#aufstehen – in der Spaltung liegt eine Chance!

Soll die radikale Linke #aufstehen, die sogenannte »Sammlungsbewegung« rund um die LINKEN-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht, überhaupt beachten? Unser Autor Sam meint: Die Herausbildung einer eigenständigen nationalstaatlich-kommunitaristischen Kraft in der BRD wird das Spielfeld der Bewegungslinken nachhaltig verändern. Höchste Zeit also, um über die richtigen Strategie im Umgang mit #aufstehen zu diskutieren!

Eine Allianz gegen die kosmopolitische Linke

Der Einwand liegt nahe, dass es über die #aufstehen genannte Sammlungsbewegung noch nicht viel zu berichten gibt und der »Start« der Bewegung und die darauffolgenden Monate abgewartet werden sollten. Mit Blick auf die vorantreibenden Personen im Hintergrund ebenso wie auf die Verlautbarungen der letzten Tage wird jedoch schnell klar, dass sich hier ein lange geplantes und herangereiftes Projekt zu formieren beginnt: Die Besetzung der sogenannten »links-kommunitaristischen« Leerstelle im politischen Diskurs der BRD. Dieser Begriff kommt vom Frankfurter Politikwissenschaftler Andreas Nölke und seinem im Juli veröffentlichten Buch »Linkspopulär«. Nölke ist zusammen mit dem Soziologen Wolfgang Streeck und dem Dramaturg Bernd Stegemann einer der intellektuellen Köpfe von #aufstehen und ist derzeit an der Ausarbeitung des Gründungsmanifests beteiligt (siehe z.B. hier).

Der Begriff der »links-kommunitaristischen Lücke« geht von einer doppelten Teilung des politischen Spektrums entlang einer ökonomischen und einer kulturellen Achse aus. Das links-rechts-Kontinuum ist ökonomisch bestimmt und reicht von neoliberaler bis zu sozialstaatlicher Politik. Die kulturelle Achse folgt (vermeintlich) keinem links-rechts Schema und reicht von kosmopolitisch bis kommunitaristisch. In diesem Schema bleibt die links-kommunitaristische Ecke unbesetzt. Laut Andreas Nölke haben die Kosmopolit*innen einen positiven Bezug zur Globalisierung, »befürworten das Regieren jenseits des Nationalstaats und stehen verstärkter Migration aufgeschlossen gegenüber. Kommunitarist*innen lehnen diese Entwicklungen ab, sie halten dagegen die Bedeutung des demokratischen Nationalstaats hoch, insbesondere auch wegen dessen historischer Verknüpfung mit dem Sozialstaat.« Da alle etablierten Parteien, einschließlich der LINKEN, »bei wichtigen Themen (Europa, Migration, Globalisierung) eine Variante derselben Politik anbieten« würden, wären »die Rechtspopulisten bisher in dieser Hinsicht die einzige deutliche Alternative. Eine Alternativposition zum dominanten Kosmopolitismus lässt sich aber auch auf der linken Seite des politischen Spektrums formulieren.«

Aus diesen Überlegungen Nölkes folgt dann die Frage, wer diese Lücke (zuerst) füllt – die LINKE, indem sie sich von ihrem (vermeintlich) kosmopolitischen Programm verabschiedet oder die AfD, indem sie sich ein sozial-nationales Programm aneignet. Laut Nölke ist die Zeit knapp – die Verabschiedung der AfD von ihrem ultra-neoliberalen Programm könnte schon vor den Landtagswahlen im Osten auf Betreiben der dortigen Landesverbände einsetzen.

Das Projekt einer – ich nenne sie nationalstaatlich-kommunitaristischen – neuen politischen Kraft in der BRD geht mit einer Kritik an der kosmopolitischen Linken einher. Im Grunde genommen geht es um die Kritik am »progressiven Neoliberalismus«, mit dem Nancy Fraser in den USA die Abwendung der Arbeiter*innen von den Demokraten und der urbanen, linksliberalen Mittel- und Oberschicht erklärt hat. Demnach habe sich die Linke in eine Identitätspolitik verrannt und die soziale Frage rechts liegen lassen. Bernd Stegemanns Essay »Das Gespenst des Populismus« liest sich wie eine Abrechnung mit dieser »kulturalistischen Linken«, mit der die linke Szene einschließlich der iL gemeint ist.

