Die Distanz zwischen Identität und Solidarität


Ein Gespräch über gemeinsame Kämpfe um Befreiung

Berena, Vincent und Peter sprechen über Nähe und Distanz, über Identitätspolitik und migrantisch situiertes Wissen, über gemeinsame Kämpfe um Befreiung und globale Solidarität in Zeiten der Pandemie.

Dieses Gespräch steht im Kontext der Pandemie. Gleich zu ihrem Beginn hat Rassismus auf viele Weisen sein Gesicht gezeigt: der rassistische Anschlag in Hanau, wenig später der Mord an George Floyd durch Polizisten in Minnesota. Feldarbeiter:innen wurden eingeflogen, während Moria in Flammen stand und Menschen dort schutzlos der Pandemie und allen anderen widrigen Bedingungen des Grenzregimes ausgeliefert waren. Während die Regierungen hierzulande versuchten, das Virus durch Grenzen und Bullen zu kontrollieren, liegt es auf der Hand, dass es ohne eine Patentfreigabe und ohne die Möglichkeit zur Impfung überall nicht gelingen wird, mit der Pandemie umzugehen.

Vincent: Einen Tag nach dem Anschlag in Hanau haben sich Angehörige, solidarische Zivilgesellschaft und Aktivist*innen in Hanau versammelt. Ich bin mit zwei Bandkollegen am 20. Februar zu der ersten Kundgebung gefahren und war überrascht, wie viele Menschen ich vor Ort kannte. Wir lagen uns in den Armen, trösteten uns, standen einander bei - ich wurde von meinen Freund*innen gut aufgefangen. Aber was ich gesehen habe, war eine seltsame Mischung: Auf dem Podium sprach ein Politiker von einer wehrhaften Mitte der Gesellschaft und neben nationalistischen türkischen Symbolen wurden MLPD-Fahnen, wie immer schön dezentral, geschwenkt. Irgendwo wurde noch ein mutloser linker Spruch gejohlt. Sowas wie »Kapital, Staat, Scheiße!«“ oder »Hass, Hass, Hass wie noch nie!«.

Berena: In der iL haben viele BiPoC beschrieben, dass sie sich links und rechts umgeschaut haben, aber keinen emotionalen Resonanzraum hatten. Sie haben sich allein gefühlt und sind wütend. Dass deutsche Aktivist*innen ihre Gefühle oft außerhalb des Plenumraums lassen, was sich dann auch in der Politik äußert, die sie machen, mag dazu beigetragen haben. Aber ich glaube, dass der gesellschaftliche Rassismus nach wie vor tief sitzt, auch bei Linken. Bei mir entsteht oft das Gefühl, dass es am 19.2. einen Anschlag auf "die Anderen" gab. Kanax und Shishasbars sind oft immer noch fremd. Für viele Kanax und BiPoC ist das anders. Wir denken: »Es hätte auch mich treffen können, meine Freund*innen, meine Kinder...«. Ich glaube, dass dieser Anschlag auch von Menschen, die keine Rassismuserfahrungen machen, als etwas sehr Nahes erlebt werden kann, aber Rassismen und unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität zu dieser Distanz führen. Während ein bestimmtes Spektrum der antirassistischen Landschaft direkt vor Ort war, waren es andere Teile der radikalen und organisierten Linken nicht. Während die einen sehr nah mit Betroffenen Politik machen und Freundschaften entstehen, arbeiten andere an ihnen vorbei und bleiben in ihrer Bubble.

Vincent: Aber ich wurde auch positiv überrascht: Es gab ein enormes mediales Interesse an dem Ereignis, anders als es mit dem NSU der Fall war. Während damals rassistisch von »Dönermorden« geschrieben worden war, hatte ich den Eindruck, dass bei Hanau die Perspektive der Betroffenen häufiger im Zentrum stand. Das ist eine Errungenschaft migrantischer Communities und von Antirassist*innen, die immer wieder für Öffentlichkeit, Erinnerung und Gedenken hinsichtlich rassistischer und rechter Gewalt gekämpft haben. Beispielsweise die Inititative 19. Februar und die Arbeit der Bildungsinitiative Ferhat Unvar.

