Der Sieg der New Yorker Amazon-Arbeiter*innen


Wie Arbeitskämpfe gewonnen werden können

»Danke an Jeff Bezos - während er ins All geflogen ist, haben wir hier eine Gewerkschaft organisiert“. Mit diesen Worten feierte Organizer Chris Smalls die erste Gründung einer Amazon-Gewerkschaft in den USA. Welche Methoden der Basisorganisierung stehen hinter diesem sensationellen Erfolg der Amazon-Arbeiter*innen? Das beleuchten Luis Feliz Leon und Justine Medina.

Der Text ist im Original bereits am 01. April 2022 bei Labornotes erschienen. Wir haben uns entschlossen, ihn zu übersetzen, da das Wissen um Basisorganisierung wichtig für den Aufbau linker Gegenmacht auch hier bei uns ist.

Teil 1: Amazon-Arbeiter*innen auf Staten Island erringen historischen Sieg Luis Feliz Leon

Es klingt vielleicht ein bisschen wie im Märchen: Gestern wurde das unglaubliche wahr gemacht, als die zusammengewürfelte Truppe von Arbeiter*innen der Amazon Labor Union (ALU) bei einer Gewerkschaftswahl in einem Lagerhaus in Staten Island, New York, die Spitze übernahm und damit ein historischer Sieg gegen den Unternehmensriesen in Reichweite rückte.

Vor der Auszählung wurde die unabhängige Gewerkschaft in der Presse als Kuriosität behandelt und ihre Chancen komplett abgeschrieben. »Ich glaube wir wurden übersehen,« sagte die Schatzmeisterin der ALU, Madeline Wessley am Donnerstagabend. »Und ich glaube das endet morgen — mit unserem Sieg.«

Die ALU hat heute einen entscheidenden Sieg — mit großem Vorsprung — errungen und damit die erste gewerkschaftlich organisierte Arbeitsstätte im Amazon-Imperium der USA geschaffen. Die Zweigstätten von Amazon befinden sich vor allem in Metropolregionen wie New York, Chicago und Los Angeles — und das öffnet Tür und Tor für die weitere Organisierung der Arbeiter*innen.

Die Wahl ergab 2.654 Stimmen für die Gründung einer Gewerkschaft und 2.131 Stimmen dagegen. 8.325 Arbeiter*innen waren wahlberechtigt, 17 Stimmen waren ungültig. »Wir möchten Jeff Bezos dafür danken, dass er ins All geflogen ist. Während er da oben war, haben wir eine Gewerkschaft gegründet,« sagte der Präsident der ALU, Chris Smalls, nachdem die offiziellen Ergebnisse verkündet wurden. Ein weiteres Lagerhaus im selben Fabrikkomplex wird am 25. April zur Wahl stellen, sich mit der ALU gewerkschaftlich zu verbünden.

Die Anführer*innen rauspicken

Als am Donnerstagabend die ersten sechs der zehn Wahlurnen bereits ausgezählt waren, konnten sich die Arbeiter*innen vor lauter Aufregung und Unglauben kaum halten, es wurde gelacht und zu Hip Hop getanzt. »Es hat sich unwahrscheinlich angefühlt,« sagte der ALU-Vizepräsident Derrick Palmer, der vor der Lagerhalle stand und jedes Wort dabei betonte. »Aber wir haben es einfach gemacht, wir Arbeiter*innen, wir haben uns gegen das zweitgrößte Privatunternehmen des Landes organisiert.«

Je mehr Palmer die Details darüber ausbreitete, was genau die Gewerkschaft unternommen hatte, um diese beeindruckende Aufgabe zu bewältigen, desto mehr wurde klar, dass beim Sieg der Gewerkschaft weder Zauberei noch Glück im Spiel waren: Es war kleinteiligste Basisorganisierung von Arbeiter*in zu Arbeiter*in, die das Ergebnis erzielte. Palmer ist bereits seit drei Jahren in dem weitläufigen Warenhaus-Komplex beschäftigt und glaubt, dass 70% seiner direkten Kolleg*innen überzeugt mit Ja gestimmt haben. »Ich hab quasi meine gesamte Ableitung bekehrt,« sagte er. »Ich schau mir dann so eine Gruppe an Freund*innen an und such mir dann deren Anführer*in raus. Was auch immer der*die dann sagt, wird die Gruppe machen.«

ALU-Genosse Michael Aguilar teilt seinen Ansatz. Zum Beispiel »Cassio Mendoza ist derjenige, der mit allen latinx Arbeiter*innen im Gebäude spricht.« sagte er. Er fügt hinzu: »Ich wusste, dass wir gewinnen — wegen Maddie Wesley. Sie ist so emphatisch und kann mit so vielen hier eine Ebene finden. Sie war eine der Schlüsselfiguren.«

Die unabhängige Gewerkschaft hatte Unterstützung von Freiwilligen unterschiedlichster anderer Gewerkschaften und Gruppen um eine Anruf-Aktion zu starten. Wesley hat die Anrufaktionen zur selben Zeit wie Infotstände vor den Gebäuden organisiert — und an einem solchen Stand hat sie Aguilar als Genosse hinzugewonnen.

