»Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist der Klassenkampf« (1/2)


Ein Gespräch von Migrantifa Berlin und der AG Krieg und Frieden der IL über den 1. Mai 2021 in Berlin

Der revolutionäre 1. Mai in Berlin wurde in diesem Jahr von einem breiten Bündnis von migrantischen Selbstorganisationen und radikaler Linken getragen und hat mit »Yallah, Klassenkampf« eine offensive, klassenkämpferische Botschaft auf die Straße getragen. Wir haben mit Aicha Jamal, aktiv bei Migrantia Berlin, und Louise, organisiert in der AG Krieg und Frieden der IL Berlin, den 1. Mai ausgewertet und über Klassenkampf, neue Zusammenschlüsse und internationalistische Praxis gesprochen.

Debattenblog: Wie habt ihr den Tag erlebt? Welche ermächtigenden Bilder bleiben euch im Kopf, was hätte es vielleicht aber auch nicht gebraucht?

Louise: Ich fand total toll zu beobachten, wie belebt die Stadt wieder war. Kids, die bei Grillbuden auf den Dächern gechillt haben, die ganzen Gerüste, die beklettert wurden – da war ein Moment von Lebendigkeit, den ich in Berlin ewig nicht gesehen habe. Positiv fand ich auch, dass an unserem Lauti Redebeiträge auch auf Englisch und Türkisch gehalten wurden, und Menschen an den Fenstern darauf reagiert haben. 

Die Demo selbst fand ich erst sehr stockend – wir sind nach langem Warten am Hermannplatz und Unklarheit darüber, warum es nicht losgeht – in zwei Stunden gerade einmal 800 Meter weit gekommen, nicht einmal bis zu den Neukölln-Arkaden. Dort, an einer Stelle, die wegen einer Baustelle verengt war, haben die Bullen dann die Situation eskaliert, uns geschlagen und auseinandergetrieben. Die Sanis mussten ohnmächtige Menschen aus der Demo raustragen. Leute wurden grundlos verprügelt und verhaftet. Das fand ich total heftig – zumal ja ein so diverses Publikum, inklusive Kindern, da war und die Demo auch angemeldet war. Der Vorwurf, es wären keine Abstände eingehalten und Masken getragen worden, ist Bullshit. Abstände konnten nur nicht eingehalten, weil wir in eine Baustelle gedrückt wurden. 

Es gab dann aber nach diesem Angriff der Bullen bei uns im hinteren Teil der Demo großen Jubel, als wir von vorne gehört haben, dass die vorderen Blöcke stehen und auf uns warten, also soldarisch waren und als Bündnis dieser Eskalation standgehalten wurde. 

Aicha: Wir haben von Anfang an bemerkt, dass die Polizei versucht, den Tag zu sabotieren. Der Frontblock konnte sich beispielsweise zuerst nicht formieren und es hat lange gedauert, bis wir loslaufen konnten. Am Hermannplatz angekommen fand ich es aber erstmal ein unglaublich schönes und empowerndes Zeichen, dass die revolutionäre 1. Mai Demo von einem migrantischen Block angeführt wurde. Ich mag das Wort Diversität nicht, aber tatsächlich war es divers - es sind so viele Communities mit uns gelaufen, kurdische und palästinensische Kämpfe wurden verbunden. Das war für mich ein unglaublich starkes Gefühl von Solidarität und Zusammenhalt. Auch dass wir uns im Bündnis mit vielen weiß-deutschen Gruppen zusammengetan haben, um den Tag zu organisieren, und trotz aller Meinungsunterschieden geschafft haben, an diesem 1. Mai zusammenzustehen und Einheit zu demonstrieren, war für mich ein sehr schönes Gefühl.