Berena: Außerdem formierten sich in vielen Städten Migrantifa-Gruppen. Mit Sicherheit nicht zuletzt, weil ein sichtbarer, handlungsfähiger Akteur gefehlt hat. Ich muss sagen, als Migrantifa dann in aller Städte Munde war, hatte ich viel Hoffnung und Angst zugleich. Der Claim war für Teile der antirassistischen Bewegung gefüllt mit dem Bestreben um „migrantifaschistische Politik“ jenseits von Identitäten, die dennoch um die Unterschiede weiß, um den gemeinsamen Kampf und gelebte Solidarität in unterschiedlicher Betroffenheit. Diese Herangehensweise scheint oft eine Seltenheit zu sein, obwohl es schon seit langem Projekte gibt, in denen Aktivist*innen ausgehend von den Anliegen der Betroffenen mit solidarischen Mitstreiter*innen kämpfen. Diese Aktivist*innen haben ein klares Selbstverständnis, Haltung und sind verankert. Gefühlt setzt sich diese Praxis nicht durch, ihre Antworten sind aber auch komplexer als die von identitären BiPoC oder Traditionsmarxist*innen. Ständig schauen wir die Arbeit der anderen Lagers an und verschwenden Energie damit, uns voneinander abzugrenzen. Dabei müsste es doch gelingen sich positiv aufeinander zu beziehen. Naja, zurück zu Migrantifa: Es ging auf jeden Fall relativ zügig um die Frage, wer sich unter Migrantifa in den jeweiligen Gruppen versammeln darf. Die Antwort: BiPoC only. 

Peter: Hanau war für mich Ausgangspunkt für antirassistische Arbeit und migrantische Selbstorganisierung. Der Ansatz »BiPoC only« war zumindest zu Beginn kein dogmatisches identitätspolitisches Mantra, sondern Ausdruck davon, wer sich real in Migrantifa zusammengefunden hatte - ich fand das geil! Migrantifa ist ein Organisierungsangebot für sehr viele migrantische, rassifizierte Menschen, für BiPoC, und insbesondere für junge Leute, die häufig ihre erste Organisierungserfahrung machen. Ein Angebot gerade für diejenigen, die sich aus den verschiedensten Gründen in der »weißen Linken« nicht wiederfinden. Natürlich kann man das strategisch hinterfragen, aber der Impuls einer migrantischen Selbstorganisierung war erst einmal eine emanzipatorische Antwort auf die Stellung junger migrantischer Menschen in der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Linken und kein Ausdruck einer »post-identitätspolitischen Strategie«. Es ging um die spontane Negation des Bestehenden. Die Dynamik, mit der wir auf der Straße waren, war die vielen Lücken zu Beginn wert.

Vincent: Ja, Migrantifa hat offensichtlich ein Angebot für diejenigen geschaffen, die sich in den letzten Jahren politisiert haben – spätestens durch Hanau und Minnesota. Ein Angebot für Leute, die selbst anpacken, Kontakt suchen, Präsenz zeigen wollen. Migrantifa ist auch Ausdruck der antirassistischen Errungenschaften der letzten Jahre, in denen Rassismus besprechbarer geworden ist und auch das Bewusstsein über die eigenen Rassismuserfahrungen ist wieder sichtbarer geworden.