Zurück zur guten alten Zeit

Was wir gegenwärtig beobachten ist ein größerer Konflikt in der gesellschaftlichen Linken, der sich in vielen verschiedenen Ländern abspielt und der den mehr als einhundertjährigen Konflikt zwischen Reform und Revolution zu überwölben beginnt. Es geht darum, ob eine universelle (also allgemeingültige) internationalistische Perspektive linker Politik überhaupt noch existiert, oder ob linke Politik nur noch aus Sicht des Nationalstaates gedacht werden kann. Dieser ungelöste Konflikt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus beginnt sich nun in der politischen Krise der kapitalistischen Globalisierung voll zu entfalten und führt zu einer Zersplitterung progressiver Kräfte.

Kommunitaristische Politikansätze wenden sich von einer transnationalen bzw. internationalistischen politischen Strategie ab. Die Blockade einer übergreifenden sozialistischen Systemtransformation führt zu einer (linken) Politik, die sich nur noch affirmativ auf den nationalstaatlichen Verteilungsrahmen bezieht. Als Legitimationsquelle dient ihr nicht mehr eine universalistische Utopie, die an der Krise des globalen Kapitalismus ansetzt und ihr eine globale Transformation gegenüberstellt, sondern eine Rückbesinnung auf die Zeit vor der Globalisierung. Die ökonomische Flexibilisierung, aber auch kulturelle Modernisierung und Vervielfältigung im neoliberalen Kapitalismus werden in Frage gestellt. Es geht um einen »angeblichen früheren Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft, in dem ›die Welt noch in Ordnung war‹ und die verunsichernden Unordentlichkeiten der globalisierten Gegenwart noch nicht ins eigene Leben eingebrochen waren.« (Dennis Eversberg, 2017: Innerimperiale Kämpfe: Der autoritäre Nationalismus der AfD und die imperiale Lebensweise. Working Paper der DFG-Kollegforscher_innengruppe Postwachstumsgesellschaften, online hier)

Das Kalkül nationalstaatlich-kommunitaristischer Strategien ist, dass sich wichtige lohnabhängige Gruppen und Milieus in der Krise der Globalisierung nur durch einen Rückbezug auf die Zeit vor der Globalisierung mobilisieren lassen. Das schließt nicht nur eine ökonomische Kritik, z.B. an atypischen Arbeitsverhältnissen, sondern auch eine kulturelle Kritik an Werteverlust, Multikulturalismus, »unkontrollierter« Migration und mangelnder Sicherheit ein.

Dass #aufstehen damit rechte Forderungen aufgreift und diskursiv verfestigt, wissen die Initiator*innen. Mehr noch, es handelt sich um eine bewusst gewählte Diskursstrategie, um von linker und bürgerlicher Seite Kritik zu bekommen und sich so als anti-establishment Kraft zu inszenieren. Auch wenn die »Sammlungsbewegung« sich machtförmig etablieren sollte, wird sie nicht zu einem internationalistischen, emanzipativen linken Programm zurückkehren; die Vermischung von gemäßigt kulturell-rechten und gemäßigt ökonomisch-linken Positionen zu einer eigenständigen politischen Strömung in der BRD ist das explizite Ziel.

Ein nationalstaatlich-kommunitaristisches Repräsentationsprojekt ist nicht mit der AfD und der neuen Rechten gleichzusetzen. Bestimmte Positionen, etwa ein grundsätzliches Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung (bzw. dem, was darunter definiert wird) oder einer Ablehnung ethnischer Konzepte von Volk und Demokratie wird #aufstehen nicht in Frage stellen. Wenn die Initiator*innen klug sind (und es sieht danach aus), werden sie zwischen migrationsfeindlichen Äußerungen und Tabubrüchen mit der »Political Correctness« auf der einen Seite und Beschwichtigungen und humanistischen Bekenntnissen auf der anderen Seite changieren. Bereits jetzt scheint #aufstehen durch die Einverleibung der »Progressiven Sozialen Plattform« um den SPD-Abgeordneten Marco Bülow den Charakter eines komplexeren »Kräfteverhältnisses« anzunehmen, das sich mittelfristig in eine Parteiform verwandeln kann (und sehr wahrscheinlich wird).