Ich war in der ersten Reihe. Und von Anfang an haben die Cops uns gestresst, haben angefangen uns abzufilmen. Als wir losgelaufen sind habe ich so eine Power von der Demo verspürt - und ich weiß, das war an verschiedenen Teilen der Demo ganz unterschiedlich - aber bei uns war's ein richtiges Gefühl von Stärke und Drive. Später haben wir mitbekommen, dass es weiter hinten in der Demo eskaliert ist und der Enteignungslauti gestürmt wurde, weswegen wir uns entschieden stehenzubleiben. Die Polizei aber hat uns gesagt "Kommt, ihr seid doch die guten Demonstranten, lauft doch weiter, ihr seid doch nicht so wie die da hinten, ihr seid doch die Friedlichen!". Das ist sinnbildlich für die gesamte Polizeitaktik an diesem Tag: Sie haben versucht uns zu spalten. Sie haben es genau auf der Sonnenallee eskalieren lassen - ich bin mir ziemlich sicher, dass das Absicht war. Wir haben im Vorfeld immer kommuniziert, dass wir nicht wollen, dass es in unserem Kiez knallt. Die Polizei wollte anscheinend aber genau das.

Die Tatsache, dass die Bullen so kalkuliert unsere Demo zerschlagen haben, ist ein Zeichen dafür, wie viel Angst dieser Staat und die Polizei vor dem Zusammenschluss von migrantischen Linken und deutschen Linken haben, von diesem Zeichen von Einheit und unserer Verankerung in den Kiezen.

Debattenblog: Wie kamt ihr als Migrantifa zu der Entscheidung ins 1. Mai-Bündnis zu gehen?

Aicha: Ins 1. Mai-Bündnis wurden wir im Dezember 2020 eingeladen. Wir haben den 1. Mai als Gelegenheit begriffen, nicht nur über Polizeigewalt und faschistischen Terror zu sprechen, auch wenn das weiterhin der Hauptfokus unserer Arbeit ist. Wir als Migrantifa haben uns gegründet, nachdem ein Faschist bei einem Terroranschlag in Hanau neun unserer Geschwister ermordet hat. In unserer Arbeit merken wir immer wieder, dass uns als migrantische Menschen oft nur zugetraut wird, über antirassistische Themen zu sprechen. Gleichzeitig verstehen wir uns aber als Linke und entwickeln eine Analyse der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Für uns sind es die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, die umgewälzt werden müssen, um auch Rassismus auf eine nachhaltige Weise zu bekämpfen. Im Kapitalismus wird es kein Leben ohne Rassismus geben. Der Rassismus ist fundamental für die Art und Weise, wie dieses System funktioniert.

Mit dem 1. Mai wollten wir ein klares Zeichen in zweifacher Hinsicht setzen: Erstens muss der Klassenkampf migrantisch geführt werden, weil migrantische Menschen einen großen Teil der unterdrückten Klasse in Deutschland darstellen. Und zweitens wollten wir ein Zeichen in die Richtung der bestehenden liberalen und institutionalisierten Antira-Szene setzen, die glaubt dass die Emanzipation durch Institutionen und Reformen im Kapitalismus herbeigeführt werden kann. Wir als Migrantifa denken nicht, dass mehr Leute in Führungsetagen oder mehr Leute in der Politik eine Verbesserung für das Leben von uns allen herbeiführen wird. 

Diskriminierung gibt es. Wir alle erleben sie jeden Tag und das ist schlimm! Aber schlimmer ist die Tatsache, dass migrantische Arbeiter*innen überausgebeutet werden, dass die Produktionsverhältnisse im Globalen Süden dazu führen, dass die Leute krass am Arsch sind und aus ihren Ländern fliehen müssen. Rassismus ist so viel mehr, als dass mich jemand fragt, woher ich wirklich komme. Antidiskriminierungsarbeit zielt aber darauf ab, dass wir innerhalb dieser Verhältnisse weniger wie Scheiße behandelt werden, während unsere Position in der Gesellschaft die gleiche bleibt. Klar, manche Leute schaffen es hoch und es gibt inzwischen migrantische Menschen in Machtpositionen, die sagen können "guck mal, es geht doch jetzt, es ist doch gar nicht schlimm". Die Mehrheit aber bleibt unten. Und der Unterschied ist nur, dass es inzwischen auch migrantische Menschen sind, die migrantische Menschen unterdrücken können.