Ich selbst bin dem Begriff »Migrantifa« zum ersten mal auf einer #unteilbar-Demo in Dresden begegnet. Ich war Teil des ParadePower-Block und die von We'llCome United verteilten Sticker mit den Aufschriften »Migrantifa« , »Solidarität« und »Antirassismus« waren sehr beliebt. Damals hieß es noch: »Migrantifa sind die migrantischen Kämpfe um soziale Rechte und gegen Rassismus und Faschismus, Migrantifa sind unsere gemeinsamen Kämpfe gegen die Nazis in den Behörden und Institutionen, bei der Polizei und auf der Straße. Migrantifa sind wir, sind unsere antifaschistischen Freund*innen, seid ihr«. Also ein Begriff, der für Bündnisse und Solidarität stand. Migrantifa hatte eine Anziehungskraft, raus aus der Antifa-Tristesse und dem Diversity-Quatsch, rein in die Kanakisierung und gemeinsame Kämpfe. Es war auch süß: die deutschen Antifas waren froh, dass sie mitmachen durften (lacht). Es war einfach emotional, eine der wenigen Demos, auf der ich mit Freund*innen aus allen meinen politischen Kontexten war: Junge Schwarze Bewegung, Refugee Movement, Antira, Antifa etc. Es war gelungen, Kämpfe zusammenzubringen. Der Begriff, mit seiner verworrenen Geschichte, wurde der Bewegung geschenkt. Sie hat daraus gemacht, was sie wollte. Auf dem NSU-Tribunal in Chemnitz hatten wir, im November 2019, ein Migrantifa-Banner. Wir haben uns dahinter versammelt, um unsere Haltung klarzumachen: der Osten war, ist und bleibt migrantisch! Wir sind gemeinsam an den Ort der Täter:innen nach Zwickau gefahren, haben geweint, uns gegenseitig Kraft gegeben und für ein Gedenken gekämpft, das die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum rückt. Damals stand der Begriff für mich und viele anderen für das Überwinden identitärer Grenzen und einen gemeinsames Projekt. Aber ich denke im Nachhinein, dass das »Identitäre« von Anfang an schon darin angelegt war. Wie eine der Aktivist:innen, die die Schriftzüge designt hatten mal zu mir meinte: »Wir leben halt in identitären Zeiten«. Aber ich denke im Nachhinein, dass das »Identitäre« von Anfang an schon darin angelegt war. Aber jetzt, mit einiger Zeit Abstand, beobachte ich vor allem eines: Sehr junge, migrantische Menschen/ BiPoC, die sich gerade erst politisiert haben, gehen rein in die Migrantifa und kommen als stabile Linke raus. Auch wenn mir manche von der Haltung her zu »rot« sind, freut mich das sehr. Ich spreche natürlich erstmal nur von Berlin.

Peter: Genauso wie bei »Antifa« gilt jeder Klimaaktivismus als »weiß«, wenn er nicht explizit als nicht-weiß gelabelt wird. Das macht immer unsichtbar, was vorher schon migrantisch war.

Berena: Klar, das Unsichtbarmachen ist ein Problem, aber Migrantifa bedeutet, dass die migrantische Perspektive auch Ausgangspunkt wird für die eigene antifaschistische Praxis. Z.B haben Rassifizierte ihre eigene Geschichte mit der Polizei, die Spezifika mit sich bringt, aber doch eng verbunden ist mit der Geschichte weißer Antifaschist*innen, oder? Da gehts eben nicht um festgeschriebene Identitäten.

Peter: Trotz oder wegen der schnellen Handlungsfähigkeit in Bezug auf Hanau war all das, was ihr ansprecht, zu Beginn offen: Was konnte, was sollte Migrantifa sein? Die Zielgruppen und die ersten Aktionsformen haben sich aus der Dynamik des Ereignisses ergeben und das war gut so. Für das, was wir machen wollten, schien es keine tiefere Strategie zu brauchen. Einige wollten aber den Weg von der Bewegung zu einer handlungsfähigen bundesweiten Organisierung gehen. Das wiederum braucht sehr wohl kollektives, historisches Bewusstsein, strategische Orientierung und Streitkultur. Das alles ist nicht einfach gegeben. Die Spannung zwischen Dringlichkeit, Spontaneität und Selbstwirksamkeit der ersten Monate und dem längerfristigen Organisierungsprozess, der irgendwann nötig war, haben nicht alle Gruppen ausgehalten. Es gab vielleicht zu viele Fragen in zu kurzer Zeit. Wo geht es bei den Gruppen wohl hin, die den Weg in die längerfristige Organisierung gefunden haben..?

