medien und Politik aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung gab der Regierung die Möglichkeit, die Evros-Grenze quasi-militärisch auszubauen, ab 1. März die Registrierung neu angekommender Geflüchteter auszusetzen und die Menschen zur sofortigen Abschiebung in die Herkunftsländer vorzusehen. Berufen hat man sich dabei auf eine Ausnahmeklausel im EU-Vertrag. Obwohl die Genfer Konvention (GK) Völkerrecht ist und daher dem EU-Recht vorrangig, obwohl die GK keine Ausnahmen oder zeitliche Aussetzung vorsieht, obwohl das Verbot der Rückschiebung in das Heimatland des/der Geflüchteten (»non-refoulement«) absolut ist, haben die EU-Regierungen das Vorgehen Griechenlands begrüßt und es mit der Zusage weiterer Hilfen in Höhe von 700 Mio. Euro belohnt. Was bedeutet schon das Völkerrecht, was bedeuten schon Menschenleben gegenüber der »Sicherheit« Europas vor weiteren Geflüchteten?!
Die griechische Justiz setzt noch einen drauf: Nach der GK wird wegen illegaler Einreise nicht bestraft, wer unverzüglich nach seiner Einreise (aus einem nicht sicheren Drittstaat) Asylantrag stellt. Da nun aber die GK für (zunächst) einen Monat ausgesetzt wurde und die Geflüchteten keine Asylanträge stellen konnten, hat ein Gericht in Nordgriechenland viele von ihnen zu Gefängnisstrafen von 4 Jahren ohne Bewährung verurteilt!
Mehrere Geflüchtete wurden in den letzten Wochen an der türkisch-griechischen Grenze von griechischer Seite aus durch Schüsse verletzt, zwei Geflüchtete wurden erschossen. Einer von ihnen, Muhamad Gulzar, lebte eine Zeitlang im besetzten Hotel City Plaza in Athen. Er war nur in die Türkei gereist, um von dort seine Ehefrau nachzuholen. Beim Versuch, zurück nach Griechenland zu gelangen, wurde er getötet.
Wir wissen nicht, ob das durch die faschistischen und nationalistischen Milizen geschah, die an der Grenze in den letzten Wochen ihr Unwesen treiben, oder durch Militär oder Grenzpolizei. Letztlich kommt es darauf aber auch nicht an; verantwortlich ist in jedem Fall die griechische Regierung, die die Morde fördert oder jedenfalls nicht verhindert, im Gegenteil sie sogar leugnete und als fake news bezeichnete.
Die Haltung der griechischen Bevölkerung
Es ist festzustellen, dass sich in den letzten Jahren die Stimmung gegenüber Geflüchteten innerhalb der griechischen Bevölkerung erheblich gewandelt hat. Kaum etwas ist geblieben von der Unterstützung und der Solidarität, die die Geflüchtete noch 2015 erfahren haben. Bis in Teile der Linken hinein wird bezweifelt, ob die Forderung nach offenen Grenzen überhaupt noch erhoben werden sollte. Zu weit scheint einigen ein solches Anliegen von der Wirklichkeit weg zu sein.
Wenn man nach West-Thrakien, der griechischen Grenzprovinz zur Türkei im Norden, reist, kann man zu hören bekommen, dass eine türkische Invasion befürchtet werde und die Geflüchteten eine Art Vorhut des türkischen Armee darstellten.
Zu der Stimmung in Griechenland passt, dass nach den griechischen Nazis und den faschistischen Identitären aus Deutschland und Österreich jetzt auch andere deutsche Faschist*innen nach Griechenland an die Grenze mobilisieren. Bleibt nur abzuwarten, wie weit sie kommen, wenn jetzt, im Zuge des Kampfes gegen die Ausbreitung des Corona-Virus, überall die Grenzen geschlossen werden.
Die fortschrittlichen Kräfte oder auch die Menschen, die die Lage der Geflüchteten in Griechenland, vor allem auf den ostägäischen Inseln, aber auch auf dem Festland sowie der Geflüchteten in der Türkei aus humanitärer Sicht für unerträglich halten und solidarisch die Probleme angehen wollen, befinden sich in absoluter Minderheit, stehen zumindest außerhalb der großen Städte in gewisser Weise mit dem Rücken zur Wand. Zu mächtig erscheint die rechte Propaganda.
