Holen wir uns die Zukunft zurück

Sind die aktuellen, mitunter sehr hart geführten Debatten innerhalb der Linken – zuletzt im Anschluss an den Aufruf »Solidarität statt Heimat« – Ausdruck unserer gesellschaftlichen Defensivposition? Ja sicher. Sind sie deshalb ein Problem? Nicht unbedingt, meinen »einige Autonome aus dem #OurFuture-Prozess«, denn diese Debatten werfen ihnen zufolge die Frage nach der Notwendigkeit einer Neuen Linken und deren Grundlagen auf. Warum diese Linke eine sozialistische Linke sein sollte und welche Form der Crossover-Arbeit es hierfür bräuchte? Lest selbst!

Linke Antworten auf die Frage »Was tun?« beginnen meist mit Aufzählungen der Grausamkeiten der herrschenden Verhältnisse. Die Grausamkeit der aktuellen Entwicklung liegt darin, so nicht weitermachen zu können, weil sich das Unheil wenn nicht stündlich, so doch täglich steigert. Fangen wir also anders, nämlich mit dem Eingeständnis an, dass wir Linken auf den Gang der Dinge aktuell kaum Einfluss haben. Halten wir deshalb fest, dass wir in einer Defensive sind, die uns nur noch Akte elementaren Widerstands erlaubt. Akte, die nicht strategisch werden können, weil sie dem, was gerade geschieht, bestenfalls punktuell Einhalt gebieten, von Einzelfall zu Einzelfall. Akte, die zumindest noch nicht strategisch werden können. Damit wollen wir uns nicht zufriedengeben. Wir wollen Prozesse anstoßen und uns in Prozesse einbringen, um eine Perspektive zu erarbeiten, die aus der Defensive führen kann: solidarisch, konsequent antikapitalistisch und feministisch, radikal demokratisch. Wie wollen mit anderen ein Projekt auf den Weg bringen, das es im Moment so noch nicht gibt.

I.

Natürlich gibt es verschiedene Anstrengungen aus der Defensive herauszukommen. Sie sind für uns Bezugspunkte. Ein Schritt aus der Defensive heraus ist mit dem Aufruf »Solidarität statt Heimat« gelungen. Er ließ Unterzeichnung wie Nichtunterzeichnung zur persönlichen Parteinahme im eminenten Sinn des Wortes werden. Dabei ging es nur vordergründig um die Frage, ob gegen die rassistische Gewalt des Staates und eines erheblichen Teils der Gesellschaft bedingungslos Widerstand zu leisten ist: auch wenn die Reaktionen auf den Aufruf noch einmal belegen, dass diese Forderung nicht bei allen Zustimmung findet, die sich für Linke halten. Politisch aber zielte der Aufruf auf die Wahrnehmung dessen, was gerade geschieht. Nach der gesellschaftlich vorherrschenden Problemdefinition befinden wir uns inmitten einer »Migrationskrise«, die in sich eine Staatskrise, eine Frage möglichen »Staatsversagens«, und darin eine Krise unseres politischen Gemeinwesens sei. Der Aufruf behauptet, dass sich einer rassistischen Perspektive und damit der Perspektive der rechten Vorherrschaft bereits gebeugt hat, wer dieser Problemdefinition zustimmt. Deshalb lautet der Kernsatz des Aufrufs: »Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus.«

Ausdrücklich nicht nur an die politische und gesellschaftliche Linke adressiert, unterzeichneten auch Liberale, kirchlich Engagierte, vor allem aber viele Menschen diesen Aufruf, denen eindeutige politische Parteinahmen erklärtermaßen fernliegen. Menschen, die es gar nicht gewohnt sind, ausdrücklich politisch zu handeln, Position und Partei zu ergreifen. Zugleich unterzeichneten bestimmte Linke den Aufruf nicht, sahen sich deshalb aber öffentlich zur Stellungnahme herausgefordert. Damit markiert dieser Text, und das ist sein Schritt aus der Defensive heraus, wo in dieser Gesellschaft aktuell die Scheidelinie zwischen links und rechts verläuft. Er markiert zugleich, dass diese Scheidelinie die überkommene Links-Rechts-Unterscheidung gerade auf ihrer linken Seite durchkreuzt. Und: Er markiert im selben Zug, warum wir politisch auf diese Unterscheidung angewiesen sind, dass sie also keinesfalls »überholt« ist. Damit wirft er zuletzt die Frage nach einer Neuen Linken auf. Auch das wurde unmittelbar verstanden, auf beiden Seiten.