Berena: Ja, wir haben schon einmal darüber gesprochen, ob es sinnvoll gewesen wäre, wenn Menschen mit anderen politischen Ansätzen Teil von Migrantifa geworden wären, um Teil dieses Prozesses zu sein. Ich habe ihn von außen gesehen und war erstmal egoistisch nur broken-hearted, ich habe verkürzten Vulgärmarxismus und dogmatische Identitätspolitik zugeschrieben und dadurch keine Lust auf die Auseinandersetzungen gehabt. Dass wir alle gut und wichtig finden, dass es Migrantifa gibt, auch wenn es etwas anderes ist als im Zitat steht, liegt auf der Hand. Vincent, du bist nicht rein, weil du zu alt und antideutsch bist, oder?

Vincent: Hahaha, ja, so war der Vorwurf gegen mich, als ich aus einer Chatgruppe rausgegangen bin. Dabei bin ich weder das eine, noch das andere. Naja, vielleicht bin ich zu alt. Ich habe mich damals sehr über die »Von Migrant*innen – für Migrant*innen«-Entwicklung empört, weil ich noch mit dem Gefühl der Verbindung von Kämpfen aus der #unteilbar-Demo in die Gruppen gegangen bin.

Berena: Das Problem dabei ist ja, dass dieser Ansatz die Kehrseite hat, die ich vorhin kritisiert haben. Schlimmstenfalls wird die Distanz, die manche gegenüber dem Anschlag in Hanau und ihren Betroffenen spüren, sogar als kritisch reflektierte Position verbucht. Für manche bedeutet Solidarität, sich sehr verbunden zu fühlen und ihn als »Anschlag auf uns alle« zu verstehen, andere heben hervor, dass es um Rassismus geht und entsprechend nicht »wir alle« getroffen und gemeint waren. Viele wissen nicht, was es bedeutet eine dritte Position einzunehmen, die versucht beides zusammen zu denken. Meiner Meinung nach ist Solidarität, wenn es egal wird, ob es ihren, deinen oder meinen Körper trifft. Solidarität ist, wenn dein Schmerz Ungerechtigkeit für mich ist. Ich fühle es, auch wenn ich nicht gemeint war. Manche weiße Aktivist*innen haben das Gefühl, das sei falsch.

Vincent: Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich von Rassismus Betroffene gemeinsam separatistisch organisieren. Die Frage, in welchem Verhältnis Antifaschismus, Antirassismus und migrantisch situiertes Wissen stehen, stellt sich ja ständig. Eins steht fest: Es gab ja nie diese sauber nach Identitäten getrennten Kämpfe. Das passiert meist erst im Nachhinein. Es macht auch keinen Sinn. Wenn wir das Ding umwerfen wollen, dann sind wir auf Zusammenarbeit und Solidarität angewiesen. Trotzdem taucht es immer wieder auf, dass migrantische Akteure sich als »Novum« begreifen, und ihre Gegenüber dem auch noch zustimmen. Willi Münzenberg hat in den 1920ern Tiemoko Garan Kouyaté, radikaler anti-kolonialer Aktivist in Paris, mit in Berlin lebenden, in der LzVN organisierten Schwarzen Kommunist*innen vernetzt. 1966 stürmten afrikanische Studierende gemeinsam mit weißen Kommiliton*innen Kinosäle und verhinderten die Aufführung eines kolonialrassistischen Filmes. Die Antifa Gençlik hat sich u.a. auch mit deutschen Autonomen organisiert usw. usf. Problematisch wird BiPoC – von der völligen Unschärfe des Begriffs in Deutschland mal abgesehen – ja u.a. dann, wenn Leuten Recht gegeben wird, weil sie die »richtige« Positionierung haben. Also, Natasha A. Kelly ist eine Schwarze Frau, die behauptet, es brauche eine »rassische Wende« in Deutschland und Rassismus habe zwei Punkte im Koordinaten-System: »Schwarz und Weiß«. Und niemand widerspricht ihr öffentlich. Das ist problematisch. Warum knicken die ganzen Antira-Strukturen vor so einem Quatsch ein? Die Antifa Gençlik vermuten in einer sehr lesenswerten Selbstkritik sogar, dass die deutschen Linken, die ihnen am kritischsten gegenüber standen, es mit ihnen am besten gemeint haben.

