Unsere Alternative bleibt Solidarität

5 Monate nach der Bundestagswahl und noch immer keine (große) Koalition. Während das neoliberale Lager um ein „Weiter so“ ringt, geht die Normalisierung rechter Positionen und Akteure ungebremst weiter. Was sollte eine radikale gesellschaftliche Linke in dieser Situation tun? Den Kampf um die Zukunft aufnehmen und den Slogan der Solidarität mit echtem Leben füllen, meinen Hannah Eberle und Oliver Wagner. Was das konkret heißen soll? Lesen Du musst!

Außenpolitik: Mit deutschen Panzern greift die Türkei unter Präsident Erdoğan kurdische Gebiete in Syrien an. Die militärischen Auseinandersetzungen dauern an. Europapolitik: In ganz Europa formieren sich rechte Projekte. Das schwarz-blaue Österreich erhält im Sommer die EU-Ratspräsidentschaft und richtet den EU-Sondergipfel zur Inneren Sicherheit aus. Prominentes Thema werden die Kontrollen an den EU-Außengrenzen sein. Innenpolitik: Die Serie rassistischer Anschläge setzt sich nicht nur in Plauen fort, der Mord an Oury Jalloh wird noch immer nicht anerkannt, und viele Zusammenhänge der rassistischen NSU-Morde bleiben ungeklärt. Dennoch sitzt bald ausgerechnet die CSU im Innenministerium, das neuerdings den Zusatz »Innen, Bau und Heimat« trägt.

Normalisierung und Kämpfe um das Alte

Währenddessen wird ein »Weiter so« durchgepresst, auf den Regierungsbänken und autoritär auf den Straßen. Die Kriminalisierung richtet sich gegen alle, die sich auf die eine oder andere Weise zur Wehr setzen. Die Autoritarisierung betrifft Jugendliche, Aktivist*innen, Geflüchtete. Spätestens seit der Polizeigewalt zum G20 im letzten Sommer in Hamburg sollte allen klar sein, dass Bedingungen geschaffen werden, die zukünftige Kämpfe erschweren und Angriffe durch undurchsichtige Gefahrenprognosen der Polizei rechtfertigen. Einige Beispiele: Jeder Versuch, die AfD oder Braunkohlegruben zu blockieren, wird mit Polizeigewalt drangsaliert. Jugendzentren (JUZ Mannheim), Erinnerungsstätten (Anne-Frank-Haus Frankfurt) und politische Kongresse (Antifa-Kongress in München) sollen verboten, geschlossen werden, oder es wird versucht, ihnen die Mittel zu kürzen. Viele unserer migrantischen und geflüchteten Freund*innen und Genoss_innen erleben solche Polizeigewalt schon lange. Auch Demonstrationen für Frieden in Syrien und für Demokratie in der Türkei, die als Zeichen ihrer Verbundenheit die Fahnen der kurdischen Befreiungsbewegung tragen, werden auf halber Strecke gestoppt (am 27. Januar 2018 in Köln; am 4. November 2017 in Düsseldorf).

In diesen Zeiten kann sich die AfD glücklich wähnen. Denn sie ist nicht zuletzt dann erfolgreich, wenn ihre Politik wie auf Zuruf schon umgesetzt wird. Auch hier einige Beispiele: Die AfD fordert ein hartes Durchgreifen gegen Demonstrierende – die Junge Union übernimmt das Diskreditieren und Kriminalisieren. (ak 633) Die AfD propagiert militärische Mauern, Abschottung und Nationalismus – die große Koalition beschließt die Aussetzung des Familiennachzugs. Die AfD hetzt gegen Frauen, die abtreiben – die Konservativen an der Regierung stigmatisieren und verbieten die »Werbung« für Abtreibungen (Paragraf 219).

Im Klima eines konsequenten Angstdiskurses – Angst vor Geflüchteten, Angst vor extremistischen Autonomen, Angst vor kriminellen Jugendlichen – analysieren wir eine Autoritarisierung und das erfolgreiche rechte Projekt rund um die AfD als doppelte Rechtsverschiebung. Die Politik der großen Koalition, der angeblichen Mitte führt ebenso Kämpfe um das Alte wie die Rechten. Die einen ringen um eine scheinbare neoliberale Stabilität, die eine tatsächliche Unsicherheit höchstens wegschieben, aber nicht beenden kann. Die anderen wollen in einen Vor-1968er-Zustand zurück und suggerieren, dass ein strenges Regiment, gepaart mit altertümlichen und nationalen Vorstellungen, Sicherheit herstellen kann.

