Die IL ist zu weiß, oder nicht?


Über uns, eure antirassistische Befreiung und warum wir statt Diversität Kanakisierung brauchen.

Der folgende Text basiert auf den Diskussionen vom letzten BPoCKanax-Wochenende der IL. Die Auseinandersetzungen, die uns dabei beschäftigen, führen wir konkret in und mit der IL. Sie sind aber Ausdruck von Herausforderungen, die insgesamt in der Linken bestehen.

Wir in der IL?

Die Entscheidung zur IL eint uns. Sie zeigt, dass wir unsere politischen Kämpfe nicht von »unseren Identitäten« ausgehend führen wollten. Die politischen Ausgangspunkte sind stattdessen eher: undogmatisch, linksradikal, überregional. Oder Bestrebungen wie: nicht nur in und für die Szene, im gesellschaftlichen Handgemenge (das auch aus weißen Deutschen besteht), internationalistisch. Uns allen geht’s ums Ganze und nicht darum, unsere Kämpfe ausschließlich unter dem Vorzeichen »antirassistisch« zu führen.

Warum nicht zur IL? Wir haben keine Angst. Weder vor euch und den möglichen rassistischen Erfahrungen, den Enttäuschungen und Verletzungen, noch davor, Verrat an »unseresgleichen« zu begehen. Wir halten diese Ängste für »falsche« Ängste und politische Fehlannahmen. Wir wissen um die Gemeinsamkeiten zwischen »uns« und »euch« und halten es für notwendig, sie im Fokus zu behalten. Wir verstehen uns als vertrauensvoll (sowohl zwischenmenschlich als auch, dass es ein ernsthaftes Interesse gibt, rassistische Verhältnisse überwinden zu wollen) miteinander und angewiesen aufeinander – auf vielen Ebenen. Auf dieser Grundlage lässt sich unseres Erachtens mit Rassismen umgehen. Wir wissen auch um die Unterschiede zwischen »uns« und »euch« und die blinden Flecken – wir glauben gerade deshalb, dass es falsch wäre euch unter »euresgleichen« zu belassen. Identität ist also nicht der Ausgangspunkt bei der Frage, wie wir uns organisieren wollen. Das heißt: Wir bleiben!

»Identisch« ist mensch am Ende nur mit sich selbst. Alleinsein steht aber im Widerspruch zu Solidarität. In Zeiten der neoliberalen Vereinzelung scheint uns Solidarität als etwas gemeinsames, kollektives wichtiger denn je. Wir wissen, dass es möglich ist in unseren Unterschieden, in unserem unterschiedlich Getroffensein, gemeinsam politisch zu kämpfen. Alles andere würde die Idee von Solidarität verwerfen. Wir sind sicher, wir können in allen Unterschieden ausgehend vom Gemeinsamen agieren, wenn wir gewillt sind, die Gemeinsamkeit in antirassistischen Kämpfen zu suchen und zu finden.

Das, was sich so mutig und kämpferisch liest, hat für uns mit sozialem Kapital zu tun – mit schmerzlichem sozialen Kapital: Wir wissen uns in den Lebens-, Beziehungs- und Klassenzusammenhängen, aus denen wir ursprünglich kommen, zu bewegen. Wir wissen uns auch an Orten wie der Universität und der IL zu bewegen. Dieses »sich darin bewegen können« ermöglicht uns sehr viel, aber es ist auf verschiedenen Ebenen auch schmerzlich. Denn all das »sich bewegen können« kommt nicht zuletzt auch von einem es »müssen«. So sind wir auch in der IL manchmal Deutscher als sonst. Nicht zuletzt deshalb führen viele von uns Kämpfe, insbesondere antirassistische Kämpfe, auch oder stärker außerhalb der IL.

Dieses soziale Kapital entsteht nicht nur in alltäglichen Zwängen (Performancedruck in der Schule oder Ähnliches), sondern führt auch dazu, überhaupt in Zwänge zu kommen – also auch das »Können« führt wieder zum »Müssen«: Bestimmte Anteile unserer Selbst performen zu können, zwingt uns auch dazu, andere kontinuierlich nach hinten zu stellen oder zu unterdrücken. So ist die (post-)migrantische Beziehungsstruktur ständig geprägt von Unzugehörigkeit, vom »Dazwischen«, auch in der IL.

Identität und Materialismus?

Aber was meinen wir mit »Identität«? Vielleicht sowas wie sozial relevante Kategorien? Wir nutzen sie und beziehen uns darauf, weil wir unseren Anliegen so Legitimität verschaffen können. Über diese Kategorien können wir zum Ausdruck bringen, dass es sich um kollektive oder strukturelle Erfahrungen handelt, nicht um Einzelschicksale. Es geht also darum, in einer ganz bestimmten Beziehung zur Welt zu stehen.

