Die vierte Internet Revolution passiert jetzt

Die Welle um Twitter scheint sich kurzzeitig wieder gelegt zu haben und damit auch der Hype um Mastodon. Trotzdem: Da bekam das erste Mal eine Alternative zu Coporate Social Media weltweit riesige Aufmerksamkeit. Ein Zeitfenster, das wir nutzen sollten! Die Hintergründe liefern wir euch hier.

Der folgende Text wurde zuerst am 20. November 2022 auf keimform.de veröffentlicht. Wir haben uns entschlossen, ihn in überarbeiteter Form in den Debattenblog aufzunehmen, da wir ihn für einen interessanten Diskussionsbeitrag (inkl. Hintergrundinformationen über Mastodon) halten. Wir haben mit Zustimmung des Autors einige kleinere unautorisierte Kürzungen und Erläuterungen vorgenommen, die jedoch die politische Stoßrichtung des Artikels beibehalten. Wir empfehlen den technikinteressierten Leser*innen, bei Bedarf selbst weiter zu recherchieren. – Eure Blogredaktion.

Eine kurze Geschichte des Internets

Bekanntlich rennt die Zeit im Internet schneller als anderswo. Was eben noch Gewissheit war, ist jetzt schon überholt. Ein Trend jagt den nächsten. Doch grob lässt sich die Geschichte des jungen Mediums in drei Phasen oder »Revolutionen« einteilen. Diese Umbrüche korrespondieren mit den historischen Umbrüchen, die mehr oder weniger gleichzeitig in der größeren Welt »draußen« passierten.

Das Internet kam zusammen mit der 68er-Revolution in die Welt, als ein Medium für eine sehr kleine Technikelite. Damals war es für die meisten Menschen genauso unzugänglich wie ein Teilchenbeschleuniger. Im Laufe der Jahre verbesserte sich die Zugänglichkeit dann etwas auf das Niveau von Universitätsbibliotheken. Doch von Anfang an waren viele kulturelle Normen des Netzes ähnlich denen der 68er. Aus dieser Verbindung von Hippiekultur und Technikelite sollte sich später dann die sogenannte »Californian Ideology« (Barbrook/Cameron) entwickeln.

Ein Phänomen für breite Bevölkerungsschichten wurde das neue Medium erst, als sich persönliche Computer (PC) verbreiteten, Telekommunikationsunternehmen begannen, günstige Anschlüsse zu verkaufen, und an einem der erwähnten Teilchenbeschleuniger das WWW erfunden wurde. All das ermöglichte eine ganz neue Art der Präsentation und des Zugangs. Das war die zweite Internetrevolution. »Draußen«, in der weiteren Welt, fand der kalte Krieg sein Ende und der Neoliberalismus begann seinen Siegeszug. Währenddessen erschien das Neuland« (Merkel) als eine »blühende Landschaft« (Helmut Kohl), in der vergleichsweise unreguliert ganze Branchen umgekrempelt wurden und sogar erste zarte Pflänzchen einer ganz neuen Produktionsweise (Wikipedia, Linux, Open Source …) entstanden.

Doch mit dem Beginn des »Kriegs gegen den Terror« drehte sich der Wind. Die dritte Internetrevolution war eine Konterrevolution. Das Netz wurde stärker reguliert, überwacht und eingehegt. Staat und Kapital arbeiteten dabei Hand in Hand in einer ähnlichen Bewegung, wie sie seit dem 17. Jahrhundert überall geschieht, wo Kapitalismus ist: Enclosure of the Commons. Während staatliche Institutionen das Internet regulierten und überwachten, übernahmen die neuen Techkonzerne, die den Kollaps der New Economy überlebt hatten, das Aufbauen der Zäune um die Datengärten und katapultierten sich damit innerhalb weniger Jahre in die Spitzenklasse der kapitalistischen Wertschöpfung.