Und die gesellschaftliche Linke? Es ist erschreckend ruhig auf unserer Seite der Barrikade. Seit der Bundestagswahl im September 2017, nach G20 im Juli und Ende Gelände! im November diskutieren auch wir innerhalb der Interventionistischen Linken mit unseren 800 Genoss_innen wieder verstärkt, wie eine Strategie in Zeiten aussehen kann, in denen man lieber die Decke über den Kopf ziehen will. Was uns aber wach hält, ist die Überzeugung, dass die herrschenden Zustände ihre Legitimation vor allem aus der Nicht-Existenz des Anderen ziehen. Daraus ergeben sich mindestens zwei Schlussfolgerungen.

Erstens darf und sollte uns dieser uns alle betreffende Kampf ums Alte wütend machen. Unter anderem, wenn wir gemeinsam am 8. März gegen Antifeminist*innen mobilisieren, am 17. März in Hannover gegen den türkischen Krieg demonstrieren, am 18. März in zahlreichen Städten gegen Polizeigewalt mobil machen und uns am besten jeden Tag dem rassistischen Normalzustand entgegenstellen – in Orten wie Wurzen, Cottbus oder Plauen.

Zweitens – und hier beginnen die Debatten in der Linken – halten wir es als Autor*innen für einen Fehler, sich an der AfD und den Rechten abzuarbeiten. Es geht nicht nur um Wut, es geht um die Zukunft. Wir begreifen die zunehmende rechte Normalisierung als die Fortführung und Konsequenz einer Klassenpolitik von Oben. Einer Klassenpolitik des Ausschlusses von Armen, von einer Vielzahl von Frauen und Migrant*innen. Es gilt dem »Weiter so« zu begegnen und linke Strategien daran zu messen.

Und die Kämpfe um das Neue?

Hierfür ist es notwendig, die Fragmentierung der gesellschaftlichen Linken ein Stück weit aufzuheben, sich stärker zu unterstützen und immer nach den verbindenden Punkten zu suchen. Die Aufgabe einer radikalen Linken besteht darin, die großen gesellschaftlichen Verschiebungen im Blick zu behalten und sich an diese heranzutrauen. Dazu muss sich die Linke verbreitern und über ihren Tellerrand hinausdenken. Doch eine Strategiedebatte, die nur danach fragt, wie können wir mehr werden, ist falsch. Sie führt uns zu Gedankenspielen über 15 Prozent, über ein dissidentes Drittel oder eine radikale Minderheitslinke. Sie führt uns zu methodischen Streitigkeiten, in der sich die Linke (wieder) zwischen Klassenkampf im Kiez und revolutionärem Ereignis oder zwischen Militanz und Demonstration verliert. Linke Politik und linke Ansätze sind dann attraktiv, wenn wir es als kämpfende Linke schaffen, an der Seite derjenigen zu stehen, die am meisten von der rechten Normalisierung betroffen sind, wenn wir begeistern und ermutigen können und wenn es Wirkung zeigt, was wir beginnen zu tun.

Machen wir also ein paar hoffnungsvolle Vorschläge

Der Slogan »Unsere Alternative bleibt Solidarität« schmückt nicht nur viele Flyer der Interventionistischen Linken, sondern bleibt richtig und eine gesellschaftliche Kernforderung, die an uns alle gerichtet ist. Aus vielen Momenten der Solidarität könnten politische Prozesse entstehen, die einen mindestens europäischen Horizont besitzen und in denen wir wieder um Hegemonie ringen.

  1. Diejenigen, mit denen wir kämpfen (wollen), sind diejenigen, denen wir als radikale Linke manchmal zu wenig beiseite stehen. Seien es Arbeitslose, die seit Jahren als politische Subjekte marginalisiert werden. Seien es Migrant*innen, die einen zunehmenden rassistischen Diskurs psychisch und physisch ertragen müssen. Seien es linke Gewerkschafter*innen, die um Tariflöhne und gegen die Rechten in ihrem Betrieb kämpfen, oder Frauen, die an ihren Arbeitsplätzen sukzessive psychischen Belästigungen ausgesetzt sind. Seien es Mieter*innen, die aus ihren Wohnungen verdrängt werden, oder Geflüchtete, die still und leise abgeschoben werden. Die radikale Linke muss verlässlicher Partner sein, ein Angebot machen (ak 621), um den Resonanzraum zu vergrößern. Erst wenn wir gemeinsam um Anerkennung und soziale Gleichheit kämpfen, kann sich eine nach vorne treibende heterogene Klasse bilden. Gegenmacht bildet sich durch die gemeinsamen Erfahrungen, die wir machen. Das revolutionäre Subjekt entsteht jedoch nicht, indem wir es als Linke bloß benennen.