Wenn wir von Identität sprechen, geht es weniger darum, ob wir uns subjektiv mit etwas identifizieren, sondern darum eine politische Kategorie und politische Verhältnisse zu artikulieren. Wir wollen keine Essentialist*innen sein, die annehmen, dass Menschen »derselben Identität« dieselben notwendigen Eigenschaften besitzen. Aber vielleicht sind wir strategische Essentialist*innen: Wir wollen die Verhältnisse, in denen diese Kategorien Ungleichheitsmarker sind, abschaffen und gehen dabei das Risiko ein, Aspekte zu reproduzieren, sobald wir uns auf sie beziehen.

Wir beziehen uns eben genauso identitär oder nicht identitär, materialistisch oder nicht materialistisch auf unseren Begriff der BPoCKanax (BPK) wie andere sich auf den Begriff der »Arbeiter*in« beziehen. Er beschreibt unsere Beziehung zur Welt wie sie ist, denn Rassismus ist eben nicht allein Diskurs, Ideologie oder Diskriminierungsform, sondern umfasst ökonomische und andere materielle Verhältnisse. Wir wollen einen materialistischen Antirassismus, der aber nicht alles auf ökonomische Fragen reduziert.

Für uns ist der Begriff offensichtlich mit Unsicherheiten verbunden. Manche würden sagen, dass das, was wir beschreiben, gar keine Identitätspolitik ist. Die Auseinandersetzung ist noch unsortiert, versatzstückhaft. Sicher haben andere das schon weitergedacht und Synthesen beschrieben, die uns noch unbekannt sind. Vermutlich stehen Dinge bei uns unverbunden nebeneinander und Widersprüche sind noch nicht erkannt oder noch nicht aufgelöst (allein die Trennung in »uns« und »euch« in diesem Text). Wir haben auch diskutiert, ob »Identität« überhaupt ein linker Begriff sein kann oder ein im Wesentlichen rechter ist. Trotzdem ist uns klar, dass es falsch und zu früh wäre, als Linke alles, was sich unter Identitätspolitik versammelt, zu verwerfen.

Befreiung heißt Antirassismus für alle

Wir nehmen uns besonders wichtig - aus unterschiedlichen Gründen: Wir sind diejenigen, die ganz besonders gemeint sein sollen, wenn wir irgendwas »für alle« wollen. Und wenn die Politik der IL uns nicht »meint« (im Sinne von »Perspektiven formuliert, die es schaffen, die besonderen Betroffenheiten aufzulösen, aufzuweichen oder attackieren«), ist die Politik, die wir machen, unglaubwürdig bis schlecht.

Wir sind also der Überzeugung, dass die Lebensrealität der Entrechteten, Ausgebeuteten und Marginalisierten Ausgangspunkt für unsere Politik sein muss bzw. dass die Perspektiven, die wir formulieren die Verhältnisse in Gänze attackieren müssen, was sich dann auch in der Lebensrealität der Marginalisierten auswirken sollte. To mention the obvious: Es ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen, die strukturell andere Erfahrungen machen, blinde Flecken für z.B. Rassismuserfahrungen haben. Entsprechend braucht es die Perspektiven, im Sinne von situiertem Wissen (das nicht an Betroffene gekoppelt sein muss, aber meist von ihnen ausgeht), um tatsächlich Lösungen, Ansätze und Ziele zu formulieren, die die Überwindung aller Verhältnisse, die uns knechten, bedeuten können.

Wenn wir von »Ausgangspunkt« reden, meinen wir aber nicht allein, dass die Revolution nur dann eine ist, wenn sie antirassistisch ist, weil sie sonst wieder rassistische Verhältnisse schafft, sondern wir gehen einen Schritt weiter: Wir sind überzeugt, dass sogenannten »identitätspolitischen« Kämpfen oder »Partikularinteressen« eine wesentliche Rolle zukommt, wenn es um gesellschaftliche Brüche und Veränderungen geht – insofern, als dass sie eben seltenst wirklich partikular oder identitär sind. So wie die Überwindung der gegebenen Geschlechterverhältnisse nicht nur die Befreiung der Frau bedeuten darf, bedeutet Antirassismus nicht nur die Befreiung der BIPoCKanax.

Hier sehen wir eine Leerstelle. Uns scheint viele haben eine Sprache und Vorstellungen zur Überwindung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen, zu Selbstbestimmung, Freiheit und wie letztere in einer kapitalistischen, vergeschlechtlichten Welt fehlen. Aber wenn es um Migration und rassistische Verhältnisse geht, haben wir das dann auch? Klar, wir wollen Bewegungsfreiheit und Zugang zu sozialer Infrastruktur, aber sonst? Was gibt es gesellschaftlich zu gewinnen - nicht nur für die Betroffenen?