Corporate Social Media: Die kapitalistische Wertschöpfung beginnt

Ein zentraler Mechanismus, um die neuen Commons in ihre Schranken zu weisen, war die Erfindung von Corporate Social Media. Es gelang den Konzernen, die Beziehungen der Menschen zu monetarisieren. Sie bauten einen goldenen Käfig für sie, der es ihnen einfach wie nie zuvor machte, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und eine unendliche Vielfalt von Communities aufzubauen. Viele commonistische Errungenschaften aus der zweiten Phase des Internet (Blogs, Foren ...) wurden in die neuen Gärten überführt, während gleichzeitig diese Gärten selbst auf der Vorarbeit der Commoners errichtet wurden. Kratze auch nur einen Millimeter an der Oberfläche eines beliebigen Techmonopolisten, und darunter ist immer noch die blühende Welt der frühen Jahre zu finden. So war diese Einhegung auch viel weniger vollständig als in vergangenen Phasen des Kapitalismus. Ein Großteil der Wertschöpfung passierte immer noch in neuen Produktionsweisen, die nicht mehr reell, sondern nur noch formell unter das Kapital subsummiert waren. Niemand hat dieses prekäre Verhältnis so prägnant beschrieben wie Randall Munroe (@xkcd) in diesem bekannten Comic. Das konnte nicht so weitergehen. Seit Jahren gibt es den Versuch, mit Scams wie »Crypto Currency«, »Blockchain«, »NFT« oder »Web 3.0« die Enclosure of the Commons neu zu forcieren und neue Eigentumsregime zu errichten. Doch die Unzulänglichkeiten dieser Projekte werden immer offensichtlicher und die Communities, die sie versuchen zu propagieren, immer randständiger. Pleiten, Prozesse und Verhaftungen reihen sich. Es ist nur eine Frage der Zeit bis dieses Kartenhaus endgültig kollabiert, da es im Kern eine Ansammlung von immer bizarrer werdenden Schneeballsystemen ist.

Krise des Silicon-Valley-Kapitalismus

Das klassische Modell des Silicon-Valley-Kapitalismus ist derweil in seiner ersten ernsten Krise seit dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Alle großen Techkonzerne entlassen Tausende von Mitarbeitenden. Die Zukunftsvorstellungen der vermeintlichen Techvisionäre erscheinen immer fadenscheiniger. Investoren zweifeln an Zuckerbergs »Metaverse« ebenso wie an Musks Marsbesiedelung. Beide erscheinen immer mehr als die aus der Zeit gefallene Remakes von linker 80er Jahre Science Fiction (William Gibbson, Kim Stanley Robinson …), die sie sind. Und auch dieses Mal passiert fast gleichzeitig »draußen« ein geopolitischer Umbruch: die »Zeitenwende« (Scholz).

Selbstverständlich ist Geschichte immer offen, doch es deutet vieles darauf hin, dass es diesmal wieder in die andere Richtung gehen könnte. Die Commoners haben aus ihrer Niederlage gelernt. Ein großer Nachteil der wilden Jahre war, dass die nicht vorhandene Regulation nicht nur viele kreative Nischen ermöglicht hat, sondern auch das Aufblühen von faschistischen Hasswellen mit sich brachte. Fast alle haben inzwischen verstanden, dass es irgendeine Form von Regulierung braucht, damit das Netz kein Ort ist, an dem einfach der stärkere Bully gewinnt. Doch gerade an dieser Aufgabe scheiterten die Techkonzerne. Weder immer ausgefuchstere Algorithmen noch Heerscharen von schlecht bezahlten Moderator*innen waren in der Lage, das Problem zu lösen. Denn es gibt da einen grundsätzlichen Zielkonflikt: Die Hasswellen sind profitabel, weil sie Aufmerksamkeit und Emotionen erzeugen, die die Leute bei der Stange halten, damit sie sich weiter die Werbung angucken. Natürlich gibt es auch noch andere Geschäftsmodelle. Man kann einfach Zugang direkt verkaufen, wie es am erfolgreichsten vermutlich Netflix oder Spotify vormachen, oder man kann sich schleichend in einen klassischen Medienkonzern verwandeln, nur dass die Rolle der Redaktion nach und nach von einem Algorithmus übernommen wird (im Grunde ein klassisches Automatisierungsmodell). Beides hat aber nicht die transformative Rolle für die Öffentlichkeit, wie es Corporate Social Media hat.