Aus der Aktualität des Anlasses heraus wäre eine solche Neue Linke eine endlich unzweideutig antirassistische und antinationalistische Linke. Sie wäre aber auch eine Linke, die weiß, dass die Gerechtigkeitsfrage heute nur noch in globaler Dimension gestellt werden kann, weil sie sich in dem Horizont stellt, der uns von der Krise des Globalisierungsprozesses und der ökologischen Krise vorgezeichnet wird. Sie wäre deshalb eine Linke, die verstanden hat, dass linke Politik heute mit der Kritik des nationalen Staates und seines unter den gegebenen Verhältnissen zwingend rassistischen Charakters beginnt. Eine solche Neue Linke wäre damit auch eine Linke, für die die Krise der Politik nicht populistisch, sondern nur demokratisch angegangen werden kann – weil Populismus und Demokratie einander so widersprechen, wie sich rechts und links widersprechen.

Und: Weil die Gewalt, die sich auf so widerwärtige Weise in den Trumps, den Orbans, den Kaczyńskis, Salvinis und Seehofers, aber auch in den Le Pens und den Mays verkörpert, nicht zufällig eine sexualisierte Gewalt ist, die rohe Selbstbehauptung einer bestimmten Männlichkeit und eines bestimmten Geschlechterverhältnisses, wäre eine solche Neue Linke eine feministische und queere Linke. Sie wäre das nicht nur »auch«, sondern von Anfang an und in jeder Hinsicht, also auch in dem Abstand, der sie damit von der Mehrzahl derer trennt, die ihre Stimme den Trumps, Orbans, Kaczyńskis, Salvinis, Le Pens, Mays und Seehofers geben. Dieses Verständnis dessen, was politisch jetzt gewollt, gewagt und getan werden muss, teilen in der Sache auch und gerade die Unterzeichner*innen des Aufrufs, denen es bei ihrer Unterschrift und vermutlich auch sonst gar nicht um ein Linksseinwollen geht. Das ist, um darauf zurückzukommen, der Schritt aus der Defensive heraus, der dem Aufruf gelungen ist.

II.

Für uns aber müsste die eben skizzierte Neue Linke auch eine sozialistische Linke sein. Damit sagen wir im Augenblick nicht mehr, als dass eine Neue Linke für eine Alternative nicht nur zu dieser oder jener besonderen Krise, sondern zum Ganzen der herrschenden Verhältnisse stehen würde: weil die Krisen, denen wir ausgesetzt sind, Krisen dieser Verhältnisse sind. Wir sprechen hier von Sozialismus, weil dieser Name seit über 200 Jahren eine solche Alternative ins Spiel bringt, und weil dieser Name im zurückliegenden Jahrhundert weltweit den politischen Enthusiasmus von Millionen bewegt hat. Darin liegt eine Stärke, die wir wieder zu der unseren machen wollen, auch wenn wir wissen, dass man sich das nicht direkt vornehmen kann. Darin liegt aber auch eine fundamentale Schwäche des Namens Sozialismus. Denn die Sache selbst einer Gesellschaft, die keine kapitalistische mehr wäre, hat im zurückliegenden Jahrhundert nicht nur den Enthusiasmus von Millionen bewegt, sie hat ihn auch in eine furchtbare Leere laufen lassen, in eine Leere, in der das Ressentiment und mit ihm der Rassismus gedeiht. Davon befreit man sich nicht in knapp dreißig Jahren, sondern erst nach einer Trauerarbeit, die sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen wird.