Wir sind selbst auf der Suche, hier aber ein paar mögliche Herleitungen dazu zur Diskussion gestellt:

Herrschaft schreibt sich ins uns ein, so auch Patriarchat und weiße Vorherrschaft. Jemensch zu werden, der jenseits von Herrschaft zu denken und handeln vermag, muss dieselbe »entlernen« als Teil der eigenen Befreiung. Lasst die Almanknechtschaft hinter euch!

Mehr noch: Marginalisierung verdrängt, kontrolliert und beherrscht immer auch etwas, das zwar unter den gegebenen Verhältnissen nicht gewollt ist, aber jenseits dieser Logiken zum Menschsein gehört und gewollt sein kann. Marginalisierung verbannt immer auch das Schöne, das heimlich begehrt, beneidet und weil vergönnt, gehasst wird. Dieser Hass liegt natürlich vor allem bei unseren politischen Feind*innen, aber dennoch schreibt er sich auf komplexe Weisen in uns alle ein. »At the margins« befindet sich also immer auch etwas, von dem, was sich nicht verwerten oder einhegen lässt, aber trotzdem oder genau deshalb den Geschmack der Befreiung trägt: sanft und schwach sein, fürsorglich und zärtlich, faul und pervers, dreckig und laut, heimat- und nationslos, zügellos und unsittlich, gastfreundlich und großzügig, weder Mann noch Frau, lebendig (oder chaotisch) und frei, jenseits des Gegebenen und Geduldeten sein… Auch hier lässt sich Antirassismus als Teil der Befreiung aller verstehen: Almangesellschaft, entlerne und überwinde die Handschrift der Herrschaft und dekolonisiere deine Sinne: Erkennt Momente der Ablehnung und Abwehr gegenüber dem migrantischen und rassifizierten Leben in euch! Wir meinen das Leben, das ihr duldet, aber doch als »das andere« konserviert. Findet stattdessen ein »Ja!« zu diesem Leben, den Umgängen mit Sprache, Zeit und Struktur, zu wilden Farbe und schriller Musik, zu enormen Gefühlsausdrücken und zum unerträglichem Verwöhntwerden in Gastfreundschaft. … zu Shishabars! Diese Gesellschaft und ja, damit auch die ILer*innen, muss von ihrer Angst und ihren Paranoia befreit werden. Kommt an und findet Entspannung in der postmigrantischen Realität. Bitte, integriert euch.

Weil Marginalisierung erschwerte Bedingungen bedeutet, liegen häufig schon wache Augen, gespitzte Ohren, sensible Fingerspitzen, geübte Zungen und tätige Hände bei den Marginalisierten. Die betroffenen Communities der NSU-Mordanschläge wussten früh, dass es sich um Neonazis handeln muss. Queere und BIPoC Communities beschäftigen sich schon lange mit Alternativen zu Strafsystem und Polizei. Wir müssen ihnen ACAB nicht erst vermitteln. Es liegen dort also Analysen, Wissen, Praxen und Sensibilitäten, die wir nicht als »partikular« oder »identitär« verhandeln sollten, sondern die wieder im Verhältnis zur Befreiung aller stehen. Marginalisierung ist kein Sonderfall, sondern eine Zuspitzung der Vulnerabilität, die gesellschaftlich viel mehr betrifft. Bullen und Grenzen sind für manche besonders, aber durchaus für alle scheiße, außer für die, die davon profitieren. Beim Profitieren gilt es natürlich zu unterscheiden, zwischen denen die solidarisch Verrat an der Struktur begehen wollen (z.B. weiße, deutsche Genoss*innen) und politischen Feind*innen, die den menschenfeindlichen Rassismus organisieren (z.B. Frontexfans).