Die Probleme von Twitter sind älter als Elon

Die Plattform, die am meisten mit diesen Problemen zu kämpfen hat, weil sie am nächsten dran ist an der globalen politischen Öffentlichkeit, kollabiert als erstes in genau diesen Tagen: Twitter. Elon Musk ist dabei eher ein Katalysator, der den sowieso unvermeidlichen Niedergang beschleunigt, als seine Ursache. Twitters Position als einerseits zentrales globales politisches Kampffeld und andererseits Organisations- und Mobilisierungsplattform für politische Bewegungen von rechts bis links hat den Umgang dort in den vergangenen Jahren immer mehr vergiftet. Und diese Dynamik hat auch dazu geführt, dass die gesellschaftliche Linke dort immer mehr auf einem Rückzugskampf war, obwohl sie es war, die diesen Ort überhaupt erst politisch relevant gemacht hat. Und nicht zuletzt hat diese von der Plattform forcierte Dynamik dazu geführt, dass auch innerlinke Debatten immer unkonstruktiver und unversöhnlicher wurden, dass immer mehr auf einzelne berühmte Personen fokussiert wurde und immer weniger wirklicher Diskurs stattfand. Was wir daraus lernen können: Der eine zentrale Ort für eine politische globale Öffentlichkeit (der in Zeiten des Anthropozäns dringend gebraucht wird) darf nicht profitorientiert organisiert werden. Denn Profitorientierung gibt Markt und Staat erst die Möglichkeit, den Diskurs nach ihren Maßgaben beeinflussen und kontrollieren zu können.

Nun sind diese Probleme für alle, die sie sehen wollten, schon seit Jahren recht offensichtlich. Deshalb gibt es auch schon seit Jahren immer wieder Versuche von Commonern, eigene soziale Plattformen zu schaffen. Orte, an denen wir unser Gemeinsames verhandeln oder auch nur bloß mit unseren Freund*innen in Kontakt bleiben können, ohne dabei als Werbekund*innen und Datenlieferant*innen ausgequetscht zu werden oder gar Opfer rechter Hetzkampagnen zu werden. Bei den meisten dieser Versuche war von Anfang an Dezentralität Programm. Denn wenn es verschiedene Foren/Server/Instanzen gibt, die jeweils von eigenen Communities betrieben und moderiert werden, die aber dennoch Inhalte miteinander austauschen können, gibt es keine Notwendigkeit für die unmögliche Quadratur des Kreises der einen Moderationspolicy für alle. Dann können sich Menschen eine Instanz suchen, deren Moderationsregeln ihren Bedürfnissen entspricht. So können auch safe spaces entstehen. Ein weiteres wichtiges Merkmal war immer, dass die verwendete Software Open Source sein muss. Denn so verhindert man effektiv, dass neue Zäune gebaut werden.

Mastodon: eine echte Alternative zu Corporate Social Media?

Nun gab es glücklicherweise genau zum Zeitpunkt des schleichenden Twitterkollaps schon eine sehr aktive Community rund um eine Software, die nicht nur dieses Paradigma implementiert, sondern zusätzlich genau die Anwendung von Twitter (also Kommunikation vor allem über kurze Textnachrichten) ermöglicht, nämlich Mastodon. Eine Entwicklung aus Berlin, die nicht nur einfach ein Twitter-Ersatz sein will, sondern den Anspruch hat, durch subtile Implementierung und vor allem Nicht-Implementierung von Features zur Interaktion das allgemeine Diskussionsklima positiv zu beeinflussen. Inzwischen bestehen auch Jahre der Erfahrung mit der Software, die es erlauben davon auszugehen, dass das zumindest teilweise glückt.

Mastodon hat zusätzlich den Vorteil, dass man dort nicht nur mit anderen Mastodon-Instanzen kommunizieren kann, sondern mit allen anderen Projekten des Fediverse. Inzwischen gibt es einen ganzen Zoo an solchen freien Projekten (Friendica, PeerTube, Pixelfed ...), die zudem alle untereinander kommunizieren können. Zusammen ermöglichen sie so ziemlich jede Funktion, die bisher noch von Corporate Social Media angeboten wird. Es gibt also wirklich eine realistische Chance, dass wir uns in naher Zukunft komplett vom Modell Corporate Social Media lösen und damit einen zentralen Teil des immateriellen Kapitalismus in unsere Hände überführen können. Im Grunde ist es ein kollektiver Enteignungs- oder Wiederaneignungsprozess, der da gerade stattfindet.