  2. Unser gemeinsames Ziel auf der diskursiven Ebene könnte sein, dass in dieser komplizierten Situation anders über Antirassismus, Feminismus und Sozialpolitik gesprochen wird. Das erreichen wir, wenn wir in der Gesellschaft und nicht ausschließlich unter uns ins Sprechen kommen. Wir wollen mehr im Zukünftigen, also setzen wir Themen und Forderungen, die polarisieren und begeistern. Aus denen sich eine gesellschaftliche Forderung nach Enteignungen des privaten Wohnungsmarkts (Rotes Berlin) entwickeln kann, ein anderes Verständnis von Produktions- und Reproduktionsarbeit entsteht und internationale Solidarität wieder in gemeinsamen Aktionen mündet. Die Messlatte sollte sein, ob wir unsere Visionen, unsere Narrative so entwickelt bekommen, dass andere darüber und eben nicht über die Vergangenheit sprechen müssen. Wenn die AfD Antiestablishmentpolitik propagiert, propagieren wir Enteignung und Kollektivierung vor Ort bei jedem Versicherungsunternehmen, bei jeder Wohnungsbaugesellschaft. Was bei den Grünen Green New Deal ist, heißt bei uns Not Climate Change System Change. Was bei der CDU konservative Revolution bedeutet, heißt bei uns neue Frauenrechte, und was bei SPD und Grünen Migrationspolitik heißt, bedeutet bei uns Bewegungsfreiheit und ein Ende der Lagerunterbringung. Wir müssen viel schärfer beginnen zu formulieren, wie unser Mehr aussieht, und genau dieses Mehr auf die Straße tragen.

  3. Als radikale Linke sollten wir an den Wirkungsorten der neoliberalen Politiken präsent sein. Zum Beispiel genau dann, wenn die Landtagswahlen in Bayern und Hessen in diesem und die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie die Europawahl im nächsten Jahr nichts Gutes erahnen lassen. Genau dann muss es um ermächtigende Solidarität gehen, zwischen allen, für die die politischen Rechtsverschiebungen existenzielle Probleme bringen. In verbindenden Festivals der Solidarität als Gewerkschafter*innen, als Geflüchteten, als Frauen, als Antifaschist*innen gemeinsam die Kämpfe weiter entwickeln. Ein reales Angebot dort machen, wo sich wenige gegen die Rechten durchsetzen. Empowerment in Form von selbstorganisierten Beratungen von Arbeitslosen, von Geflüchteten oder (ungewollt) schwangeren Frauen, ein Ort der Praxis in dem wir uns Skills geben, um zu streiken und zu blockieren, ein Ort der gemeinsamen Debatte über eine Neuauflage der Solidarity Cities oder der Kampagnenideen zur Wohnraumenteignung, über ein Ende der Privatisierungen oder ein solidarisches Europa.

Schon jetzt im Sommer liegen die Orte des Gemeinsamen vor uns: Die antirassistische Parade We’ll come united findet in Hamburg statt, die österreichischen Genoss*innen sind unermüdlich im Kampf gegen die FPÖVP. Und viele andere Fenster sind offen: in der Wohnraumpolitik, in der Klimapolitik und auch wieder in der Frage von Krieg und Rüstungspolitik. Gemeinsam mit den kurdischen Freund*innen kann es nur um das Vorne und nicht das Zurück gehen. Und niemand hält uns davon ab, am Rande bei den Arbeitsministerien, Versicherungsunternehmen oder Rüstungskonzernen vorbei zu schauen. Visionen sind nur langfristig denkbar – was dann passiert, entscheidet die Straße. Und das ist gut so.

Hannah Eberle und Oliver Wagner sind organisiert in der Interventionistischen Linken (IL).

Der Artikel ist zuerst in der Ausgabe 635 von analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis erschienen.

Bild: Yellow fists, von M Rasoulov.