Berena: Das bedeutet im Umkehrschluss vielleicht, dass das Einknicken von Almans uns sogar schadet. Okay, dass antirassistische Kämpfe immer irgendwie gemeinsam waren, scheint aber nicht zu interessieren. Damit will ich aber auch nicht unsichtbar machen, wie wichtig separate Räume sind und welche Errungenschaften aus ihnen hervorgehen. Aber es ist, wie du sagst: Diejenigen, die nicht betroffen waren, hatten immer eine eigene Rolle darin. Und zwar nicht nur die der Passivität und Unterordnung.

Peter: Lustigerweise wird sich ja von vielen BiPoC auch in Migrantifa in verklärter Weise insbesondere auf die Antifa Gençlik bezogen. Differenziertes Wissen über die Kämpfe und Errungenschaft antirassistischer Kämpfe aus der Vergangenheit und Gegenwart sind einfach nicht vorauszusetzen. Die Orte, an denen es diese Auseinandersetzungen gibt, verhalten sich wie ein Paralleluniversum zu anderen aktivistischen Sphären. Es war egal, welche Geschichte die Migrantifa-Designs haben. Gerade unter jungen migrantisierten Menschen, wie sie Migrantifa häufig erstmals organisiert hat, stand so etwas wie ein differenzierter Umgang mit Geschichte und Strategien der antirassistischen Bewegung erstmal nicht im Fokus. Die große Stärke der Dynamik, Offenheit und Spontaneität der sich Politisierenden und Organisierenden hatte natürlich auch Schwächen. Ich denke in der Bewegung muss Kontinuität, Vernetzung, Bewusstsein, Streit- und Strategiefähigkeit erarbeitet werden. Das ist eine Frage interner Prozesse, aber auch der solidarischen Kritik und Debatte mit externen Akteur*innen - gerade hier müssen Migrantifas ihre Selbstgewissheit und andere ihre Zurückhaltung auch hinterfragen.