»Mit unseren Erhebungen kamen wir auf ca. 65% Unterstützung, was natürlich mit Vorsicht zu genießen ist, weil diejenigen die überhaupt mit uns sprechen auch eher Unterstützer*innen sein werden,« sagte Wesley. Die meisten Arbeiter*innen mit denen ich gesprochen habe, waren nicht so in der Gewerkschafts-Sprache drin, aber sie hatten einen genauen Plan des Lagerhauses. »Wir wussten genau in welchen Abteilungen und in welchen Schichten wir starke Unterstützung haben, weil wir wussten wo unsere Genoss*innen sind.« ALU-Mitglied Justine Medina glaubt dass das Buch Organizing Methods in the Steel Industry des kommunstischen Gewerkschafters William Z. Foster entschieden die Organisierungs-Methode von unten vorgegeben hat. Sie hat es gemeinsam mit anderen Genoss*innen gelesen, darüber diskutiert und anderen Arbeiter*innen zum Lesen mitgegeben.

Ein Insider-Job

Dadurch dass die Gewerkschaft von den Arbeiter*innen selbst gegründet und geführt wurde, hatte sie mehr Glaubwürdigkeit. Jeder Versuch von Amazon, die Gewerkschaft als »außenstehende Partei« darzustellen, scheiterte direkt, weil die unsicheren Arbeiter*innen direkt ihre ALU-Kolleg*innen befragen konnten. Entscheidend waren Treffen in den Pausenräumen, sagte Palmer: »An meinen freien Tagen hab ich in den Pausenräumen teilweise zehn Stunden am Tag Leute organisiert, hab Essen ausgeteilt, mit Arbeiter*innen gesprochen und Infos verteilt.«

Smalls sagt, dass er Kolleg*innen ermutigt hat: »Los, unterhalt dich mit mir. Glaub nicht nur das, was die Gerüchteküche oder Amazon dir sagt.« Gemeinsame Aktionen waren ebenfalls zentral. »Wir haben denen gezeigt, dass wir keine Angst haben. Wir haben Streiks vor dem Gebäude organisiert, wir haben’s ihnen damit besser gezeigt, als wir es je hätten erzählen können.«

Smalls hat im März 2020 einen walkout organisiert, um gegen das Versagen des Unternehmens, die Arbeiter*innen vor der Pandemie zu schützen, zu demonstrieren. Er wurde danach von Amazon gefeuert, angeblich weil er gegen Covid-Maßnahmen verstoßen hatte. Vice hatte berichtet, dass der Anwalt des Unternehmens Smalls in einem Gespräch sogar beleidigte und ihn als »nicht schlau oder eloquent« bezeichnete.

Diese Äußerungen machten aus dem charismatischen Smalls das Gesicht des Gewerkschaftskampfes. Wenn man ihn nach all der Aufmerksamkeit fragt, weist er auf die gemeinschaftlichen Anstrengungen hin und betont, dass die ALU nach demokratischen Prinzipien arbeitet und alle Entscheidungen abgestimmt werden. »Ich bin nur der Übergangs-Präsident. Ich bin nur kurz hier, es ist nicht meine Gewerkschaft, es ist die Gewerkschaft der Leute.«

Noch viele Lagerhallen

Während er am Donnerstagabend im Nieselregen draußen stand, hob er die Hand und zeigte auf die Wohnung in Brooklyn, die zur Basis der Gewerkschaft geworden ist: »Ich hatte nicht mehr als 20 Kernmitglieder und ein Arbeiter*innen-Kommitee von etwa 100 Leuten. Wir haben mit vier angefangen.«

Bei der Frage, ob die ALU sich mit anderen Gewerkschaften zusammentun will, sagte er: »Ich muss einfach bei den Leuten sein, die von Anfang an mit mir dabei waren. Wir wollen unabhängig bleiben und das ist auch besser so. So sind wir bis hierher gekommen.« Aber, er fügt hinzu: »Wenn irgendwer was gegen Amazon unternehmen will, shiiit, die haben meine Unterstützung sicher. Es gibt genug Amazon-Fabriken. Sucht euch eine aus!«

Er verglich die Idee von ALU mit Haus des Geldes, einer spanische Netflix-Serie wo ein kriminelles Genie bekannt als »Der Professor« eine Bande Krimineller zusammenbringt um sich gegen den Staat aufzulehnen und Millionen von Euros aus Banken klauen will. »Nennt mich einfach der Professor«, witzelt er.