Dass wir damit noch nicht fertig sind, bestätigt sich auch in den oft zu schnellen Versicherungen, dass ein Sozialismus dieses Jahrhunderts ein antirassistischer und antinationalistischer sein müsse, ein global solidarischer und ein ökologischer, ein demokratischer und natürlich ein feministischer und queerer. Das so zu sagen, reicht nicht. Wir denken, dass es um einen Sozialismus gehen muss, der aus dem Antirassismus und dem Antinationalismus, aus der globalen Solidarität und aus der Ökologie, aus der Demokratie und aus dem Queerfeminismus heraus überhaupt erst zu dem wird, was er werden kann und werden soll. Das ist kein Wortspiel, sondern ein Unterschied ums Ganze. Denn ein solcher Sozialismus kann nicht mehr der eines bereits gegebenen Kollektivs und eines diesem Kollektiv zuzuschreibenden Interesses sein. Er hängt stattdessen an der zuerst wie zuletzt ganz persönlichen, an der existenziellen Parteinahme, »die ganze Zeit, Tag und Nacht, in der Gesellschaft aller Menschen« marschieren zu wollen (Frantz Fanon). Wir denken, dass uns erst ein solcher Sozialismus aus der Defensive bringt, zu der wir aktuell nicht nur in Europa und den USA, sondern in der ganzen Welt verurteilt sind.

III.

Unser Einsatz wäre missverstanden, wenn wir mit der Wiedereinführung des Namens des Sozialismus das Handeln unter der elenden Not des Tages auf eine absehbar sehr lange Bank schieben wollten. Ja, Sozialismus ist erst einmal nur der Name für ein Projekt, das an die Stelle des Ganzen der herrschenden Verhältnisse eine andere, eine nicht mehr kapitalistische Welt setzen will. Ja, seit dieses Projekt kein »wissenschaftliches« mehr ist, kann es gar nicht mehr sein als eine riskante Ausfahrt ins Ungewisse, wenn nicht ins Unwahrscheinliche, eine Ausfahrt, von der wir gegenwärtig nur wissen, dass immerhin der Anker schon gelichtet wurde.

Unser Einsatz aber zielt auf etwas anderes. Mit dem Wiedereinbringen dieses Namens wollen wir gegen die vorherrschende Perspektive der Rechten eine Perspektive zur Geltung bringen, in der die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über ihre konkreten Anlässe, über ihr konkretes Milieu und damit auch über die elenden Nöte des Tages hinausgetrieben werden können. Ja, es geht ums Konkrete des Tageskampfs, zum Beispiel um die Frage, wie die Widerstände gegen Rassismus und Rassist*innen mit den Widerständen gegen die neoliberal entfesselte Ausbeutung, auch gegen die neoliberale Entsicherung überhaupt des Alltags zusammenfinden könnten.

Diese Frage heute schon in sozialistischer Perspektive zu stellen heißt dann beispielsweise, sie eben nicht unter der Perspektive einer Wiederherstellung des nationalen Sozialstaats angehen zu können, weil ein solcher Staat wie früher schon ein mit rassistischer Gewalt bewehrter Staat wäre. Weil er notwendigerweise, das sagen seine »linken« Befürworter*innen ausdrücklich, ein Staat seiner Einheimischen wäre. Weil er zugleich ein mit patriarchaler Gewalt bewehrter Staat und ein Staat der Arbeit und des Wachstums in der Konkurrenz des Weltmarkts wäre, selbstverständlich »im Interesse der Beschäftigten«. Weil er deshalb in jedem Fall ein Staat wäre, der gegenüber der ökologischen Krise wie gegenüber der Krise der globalen Gerechtigkeit nur eine abwehrende Position einnehmen kann, also wieder eine nationalistische und rassistische Position. Unter einer sozialistischen Perspektive stellt sich die Frage nach dem Zusammenfinden von Antirassismus und Antineoliberalismus dagegen sofort wenigstens in europäischer Dimension, und das eben nicht im Blick auf die Sicherung diesmal der europäischen Außengrenzen, sondern in praktischer Solidarität mit denen, die sie zu überschreiten versuchen. Das ist der Unterschied ums Ganze. Er stellt uns zugleich in den Widerspruch von Populismus und Demokratie. Das alles und noch viel mehr gerät in den Blick, wenn man die Kämpfe des Tages unter die Geltung einer sozialistischen Perspektive bringt.

IV.