Es gibt Widerstand gegen die Regierungspolitik, alle neu ankommenden Geflüchteten in geschlossene Lager auf den Inseln einzusperren. (Auch dieses Vorhaben ist mit dem Geist des Art. 31 GK nicht zu vereinbaren, wie der UNHCR wiederholt erklärt hat. Aber Ungarn hat gezeigt, dass ein derartiges Vorgehen von der EU zumindest toleriert, tatsächlich wohl sogar begrüßt wird.) Oft wird dieser Widerstand allerdings von rechtsradikalen und faschistischen Kräften angeführt, die keine weiteren Geflüchteten auf ihren Inseln wollen.
Es gibt natürlich auch Widerstand von fortschrittlicher Seite. So wurden z. B. europäische Faschist*innen, die zur »Verteidigung der Grenzen Europas gegen die Füchtlingsinvasion« und/oder die »muslimische Invasion« auf die Inseln gereist waren, angegriffen und verprügelt. Gruppen von Menschen stellen sich den Faschist*innen entgegen, die Geflüchtete z.B. durch Straßensperren schikanieren und angreifen. Aber leider sind diese Kräfte in der Minderheit.
Und jetzt Corona
In dieser Situation traf und trifft auch Griechenland die Corona-Krise, und natürlich trifft sie auch hier die armen Klassen, die rechtlosen und am meisten marginalisierten Menschen am härtesten. Wir wissen, was große Zusammenballungen von Menschen, was der Mangel an Hygiene und gesunder Ernährung in diesen Zeiten bedeuten kann. Und doch macht die Regierung trotz verschiedener Aufrufe unter anderem des UNHCR keinerlei Anstalten, die völlig überfüllten Lager auf den Inseln wenigstens teilweise zu entlasten und die Geflüchteten in besser geeignete Unterkünfte auf dem Festland zu bringen. Man braucht sich nur einmal die (Luft-)Bilder von Moria auf Lesbos vom Sept. 2019 anzusehen, wo dort 10.000 bis 12.000 Menschen lebten, und vom Febr. 2020, wo in und um das Lager 20.000 bis 22.000 Geflüchtete ausharren mussten, um zu erkennen, wie dramatisch sich die bereits vorher untragbare Situation dort entwickelt hat.
In den Medien wird dieser Tage dazu aufgerufen, zuhause zu bleiben, Kontakt zu anderen zu vermeiden, Abstand zu halten usw. Und die Geflüchteten? Von Obdachlosen und Gefangenen in den Knästen ganz zu schweigen. Wie sollen sie sich an solche Regeln halten können? Kaum jemand fragt danach. Auch in Griechenland zirkulieren auf Blogs und Internet-Listen solche Messages wie die mittlerweile weltweit verbreitete »Schaut nie wieder auf Menschen herab, die vor Krieg und Hunger fliehen« – aber zumindest die Regierung dürften sie kaum erreichen.
Alle hatten wir uns auf eine große Demonstration zum Antirassismus-Tag am 21.03. vorbereitet, um ein Gegengewicht zu setzen zum institutionellen und informellen Rassismus in Griechenland und um für eine solidarische Gesellschaft mit offenen Grenzen zu kämpfen. Corona hat uns auch hier einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zwar gab es bis vor kurzem noch linke Gruppen, die die Demo durchführen wollten. Nachdem sie aber allgemein heftigen Widerstand ernteten und als Zyniker*innen gebrandmarkt wurden, führen sie nun nur noch eine symbolische Protestaktion mit Plakaten (und den Plakatträger*innen in angemessenem Abstand zueinander) durch – die wegen der Leere der Straßen und Plätze wirkungslos verpuffen dürfte.
An unsere Genossinnen und Genossen in Deutschland gibt es in dieser Situation zwei Bitten: Erstens tut, was ihr könnt, um die deutsche (und europäische) Unterstützung der verbrecherischen Politik der griechischen Regierung gegenüber den Geflüchteten zu skandalisieren, zweitens, wenn es möglich ist, sammelt etwas Geld, das wir den Geflüchteten auf den Inseln zukommen lassen können, z. B. damit sie sich etwas stabilere Hütten um die Hot Spots herum bauen, das Nötigste zum Essen beschaffen und im Notfall auch mal einen Arzt aufsuchen können. Im übrigen ist dort vor allem praktische Hilfe zur Selbsthilfe gefragt.
Autor: Achim Rollhäuser lebt in Athen und ist Rechtsanwalt und Aktivist. Er ist unter anderem aktiv im Netzwerk für Demokratische und Sozialen Rechte und Mitglied bei den Europäischen Demokratischen Anwälten (AED-EDL). Für weitere Infos zu den diversen Streitpunkten zwischen Athen und Ankara empfiehlt Achim hier zu schauen.
Bild: Four Horsemen of the Apocalypse von Wiktor Michailowitsch Wasnezow.