Smalls wurde von einer Hip-Hop Hoffnung zu einem Gewerkschafts-Anführer. »Das Leben ist verrückt,« sagte er. „Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wer hätte es gedacht?“

Teil 2: Wie wir es geschafft haben von Justine Medina

Meine Kurzanalyse der bisherigen Erfolge der Amazon Labor Union (ALU) ist ziemlich simpel. Wir haben einfach das getan, was man tun sollte: Wir hatten eine von den Arbeiter*innen geführte Bewegung. Wir haben uns historisch analysiert, wie die ersten großen Gewerkschaften entstanden sind. Wir haben von den Industrial Workers of the World gelernt, und noch mehr vom Aufbau des Congress of Industrial Organizations. Wir haben William Z. Fosters "Organizing Methods in the Steel Industry" gelesen (ein Muss, wirklich).

Aber das Wichtigste ist: Ein Projekt zu haben, das tatsächlich von Arbeiter*innen angeführt wird - ein von BIPoC geführtes Organizing-Team, das Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschlechter und verschieden Ableisierte versammelt. Man holt sich ein paar Leute mit etwas Organizing-Erfahrung dazu, stellt aber sicher, dass sie bereit sind, den Arbeiter*innen zu folgen, die schon länger in dem Laden sind. Man holt die Kommunist*innen ins Boot, und auch einige Sozialist*innen und Anarchosyndikalist*innen und bringt so eine breite progressive Allianz zusammen. Zur Unterstützung holt man sympathisierende Genoss*innen aus anderen Gewerkschaften dazu.

Im Grunde folgt man einfach dem klassischen Drehbuch. Habt keine Angst zu kämpfen und euch dabei so schmutzig zu machen wie die Chefs es tun würden, um die Energie, die sie mitbringen, zu übertreffen. Scheut euch nicht davor, die Chefs zu provozieren und zu verärgern, wie es sich für eine Gewerkschaft gehört. Nutzt jedes Mittel, das euch zur Verfügung steht; reicht bei jeder Gelegenheit Klagen wegen unfairer Arbeitsbedingungen ein. Protestiert und organisiert kollektive Aktionen. Baut die Bewegung weiter auf.

Und natürlich die harte Arbeit, jeden Tag: Arbeiter*innen reden mit Arbeiter*innen. Nicht nur Medienschnickschnack, sondern Solidarität, eine tägliche Analyse, die nach Bedarf angepasst wird. Es geht darum, als Kollektiv zu arbeiten, gemeinsam zu lernen und sich gegenseitig zu unterrichten. Zurück zur Kampfform. So haben wir gewonnen.

Was ich hier beschreibe, war nicht mein Plan, sondern Ergebnis des Einsatzes der Amazon-Arbeiter*innen, die die Nase voll davon hatten, schlecht behandelt zu werden. Ich hatte das Glück, dass mich das Organisationskomitee wegen meiner Erfahrungen mit der Young Communist League für diese Aktion dazugeholt hat. Ich wurde mit offenen Armen empfangen, und das hat mein Leben völlig verändert. Aber ich habe meine Rolle immer so verstanden, dass ich der Führung der Arbeiter*innen folge, die schon vor mir da waren.

Dies war eine wirklich kollektive Arbeit, angeführt von einigen brillanten Amazon-Beschäftigten, die die Pandemie und die Lebensbedingungen in die Organisierung gedrängt haben. Insbesondere Chris Smalls und Derrick Palmer waren großartige Leader. Ich denke, diese Gewerkschaft zeigt die wahren Möglichkeiten, die vor uns als Arbeiter*innenbewegung liegen - wenn wir uns nur daran erinnern, wie man es macht.

Autor*in: Luis Feliz Leon ist Redakteur bei Labor Notes. Justine Medina ist Mitglied des ALU-organizing committee und Verpackerin im Amazon-Lager JFK8.

Bild: Andreas Gursky, flickr.