Im Schatten der AfD

Was tun nach der Bundestagswahl? Julia und Andreas argumentieren, dass neben der AfD auch der neoliberale Pol nicht vergessen werden darf. In ihm zeigt sich nicht nur eine fortschreitende Etablierung rechter Positionen, sondern auch die Kontinuität von Kapitalinteressen – gerade in einer möglichen Jamaika-Koalition.

Nach der Wahl

Das Entsetzen nach der Wahl war allerseits groß, nicht nur unter Linken: die AfD, eine offen rechte Partei, die sich einer rassistischen Rhetorik bedient, dabei vor keinem Tabubruch zurückschreckt und sich nicht scheut, Versuche zu unternehmen, einen völkischen Diskurs wieder salonfähig zu machen, ist als »dritte Kraft« im Bundestag. Der Tenor war bereits von Anfang an klar: Jetzt ist die Stunde der Demokrat*innen gekommen, die gegen die rechte Gefahr zusammenstehen müssen. Die Grünen versicherten schnell ihre grundsätzliche Bereitschaft, angesichts dieser Situation an einer Jamaika-Koalition mitzuarbeiten, der SPD hingegen wurde die mangelnde Bereitschaft zur Regierungsverantwortung zum Vorwurf gemacht.

Jamaika erfuhr postwendend großen Zuspruch. So äußerte sich zum Beispiel Christoph Schmidt, Volkswirt und Vorsitzender der so genannten »Wirtschaftsweisen«, laut Handelsblatt sehr hoffnungsfroh: »Nur ein neues Regierungsbündnis kann etablierte Politik ernsthaft in Frage stellen. Und dazu gibt es allerhand Anlass.« Im Bereich des Klimaschutzes solle sich Deutschland »von der bisherigen planwirtschaftlichen und kleinteiligen Umsetzung der Energiewende abwenden und stattdessen viel stärker auf die Arbeitsteilung zwischen Technologien, Branchen und Regionen setzen«. Es wäre der richtige Weg, die Klimaziele über einen einheitlichen Preis für CO2 der Sektoren Elektrizität, Mobilität und Wärme umzusetzen. Auch für die Digitalisierung erwartet Schmidt bei einem Bündnis aus CDU, CSU, FDP und Grünen einen Schub.

Gegen bürgerliche Krokodilstränen

Als radikale Linke, so meinen wir, genügt es nicht, in den Burgfrieden »Alle gegen die AfD« einzuwilligen. Unsere Aufgabe muss es vielmehr sein, genau hinzuschauen, in welcher gesellschaftlichen Gesamtsituation und unter welchen Rahmenbedingungen dieser Aufstieg der AfD geschieht und welche Rolle dem Zusammenspiel von AfD und etablierten Parteien dabei zukommt. Dazu gehört auch, was oder vielleicht sogar besser wer als Alternative zur AfD, zu Gauland, Höcke und Co. gehandelt wird und welche Symbolik sie sich zu eigen machen. So berichtete wiederum das Handelsblatt am 10.10.2017 anlässlich der Eröffnung der Buchmesse über die Besichtigung einer Nachbildung der Gutenberg-Presse durch Merkel und Macron, mit der die beiden die erste Seite der Menschenrechtserklärung drucken sollten. Das Handelsblatt sieht darin einen symbolischen Akt, da es beide als »Motoren der europäischen Einigung und als Mittler der demokratischen Mitte in einer Welt, die von Populismus und einem Rechtsruck geprägt ist«, sieht.

Vielleicht bringen uns gerade die Beiträge aus dem Handelsblatt einem Verständnis dessen näher, was mit dem Einzug der AfD passiert ist und was wir im Blick haben müssen, wenn wir darauf eine angemessene Antwort finden wollen. Sie zu bekämpfen, den mittlerweile offenen Rechtsruck nicht einfach so hinzunehmen: eine linke Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte sich auch von den Krokodilstränen der »bürgerlichen Mitte« unterscheiden, die folgendermaßen argumentiert: Im Bundestag darf es keine Parteien rechts von der CDU/CSU/FDP geben, die offen rechtes Gedankengut, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit propagieren. »Das ist eine Schande für Deutschland!« Und dann von der CSU, FDP und Teilen der CDU offen hinzugefügt und von den anderen klammheimlich umgesetzt: »Deshalb müssen wir diese Positionen übernehmen.« So viel dazu. Aber was passiert im Schatten all dessen?

Migration und Selektion

Schauen wir kurz zurück in das Jahr 2013. Spätestens seit diesem Jahr wird ideologisch vorbereitet, was lange schon vor der Bundestagswahl und wohl mit Sicherheit danach – also mit der neuen Regierung, ob Jamaika oder nicht – faktisch vollzogen wird. Und genau dazu brauchte es (auch) das Zusammenspiel mit der AfD: In den einschlägigen Zeitungen, vom Handelsblatt über die Wirtschaftswoche bis zur FAZ, hatten die weltoffenen Neoliberalen auf die kommende Flüchtlingskrise hingewiesen und davor gewarnt, sich borniert abzuschließen und eben nicht weltoffen zu sein.