Berena: Von mehr geschichtlichem Bewusstsein und Streitkultur würden wir an vielen Stellen profitieren, auch in feministischen Kämpfen, aber jetzt mal ganz plump: Geschichtliches Wissen hin oder her – es muss doch um etwas gehen! Und ist die Antwort da nicht: Eine Welt, die ganz anders ist, als diese hier? Und diese ganz andere Welt, kann nur geil sein, wenn sie von der Perspektive Marginalisierter ausgeht, weil nur dort die Befreiung aller liegen kann, sowohl der Unterdrückten als auch derjenigen, die solidarisch aber nicht von Ungleichheitsideologien betroffen sind! Z.B. haben Frauen und Menschen zwischen und jenseits der Geschlechterbinarität so viel Wissen und Praxis, die wunderschön süß, zärtlich und fürsorglich ist. Männer kämpfen doch nicht für die Befreiung von Geschlecht, weil sie erst frei sind, wenn alle frei sind, sondern weil so viele schöne bunte Geheimnisse in der Erfahrung anderer Geschlechter liegen wie z.B. nahe fürsorgliche, Freund*innenschaften zu Menschen desselben Geschlechts. Ich will sagen: Die Erfahrung, bestehende Grenzen - egal ob gender- oder nationalstaatsbezogene - zu überwinden, schafft immer etwas ganz Neues, was vorher nicht möglich war, etwas Befreiendes. Dasselbe gilt für migrantisches Wissen. Nicht umsonst rühren die abolitionistischen Ansätze zur Polizei oder diejenigen zu transformativer Gerechtigkeit aus den genannten Communities. Wir hustlen schon lange und tief mit so viel Shit, natürlich gibt es da Expertise, die uns der Befreiung aller näherbringen kann. Ich denke, viele BiPoC verstehen mich oft so, dass ich aus Prinzip unbedingt Politik mit Almans machen will. Aber mir geht es darum, dass an Identitäten festzuhalten kein transformatives Potential hat. Und darum, dass von den solidarischen Almans besser verstanden werden muss, dass ihre Befreiung nicht ohne dieses migrantisch situierte Wissen möglich ist. Diese Perspektiven müssen zum Ausgangspunkt der eigenen Politik werden, sowohl um solidarisch zu sein, als auch um sich selbst und alle wirklich zu befreien - das fehlt mir nach wie vor oft, nicht zuletzt in der iL. Das ist meines Erachtens das Verhältnis von Antifaschismus und migrantischer Perspektive! Darüber haben wir im Podcast zur Frage, ob die iL zu weiß ist, viel zu wenig gesprochen, Vincent. So wie Feminismus bedeutet, die Abwertung eigener femininer oder queerer Facetten zu überwinden, glaube ich, dass Almans migrantischen, kanakischen Facetten Raum geben sollten. Solidarisch ist man nicht mit »den Anderen«. Solidarität ist, wenn »die Anderen« zu den eigenen Leuten geworden sind. Also, raus der Parallelgesellschaft, liebe weiße Genoss*innen! Kanakisierung ist Befreiung.

Peter: Dabei müsste es eigentlich so leicht sein, gemeinsamen zu kämpfen. Die gemeinsamen Kämpfe sind doch schon längst da. Der staatliche Rassismus erfährt immer krassere Risse. Die Lösung liegt sicher nicht darin, sich von hegemonialen Identitätspolitiken oder von weißen Aktivist*innen abzugrenzen, sondern darin, das Gemeinsame zu finden, wie z.B. in der Analyse zur autoritären Formierung und rassistischen Strukturen - darin sind wir uns doch einig.

Antirassistische Praxis muss darin ein materieller Eingriff sein. Wir müssen über verkürzte Solidarität hinausgehen, um wirklich miteinander zu kämpfen und nicht nur »Ally« zu sein. Da könnte übrigens auch die Verbindung zur Klimagerechtigkeitsbewegung entstehen, die sich mittlerweile seit Jahren - nach teils harten internen Kämpfen - Antirassismus und Antikolonialismus auf die Fahnen schreibt, ohne dass irgendwas dabei herauskäme. Eine materiell eingreifende Praxis könnte nicht nur unterschiedliche Menschen verbinden, sondern auch Bewegungen. Menschen politisieren sich über Identitätspolitiken, das wird auch so bleiben. Ich frage mich oft: Braucht es eine neue Praxis, um uns zu verbinden, die in der Lage ist im identitätspolitischen Feld auf etwas Größeres zu verweisen..?

Berena: Ja (lacht), oft ist „Antirassismus“ sowas wie den Betroffenen aus Prinzip Recht geben, daran denk ich natürlich nicht, wenn ich sage, dass die Perspektive betroffener Communities fehlt. Zum gemeinsam Kämpfen: Insbesondere Hanau ist ein Ereignis, zu dem es meiner Meinung nach möglich sein sollte, auf das Gemeinsame zu fokussieren. Stattdessen teilt sich das Gedenken an Hanau vielerorts auf, was nicht schlimm sein muss, aber meist sind die politischen Gründe unklar oder nicht überzeugend. Es ist eine Farce.