Das fehlende situierte Wissen oder die fehlenden Beziehungen zu den Communities in der IL verwehren uns den Zugang zu all dem. Die IL muss sich ständig aktiv um »Intersektionalität« bemühen: Darum, dass alle gemeint sind und das, was wir formulieren, nicht an etlichen Ausgebeuteten und Entrechteten vorbei geht. Bei anderen politischen Akteur*innen gibt es gar nichts anderes als Intersektionalität. Aufgrund ihrer Arbeit im Handgemenge ist sie eher Ausgangspunkt. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Arbeit dann mühelos verläuft und durch die ausreichende Nähe zu Betroffenen der Weg zur besseren Welt auf der Hand läge. Ganz im Gegenteil: Intersektionale Arbeit im Handgemenge bedeutet sich in ewiger Auseinandersetzung mit entstehenden Widersprüchen wiederzufinden. Aber dennoch: feministische Beratungsstellen für Migrant*innen (wie agisra in Köln oder maiz in Linz) zeigen deutlich, dass sie nicht vor allem eine Sammlung Betroffener, sondern gestaltende Subjekte sind. Gleichzeitig gibt es dort eine andere Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit, Ansätze zu wählen, in denen die Lebensrealitäten Vieler Ausgangspunkt sind (folglich Intersektionalität). Durch die Nähe zu den Communities besteht viel deutlicher die Herausforderung und weniger die Gefahr, Strategien zu wählen, die für die einen aber nicht für die anderen gangbar sind.

In Kürze

Wir verstehen unsere Positionen und Kämpfe nicht primär als »von unserer Identität« ausgehend. Aber wir glauben, dass wir aufeinander angewiesen sind, um uns unsere blinden Flecken im politischen Alltag zu spiegeln. Wir setzen frei nach Bini Adamczak nicht auf Trennung und Differenz; wir schauen auf Strukturen statt auf Subjekte, wollen Veränderung, nicht nur Anerkennung, nicht Sein, sondern Handeln (und ja, man könnte auch sagen, dass das ja dann gar keine Identitätspolitik mehr ist, aber ihr versteht mittlerweile hoffentlich, was wir meinen). Nur so schaffen wir es, dass die neue, ganz andere Welt eine ist, in der wir alle das gute Leben leben können. Wir denken, dass diese Perspektive der Ausgangspunkt für unsere Kämpfe sein sollte, sonst haben wir beim Kaputtmachen, was uns kaputt macht, keine Chance. Mehr noch: Wir glauben, dass es situiertes Wissen in marginalisierten Communities gibt, das ein utopisches Potential beinhalten. Dieses bezieht sich nicht nur auf die Befreiung derjenigen, die von Rassismus getroffen werden, sondern auf die Befreiung aller.

Das gute Leben für alle wird nur mit der Perspektive der Marginalisierten das geile Leben für alle. Viele Zutaten für den Geschmack der Utopie befinden sich »at the margins«. Erst dann, wenn wir die politischen Perspektiven und Praxen der marginalisierten Communities kennen, wird Bewegung zum Tanz. Und ja, die IL, von der wir träumen, ist nicht nur eine IL der (deutschen) Bewegung, sondern des transnationalen, antirassistischen Tanzes!

Selbermachen!

Mit all dem wollen wir nicht sagen, dass wir mehr Arbeiter*innen, Rassifizierte und Queers brauchen, sondern, dass wir inhaltlich und in unserem politischen Denken auf die Kenntnis um die Lebensrealitäten angewiesen sind, um besser zu fühlen, zu denken und zu handeln. Immer wieder fällt Genoss*innen ein, es bräuchte mehr BPK. Wir glauben aber, dass dabei etwas verdreht wird: Eine Diversifizierung und das Anstreben einer imaginierten Quote ist nicht das, worauf wir abzielen. Unseres Erachtens verhält es sich so: Ob wir gute, antirassistische Politik machen, können wir eventuell daran erkennen, dass mehr BPK zu uns kommen. Unseres Erachtens wäre es also eine wünschenswerte Folge einer erneuerten Haltung und politischen Neuausrichtung, wenn wir mehr BPK Genoss*innen in der IL werden – ein schöner Nebeneffekt und politischer Gradmesser, aber weder Voraussetzung noch Selbstzweck.

Also, was wollen wir, wenn nicht mehr BPK? Sowas wie Kanakisierung! Die Gesellschaft ist längst kanakisiert, aber viele Subjekte sind es nicht. Wir glauben diese Kanakisierung ist Teil der Befreiung, während die weiße Parallelgesellschaft (in der sich weite Teile der IL und ihre Politik abspielen) ein rigider, ordnungsliebender, lebensfeindlicher Albtraum ist, in dem es sich auch Teile der radikalen Linken zu gemütlich gemacht haben. Wir wollen, dass sich das ändert. Wir verstehen »Identitätspolitiken« als wichtigen Teil im politischen Prozess für alle. Für all das braucht es nicht unbedingt uns, die BPK, aber naja – irgendwie doch. Es wird für »euch« alleine zumindest ungleich schwieriger.

Ihr hört, seht, spürt, riecht und schmeckt von uns – tut euch den Gefallen und lasst euch von uns bewegen!

Autor*in: Zusammenschluss von ILer*innen mit Rassismuserfahrung

Foto: Abolition, Autonomous Design Group