Wir glauben, dass das einzig wirksame Mittel gegen Rassismus der Klassenkampf ist. Und das wollten wir am 1. Mai auf die Straße tragen.

Debattenblog: Ihr seid ja als AG Krieg und Frieden schon seit Jahren im 1.-Mai-Bündnis aktiv. War dieser 1. Mai sehr anders in den Jahren davor?

Louise: Ein großer – und offensichtlicher – Unterschied zu den vergangenen Jahren ist natürlich, dass wir immer noch in der Corona-Pandemie stecken und seit sechs Monaten einen unklaren Lockdown erleben. Den Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Zusammensein, vielleicht auch nach Feiern war in der Demo auch spürbar. Auch thematisch war die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf der Demo präsent. 

Anders war auch, dass viele neue Gruppen im Bündnis dabei waren, mobilisierten und sichtbar wurden. Zuerst kam Migrantifa dazu, und darüber weitere Gruppen wie Sudan Uprising, Jewish Antifa, und andere. Das hat neuen Schwung reingebracht und viele Diskussionen ausgelöst, weil sehr viele unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen aufeinandergetroffen sind. An diesem 1. Mai sind bereits ganz viele Themen und Kämpfe zusammengekommen - zum Beispiel mit der Mieter*innenbewegung nach dem gekippten Mietendeckel – und es hat sicher Potential, noch viel größer zu werden. 

Organisatorisch war etwas neu, aber gleichzeitig auch alt, nämlich dass die Demo angemeldet wurde, was seit 2017 nicht mehr der Fall war. Das Ziel war dabei, eine sichere Situation zu schaffen für die Menschen, die zur Demo kommen – aber die Eskalation der Bullen hat auch gezeigt, dass sie gar nicht vorhatten, uns bis zum Ende laufen zu lassen. Das zeigt auch, dass sie Angst haben vor diesem neuen Bündnis, vor den neuen Zusammenschlüssen und Verständigungen, die geschaffen wurden. 

Debattenblog: Wie habt ihr die Zusammenarbeit im Bündnis mit den anderen Gruppen im Vorfeld erlebt? Gab es kritische oder kontroverse Punkte? 

Aicha: Es gab auf jeden Fall Reibungspunkte. Wir als Migrantifa sind mit klaren Forderungen ins Bündnis gegangen, nicht um zu spalten, sondern weil wir glauben, dass sich die 1. Mai-Demo, aber auch die gesamte Isolation der Linken verändern muss. Natürlich ist das nicht bei allen auf Wohlwollen getroffen und hat Diskussionen ausgelöst. Das finde ich aber überhaupt nicht schlimm. Unter Genoss*innen ist es sehr wichtig, Kritik aneinander zu üben. Außerdem sind wir ja auch in das Bündnis reingegangen, gerade weil wir miteinander arbeiten wollten. Sicherlich haben wir in der Bündnisarbeit oder der Vorbereitung nicht alles richtig gemacht, wir sind ja auch eine sehr junge und wenig erfahrene Gruppe. Trotz oder gerade wegen der Reibereien und Uneinigkeiten war es ein sehr wichtiger Prozess: Wir haben uns ausgetauscht und voneinander gelernt. Denn nur so kommen wir als linke Bewegung weiter.

Louise: Ich würde auch sagen, dass es nicht nur einfach war. Aber auch an Punkten, an denen es Konflikte gab oder das Bündnis drohte auseinanderzubrechen, haben Gespräche und die Auseinandersetzung dazu geführt, sich auf Kompromisse einzulassen. In dem Sinne würde ich sagen, dass wir uns näher gekommen sind und uns kennengelernt haben – und durch die Erfahrung auf der Demo noch enger zusammengerückt sind. Wir hatten uns ja vorgenommen, dass die Demo zusammen losgeht und zusammen ankommt. Das hat zwar nicht geklappt – aber wir sind zusammengeblieben, das war gut. 