Der falsche Populismus

Dabei bleibt der affirmative, positive Bezug auf den starken Nationalstaat und kapitalistisches Wirtschaftswachstum erhalten. Doch es ist hilfreich, das nationalstaatlich-kommunitaristische Projekt nicht ausschließlich als nationalistisch oder autoritär abzutun, sondern sich auf die Strategie hinter der »Sammlungsbewegung« zu beziehen und sie zu kritisieren: Mit der kommunitaristischen Strategie werden erstens all diejenigen progressiven Kräfte ausgeschlossen, die sich positiv auf Aspekte der kulturellen Modernisierung und Pluralisierung im Kontext der Globalisierung beziehen. Sie treibt damit einen Keil ins progressive Lager bzw. spaltet das linksliberale Lager nach rechts ab. Zweitens ignoriert sie, dass konkrete gesellschaftliche Auseinandersetzungen langfristig nur transnational und durch die solidarische Kooperation von Menschen, die sich als Verlierer der Globalisierung begreifen und Menschen, die im Kontext der Globalisierung ihren Wohnort verändern, geführt und gewonnen werden können. Drittens verkennt die nationalstaatlich-kommunitaristische Strategie, dass es keinen Spielraum für linke Politik im Rahmen des Nationalstaats gibt. Sie kann ihre Ziele nicht praktisch umsetzen, sondern nur populistisch versprechen und mittelfristig, sollte sie wirklich an die Macht kommen, scheitern. Die wirtschaftspolitische Einhegung des Nationalstaats im Zuge der Globalisierung kann nicht ausgehebelt werden. (siehe z.B. Bernd Riexinger, 2016: Gegen-Macht und linke EU-Kritik statt Exit-Illusionen. Bei der Durchsetzung von Alternativen zum Neoliberalismus gibt es keine Abkürzungen über die Währungsfrage, olnine hier). Es gibt »keinen Exit aus gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen« (ebd.) – jede ökonomische Alternative und jede politische Strategie zu ihrer Durchsetzung muss transnational ausgerichtet sein, wenn sie eine reale Alternative entwickeln will.

Die Gegenüberstellung einer kommunitaristischen und kosmopolitischen Linken hat fatale Auswirkungen auf eine emanzipative, antikapitalistische Perspektive. Raul Zelik hat in einem ak-Artikel schön beschrieben, wie falsche Gegensätze die Debatte in der Linken bestimmen: Auf der einen Seite sorgen »rhetorische Angebote an reaktionäre Ressentiments und falsche Überzeugungen - von ›Obergrenze‹ und ›Gastrecht‹ bis hin zu ›die Zinsen sind zu niedrig‹ - (…) für die weitere Ausbreitung eben dieser Ressentiments und falschen Überzeugungen.« Auf der anderen Seite, und hier sind die R2G Befürworter*innen vom ISM bis Kevin Kühnert angesprochen, »hofft man, falsche Überzeugungen für etwas Richtiges mobilisieren zu können. Sprich: Man will die vielfach widerlegte Illusion, Emanzipation könnte parlamentarisch gewählt werden, für eine Politisierung der Gesellschaft nutzbar machen.« Das tragische ist, so Raul Zelik, dass beide Seiten etwas Richtiges in sich tragen: »die Anhänger*innen des Linkspopulismus, wenn sie sagen, dass wir eine antagonistische Gegenposition zu den Verhältnissen formulieren und die sozialen Widersprüche auch so polarisiert zum Ausdruck bringen müssen. Die Freund*innen des ISM, wenn sie betonen, dass ein emanzipatorisches Bündnis nötig ist, das viele unterschiedliche Milieus erfasst.«

Eine neue internationalistische Linke?