Beispielhaft für viele andere Beiträge steht hier Klaus F. Zimmermann, Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn, der sich im Mai 2013 im Handelsblatt folgendermaßen geäußert hat: »Es ist nicht unrealistisch zu erwarten, dass unsere Bevölkerung 2013–2017 um mehr als zwei Millionen Menschen aus dem Ausland wächst.« Deshalb müsse unser Blick über Europa hinausgehen. Und lägen nicht in der Beliebtheit Deutschlands in der Welt große Chancen? Worauf sollte diese Menschenfreundlichkeit hinauslaufen? Die Stoßrichtung ist seit Jahren klar: »Denn wir stehen international in einem harten Wettbewerb um die »high potentials« und dürfen das auf dem Weltarbeitsmarkt brach liegende Humankapital nicht vergeuden. Aus dieser Perspektive bedeutet Diskriminierung »Verschwendung von Humankapital«. Und deshalb ein klares Plädoyer für Integration, aber mit einer faschistoiden Wendung. Ganz offen wird Selektion gefordert: »Integrationsarbeit ist Zukunftssicherung. Integration und Selektion müssen deshalb künftig in unserer Zukunftsstrategie Hand in Hand gehen.« Die Bundesrepublik Deutschland (und die ganze EU) stecken mitten in diesem Prozess und da ist die Frage, ob trotz oder wegen der AfD, müßig. Und spätestens hier wird deutlich: Es ist keineswegs allein die AfD, die auch diskursiv Begriffe aufgreift, die jeden halbwegs geschichtsbewussten Menschen erschauern lassen müssen. Daher ist die Frage notwendig: Was passiert im Schatten der AfD? Und inwiefern trägt der Fokus auf die AfD auch dazu bei, diesen Schatten zu produzieren? Und nicht zuletzt: Was müssen wir als radikale Linke aus dem Schatten ans Licht hervorholen?

Jamaika – Dreamteam der internationalen Kapitalfraktionen?

Zunächst in festzuhalten: In diesem Schatten scheint ein Raum für die »Macronisierung« zu entstehen, auch in der Bundesrepublik. Dafür wird natürlich Merkel weiter gebraucht, aber eben auch die bis auf die Knochen neoliberale FDP sowie die soft-neoliberalen Grünen. Die Position der FDP ist klar. Sie propagiert einen offenen und vollständig unkontrollierten Schritt in alles, was die kapitalistische Verwertungslogik bereitstellt; auf die Spitze getrieben mit dem Wahlslogan »Digitalisierung first, Bedenken second.« Was das bedeutet, dafür findet der schwarz-gelbe Ministerpräsident Laschet in NRW die Worte: Wirtschaft entfesseln. Die Grünen – man weiß gar nicht, ob es unter ihnen noch welche gibt, die das selbst glauben – tragen dazu ihre ökologische Kompetenz bei. Übersetzt bedeutet dies: Nichts ist für den Kapitalismus der Zukunft wichtiger, als eine ökologische Krisenbewältigungskompetenz zu entwickeln (Resilienz heißt das heute) und nichts ist notwendiger, als die daraus resultierenden Notwendigkeiten und Prozesse in Kapitalverwertungsmöglichkeiten zu verwandeln. Aus dieser Gesamtperspektive – egal, ob Jamaika nun kommt oder nicht – sind CDU/CSU/FDP/Grüne eigentlich nichts anderes als das Dreamteam der internationalen Kapitalfraktion. Macron heißt das in Frankreich.

Wie das im Detail funktioniert, wäre genauer zu analysieren. Soviel nur an dieser Stelle: Natürlich gibt es hier ein Zusammenspiel von »internationaler Kapitalfraktion« und nationalen Akteuren. Gerade der Standortnationalismus erlaubt es, jeweils die besten Bedingungen herzustellen für die Konkurrenz untereinander und damit zugleich für die Absicherung ihrer Interessen sowie für die Interessen der Kapitalverwertung insgesamt. Aus dieser Perspektive zeigen sich hier nicht zwei gegensätzlich Pole, sondern lediglich zwei Facetten einer gemeinsamen Dynamik mit spezifischen Schwerpunkten: neoliberaler Standortnationalismus und chauvinistisch-rassistischer Nationalismus.

Kapitalverwertung als oberstes Ziel

Wenn nun beide, Merkel und Macron, die Buchmesse eröffnen und aus diesem Anlass die Menschenrechtserklärung neu drucken, dann sollte daran erinnert werden, was diese in ihren Händen bedeutet. Es gibt ein Recht, das wie ein metaphysischer Überbau oder das Naturrecht über all diesen Menschenrechten thront und unverhohlen in den Auseinandersetzungen um TTIP – erinnern wir uns noch? – von den Freihandelsbefürworter\innen betont wurde: »Die Industrie wird sich jedem Abkommen widersetzen, in dem der Investitionsschutz gegenüber öffentlichen Interessen, einschließlich der Arbeits- und Menschenrechte, das Nachsehen hat« (Pascal Kerneis, European Services Forum). Schaut einmal nach, genau das steht auf der Rückseite des edlen Gutenbergdrucks! In unsichtbaren Lettern. Und für die weltoffenen neoliberalen Flüchtlingsfreund\innen sind die Menschenrechte nichts anderes als erweiterter Humankapitalschutz.

Herausforderungen für die radikale Linke

Wie wir all das nicht vergessen, wenn wir gegen die AfD kämpfen, wie es uns gelingen kann – jenseits bloßer Beteuerungen, dass wir auch gegen den neoliberalen Block sind – die Zusammenhänge zu thematisieren zwischen dem, was die AfD tut, und den Dingen, die in ihrem Schatten vergessen werden, wird für radikale Linke die große Herausforderung sein. Daran, ob das gelingt, ob wir wirklich etwas zu sagen haben, was nicht nur die AfD, sondern die herrschende Klasse demaskiert und ihren menschenfeindlichen Zynismus offen hervortreten lässt, entscheidet sich auch, wie sprech- und handlungsfähig wir als radikale Linke sind.

Julia und Andreas sind in der IL Münster organisiert.

Bild: Ein Krokodilauge (mit Träne?), Angelo Giordano.