Peter: Das Problem ist, wenn Betroffenheit zu einer Kategorie wird, die absolut über die Möglichkeiten von Tun und Sagen in politischen Kämpfen entscheidet. Dadurch wird die Grundidee von Solidarität verworfen - dann können wir eigentlich auch einpacken! Wie kann man das als emanzipatorische Politik verkaufen? Ich stimme euch zu, bei aller Notwendigkeit von Betroffenenzentrierung: Solidarität heißt doch kämpfen auch ohne betroffen zu sein! Das Band des sich-mitgemeint-Fühlens muss stärker werden als das individualisierte Betrifft-mich-nicht. Die Einwände sind ja unlängst vielen bekannt. Es geht nicht darum, Differenzen zu leugnen oder Machtverhältnisse zu reproduzieren. Es geht um die Möglichkeit, durch den gemeinsamen Kampf das Trennende aufzuheben. Das setzt Anerkennung und Bewusstsein des Trennenden voraus.

Berena: Ja! Die Überzeugung, dass es die Verhältnisse, Zwänge und Strukturen sind, die uns trennen, ermöglicht den Blick auf eine Welt, in der wir wie Vincent sagt »ohne Angst verschieden sein können«. Und sobald ich das verstehe, habe ich keine Distanz mehr zu »der Sache«, sondern bin ungetrennt von den betroffenen Menschen, selbstverständlich ohne vereinnahmend zu werden. Natürlich trifft uns nicht alle dasselbe auf dieselbe Weise und ich stimme zu, dass es wichtig ist die jeweilige Spezifität einer Erfahrung anerkennen zu können. Es geht also nicht um blinde Solidarität, die Unterschiede negiert oder wegwischt. Das ist, wie du sagst, keine Solidarität. Aber Solidarität darf genauso wenig das sein, was die Distanz und die Differenz zwischen uns vor allem affirmiert. Solidarität ist der gemeinsame Versuch die Verhältnisse, die uns trennen, zu überwinden - für das vorhin beschriebene Neue, ganz Andere.

Vincent: Das hast Du wirklich sehr schön gesagt. Aber erstens ist das in Zeiten neoliberaler Subjektivität nicht umsonst so schwierig und zweitens benötigt das auch sehr konkrete Grundsätze. Wir leben in einer Welt, in der der Geburtsort mehr Auswirkungen auf Reichtum hat, als die Klasse, in der man in Deutschland lebt. Zu Marx' Zeiten war Holland zum Beispiel das reichste Land, aber nur dreimal reicher als das ärmste, China. Heute kommen 60% des Coltans im Silicon Valley aus dem Kongo. Der*die durchschnittliche Arbeiter*in verdient in den USA aber 93-mal mehr. Diese Verbundenheit zu checken, darum geht's. Die Grenze als Materialität des Rassismus soll Menschen auf ihren Plätzen fixieren. Hier und anderswo. Das Überschreiten von Grenzen, sich ein Leben woanders aufbauen, Geld zur Familie schicken, sich verbinden - das ist alles Teil des Klassenkampfes.

Berena: Ja, es ist noch viel Arbeit, die (gefühlte) Distanz mit Solidarität zu überwinden und das als Teil des Klassenkampfes zu begreifen. Und wie du sagst, Peter, Kämpfe zu verbinden bedeutet nicht bloß „intersektionale Positionen“ auf Transpis zu schreiben, sondern real aus einer gemeinsamen Perspektive heraus zu agieren. Im Kopf mag das bei vielen schon da sein, aber die Kämpfe stehen doch oft unverbunden nebeneinander oder haben einander nicht auf dem Schirm. Ich hab‘ keine Lust mich unnötig zu distanzieren, weder von Almans noch von Migrantifas. Lieber will ich an Solidarität arbeiten, sowohl mit den Kongoles*innen als auch mit den Betroffenen von rechter Gewalt.

Peter ist Klimaaktivist und war Teil von Migrantifa Hessen. Er hat »Migrantifa for Future« mitgegründet. Vincent ist Künstler und Aktivist in Berlin, u.a. aktiv bei »Ihr seid keine Sicherheit«. Berena ist Antira-Aktivistin in der IL Köln.

Foto: Umbruch Bildarchiv