Auch wenn ich mir eine Linke wünschen würde, die diesen falschen Gegensatz überwindet und mit einer sowohl radikalen, emanzipatorischen als auch populären, sozial zugespitzten Position einen »dritten Pol« herausbildet, kann die derzeitige Spaltung auch eine Chance beinhalten – wenn wir sie auch wirklich vollziehen. Die Herausbildung eines nationalstaatlich-kommunitaristischen Projekts verlangt geradezu danach eine Gegenposition zu formulieren, die zwar einerseits den politischen Hauptgegner bei der neoliberalen Mitte und der neuen Rechten verortet, aber andererseits klar von #aufstehen unterscheidbar ist und ein alternatives linkes Politikangebot unterbreitet. Das nationalstaatlich-kommunitaristische Projekt würde davon nicht geschwächt, vielmehr würde es in seiner Rolle als anti-kosmopolitische »Sammlungsbewegung« gestärkt werden. Andererseits hätten wir die Chance, einen wahrnehmbaren, sprechfähigen Pol links davon herauszubilden. Eine Debatte, die zwischen einem emanzipatorisch-internationalistisch-kapitalismuskritischen Pol (wir) und einem nationalstaatlich-kommunitaristisch-reformistischen Pol (#aufstehen) anstatt zwischen Merkel und Seehofer verläuft, könnte eine Linksverschiebung bewirken.

Es wäre die Aufgabe der iL, ins linksliberal-kosmopolitische Spektrum hineinzuwirken und es für ein emanzipatorisches, transformatives Projekt zu gewinnen das von der Straße hergedacht ist – ob bei Protesten für eine Seebrücke, gegen Polizeigesetzverschärfungen, gegen Rassismus und für ein Recht zu bleiben, für vergesellschafteten Wohnraum, für Klimagerechtigkeit, für Feminismus oder ein anderes Europa. Komplementär zu #aufstehen wäre es unsere Aufgabe, das linksliberale Spektrum nach links abzuspalten und in ein bewegungsorientiertes, kapitalismuskritisches Projekt einzubinden.

Dabei sollten wir die falsche Gegenüberstellung zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus überwinden. Ein affirmativer Kosmopolitismus, wie er etwa bei DiEM25 durchscheint, der eine »andere Globalisierung« oder eine sozialere EU herbeisehnt ohne eine reale Handlungsperspektive zu entwickeln, ist ebenfalls keine Lösung und genau das, wofür uns die Gegenseite kritisiert. Wir brauchen einen positiven Bezug zum Zerfall der neoliberalen Weltordnung und gleichzeitig eine neue internationalistische Utopie, die wir an ihre Stelle setzen.

Auch den falschen Dualismus zwischen Identitäts- und Klassenpolitik, den die nationalstaatlich-kosmopolitische Seite versucht uns aufzudrücken, sollten wir zurückweisen. In all den oben aufgezählten Protesten und gesellschaftlichen Kämpfen sind Klassenfragen und (materielle) Interessen zentral, in all diesen Themen können wir uns konkret verankern und den Alltagsverstand der Menschen ansprechen.

Kampf für eine solidarische Zukunft

Allein – um einen Pol links des nationalstaatlich-kommunitaristischen Projekts sichtbar und sprechfähig zu machen, reicht es nicht, in den diversen Themenfeldern Bündnisarbeit zu leisten und Aktionen durchzuführen. Wir bräuchten einen verbindenden Anspruch, der den Kampf für eine solidarische Zukunft in den Mittelpunkt stellt und mittelfristige Ziele in den verschiedenen Bewegungsfeldern formuliert und zusammenführt. Nur so kann letztlich der beschränkte, nationalstaatlich und etatistisch verengte Ansatz des kommunitaristischen Projekts sichtbar gemacht und wirksam kritisiert werden. Dabei geht es nicht um vorwiegend negativ oder abwertend geschriebene Aufrufe und Abgrenzungen, sondern tatsächlich um ein positives Alternativprojekt, das sowohl das nationalstaatlich-kommunitaristische Projekt als auch die herrschende Politik unter Rechtfertigungsdruck setzt; also die Spaltung der gesellschaftlichen Linken als Chance zu begreifen und auch tatsächlich voranzutreiben.

Sam ist in der Interventionistischen Linken Berlin aktiv.

Bild: »Crack« von André Hofmeister.