Wir reden von einer politischen Arbeit ganz eigenen Sinns. Denn eine sozialistische Perspektive in Geltung zu bringen, heißt in jedem Fall, sie ebenso in politischen Parteien wie in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften wie in zivilgesellschaftlichen Verbänden oder sozialen Medien zur Geltung zu bringen. Selbst wenn sie deshalb auch in und zwischen Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften, Verbänden und Medien geleistet werden muss, kann sie offensichtlich nicht von ihnen allein geleistet werden. Sie kann auch nicht nebenbei, im laufenden Betrieb unserer politischen Routinen geleistet werden. Diese Erfahrung bringt uns ja gerade in Prozesse wie den, den wir #OurFuture nennen. Eine Perspektive zu erarbeiten und diese Perspektive zugleich zur Geltung zu bringen, ist eine Sache für sich, eine Sache, zu der man sich eigens bereitfinden und für die man sich Zeit nehmen muss, in der Partei-, Bewegungs-, Gewerkschafts-, Verbands- und Medienarbeit wie außerhalb ihrer. Besonders Letzteres sollten wir zu unserer Sache machen.

V.

In den letzten Jahren haben wir darin bereits einige Erfahrungen sammeln können. Ein Begriff dazu ist der des Crossovers. Dabei geht es nicht mehr um die Überwindung alter ideologischer Bindungen und nicht mehr um Generaldebatten wie die um Reform und Revolution, sondern um das konkrete, immer auch konfliktive Aufeinander-Beziehen unterschiedlicher Politikweisen wiederum von Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften, Verbänden, Medien. Wir sind damit ganz gut gefahren, auch beim G20-Gipfel in Hamburg. Heute jedoch steht das bisher eingeübte Crossover erstmals wieder unter der Bedingung eines innerlinken Richtungsstreits, und vielleicht sogar unter der Notwendigkeit, die Unterscheidung von rechts und links neu zu bestimmen.

Und gerade hier wird es wichtig, zu klären, was es heißt, in neuer und ganz eigener Weise eine sozialistische Perspektive einzunehmen und zur Geltung zu bringen. Denn wenn ein vorgebliches »Klasseninteresse« dazu herhalten muss, rassistische Grenzsicherungspolitiken des Staates und die rassistische Verrohung in der Gesellschaft von »links« zu flankieren, dann muss gefragt werden, was es eigentlich heißt, einen solchen Streit unter sozialistischer Perspektive zu führen. Genau darum geht es auch, wenn sich Linke in der Solidarität mit den Betroffenen rassistischer oder sexualisierter Gewalt und in der Solidarität mit ihrem Widerstand gegen diese Gewalt eher mit Liberalen oder kirchlich Engagierten oder Leuten ohne explizite politische Bindung zusammenfinden als mit einigen Linken. Die Ausarbeitung und dann auch das Zur-Geltung-bringen einer sozialistischen Perspektive wäre dann nämlich eher mit diesen Menschen zu versuchen als Leuten, die den Namen »Sozialismus« auf die Einheimischen des Staates reservieren, auf den sie ihre Perspektive richten. Die Fragen, die sich einem solchen Versuch stellen, können wir an dieser Stelle nicht einmal im Ansatz nennen.

VI.

Es ist an der Zeit, aus der Defensive herauszukommen. Nicht nur, weil wir uns nie damit zufriedengeben können, Abwehrkämpfe zu führen. Sondern auch, weil wir diese Abwehrkämpfe nur werden gewinnen können, wenn es uns gelingt, eine solidarische Praxis aufzuzeigen, für die es sich lohnt, den Schritt aus der Defensive zu tun. Die sozialistische Perspektive, unter der das versucht werden kann, ist noch zu erarbeiten. Wenn es uns dort gelingt, punktuelle Akte des Widerstandes strategisch zu verbinden, kann der #OurFuture-Prozess zum Ort eines solchen Versuchs werden.

Einige Autonome aus dem #OurFuture-Prozess

Zum OurFuture-Prozess: Als die SPD intern darüber stritt, ob sie (wieder) in eine Große Koalition eintreten sollte, wurde das gesellschaftlich breit diskutiert. Dahinter stand die Frage nach einem Weiter-so oder einem grundsätzlichen Politikwechsel. Anlässlich dieser Debatte haben sich seit Anfang dieses Jahres Einzelpersonen aus über 20 Organisationen von der radikalen Linken bis ins bürgerliche Lager im #OurFuture-Prozess zusammengefunden. Ziel dieses Prozesses ist es, gemeinsam Antworten auf den Rechtsruck und die Handlungsunfähigkeit der gesellschaftlichen Linken zu finden und grundlegende gesellschaftliche Alternativen zu erarbeiten.

Bild: »No future« von Chris Jones, Bild auf der Grundlage eines Graffitis von Banksy.