Ende 2022 herrschte bei Mastodon eine unglaubliche Dynamik und Aufbruchstimmung. Nachdem Elon Musk Twitter übernommen hatte, traten täglich Hundertausende neuer Nutzer*innen dem Netzwerk bei. Der plötzliche Zuwachs führt zu einem Clash of Cultures, der ein wenig an den »eternal September« der ersten Jahre der zweiten Internetrevolution erinnert und natürlich einige technische und soziale Probleme mit sich bringt. Es gibt aber auch mit solchen Wellen inzwischen einige Erfahrung dort, und viele sind sehr zuversichtlich, dass sich das schnell zurecht ruckelt, auch wenn es die größte Welle ist, die wir dort je erlebt haben.

Politisches Potenzial

Linke Aktivist*innen, die neu bei Mastodon sind, weisen darauf hin, dass Mastodon sich im Vergleich zu Twitter schlechter als Mobilisierungstool eignet. Das liegt an Mastodons dezentraler Struktur. Es gibt eben nicht den einen Ort, an dem man alle erreicht. Dennoch kann man potentiell auch dort alle erreichen, nur hilft einem halt kein ausgefeilter Aufmerksamkeitslenkungsalgorithmus dabei. Das hat aber nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile. So muss man sich zum Beispiel dann auch weniger mit dem bei Twitter üblichen Kapern von Hashtags durch Rechte auseinandersetzen. Es ist schwieriger für die rechten Netzwerke, sich einzelne Galionsfiguren raus zu picken und zu jagen, bis sie die Plattform verlassen müssen. Aber wichtiger ist vermutlich, dass das politische Paradigma von Mastodon tatsächlich ein anderes ist als das von Twitter: Politik auf Mastodon ist in erster Linie Organisierung und erst in zweiter Linie Mobilisierung. Bei Twitter ist es anders herum.

Ein weiterer Vorteil des dezentralen Modells ist, dass es Fraktionierung, Lagerbildung und Grabenkämpfe verhindert. Wenn zwischen zwei Gruppen tatsächlich einmal die Situation so eskaliert, dass keine konstruktive Debatte mehr möglich ist, kann einfach die Verbindung eine Weile lang gekappt werden, alle können sich wieder beruhigen und dann vielleicht nach einer Zeit auch wieder miteinander reden. Gerade der notorische linke Spaltpilz wird so verwandelt in eine konstruktive Kraft, die Gemeinsames erst ermöglicht. Und gleichzeitig kann man die ganz Rechten effektiv ausgrenzen (ja, auch das wurde in der Vergangenheit schon praktiziert) und sie dann in ihrem eigenen Saft verdorren lassen. So gab es schon vor Jahren den Versuch einer rechten Plattform, sich ans Fediverse anzudocken. Die wurde ziemlich schnell von fast allen anderen Instanzen geblockt. Es gibt sie zwar noch, aber sie schaffen es nicht aus ihrer eigenen Soße heraus. Vielleicht ist dieses Abblocken sogar die beste Strategie gegen Nazis im Netz. Überhaupt herrscht im relevanten Teil des Fediverse ein erstaunlich starker Antifakonsens. Der war eines der Gründungsanliegen. Das ist aber kein technisches Feature, sondern wurde sozial erkämpft. Das heißt: Dass Mastodon weiter ein links und antifaschistisch geprägter Ort bleibt und das Fediverse zu einer echten Konkurrenz von Corporate Social Media wird, liegt in unser aller Hände.

Nicht zuletzt kann man an diesem Beispiel lernen, wie erfolgreiche Revolutionen tatsächlich funktionieren: Wenn die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen, können die Leute, die jahrelang harte Organisierungsarbeit gemacht haben und dafür oft belächelt und bekämpft wurden, die Früchte ihres Tuns einsammeln.

Autor*in: Benni Bärmann schreibt bei keimform.de und ist im Fediverse zu erreichen unter @benni@social.tchncs.de

Bild: Autonomous Design Group