Die Frage der Demo-Anmeldung ist vielleicht ein solcher Punkt: Wir finden es einerseits wichtig, dass die Demo anschlussfähig ist,  glauben aber auch, dass wir unsere eigene Militanz nicht verlieren dürfen, sodass wir wehrlos werden und nicht darauf vorbereitet sind, uns gegenüber der Eskalation der Bullen zu verteidigen. 

Wichtig ist auch die Erfahrung der 20.000 Menschen, die bei der Demo waren: Die gesehen haben, wie die Bullen die Situation eskaliert haben und was die bürgerliche Presse daraus gemacht hat, nämlich die Pressemitteilung der Bullen abzuschreiben, dass es einen schwarzen Block gegeben habe, der Krawalle gemacht habe. 20.000 Menschen haben gesehen, dass das so nicht war. Diee Menschen in Kreuzberg und Neukölln wissen, dass die Bullen die größte Gang der Stadt sind und dass wir nur gemeinsam gegen sie agieren können. 

Aicha: Bei unserer Runde durch die Läden auf der Sonnenallee in den Tagen nach der Demo hat eine Person wortwörtlich gesagt »Ne, meinem Auto ist nichts passiert, aber wär auch nicht schlimm, ich hab Vollkasko. Aber inshallah nächstes Jahr mehr!« Natürlich gibts auch ein paar Leute, die nichts davon wissen wollten und abgefuckt waren. Aber die wird's immer geben. Allen Anwesenden – ob Demonstrant*innen oder Anwohner*innen – war klar, dass die Eskalation von den Bullen ausging. Bereitwillige Angriffe auf Läden gab es keine. Auch wenn ein paar Sachen durch die Flaschenwürfe kaputt gegangen sind, ist niemand hingegangen und hat mutwillig die Scheiben von einem migrantischen kleinen Gewerbe eingeschlagen. Das war uns sehr wichtig, weil solche Aktionen einfach nicht gehen.

Debattenblog: Fasst doch noch einmal kurz zusammen, was das Konzept der Demo war und welche inhaltlichen Schwerpunkte gesetzt wurden.

Aicha: Als Gesamtbündnis wollten wir hervorheben, dass die Coronakrise die Ungleichheiten unserer Gesellschaft verschärft. Die Herrschenden versuchen uns zu erzählen, dass wir im selben Boot sitzen, während die einen auf Yachten chillen und die anderen reihenweise ihre Jobs verlieren und nicht mehr genug Geld haben um über die Runden zu kommen. Sie sprechen von Solidarität, während die einen im Homeoffice sitzen und wir jeden Tag zur Arbeit gehen müssen. Die Pandemie hat die Klassenverhältnisse also verstärkt. In Berlin gibt es gleichzeitig kaum noch bezahlbaren Wohnraum, sodass immer mehr Leute an den Stadtrand oder in die Wohnungslosigkeit gentrifiziert werden. Das Urteil zum Mietendeckel zeigt, dass dieser Staat nicht im Interesse der Mehrheit der Menschen handelt, sondern im Sinne der Kapitalfraktion entscheidet. Zweitens wollten wir im Bündnis mit migrantischen und internationalistischen Gruppen zeigen, dass Klassenkampf ohne migrantische Menschen in Deutschland nicht möglich ist. Es sind unsere Familien und Geschwister, die im Globalen Süden leben, und den Reichtum produzieren, der hier gelebt wird. 

Oft ist die Realität der linken Szene so weiß und wir werden immer wieder aus Räumen ausgeschlossen. Viele sehen die Tradition des 1. Mais nur aus einer deutschen Perspektive. Dabei hat der 1. Mai eine riesige Bedeutung für antikoloniale, marxistische Kämpfe in unseren Ländern gehabt! Wir haben in den Wochen vor der Demo viel mit Leuten auf der Straße über die Demo gesprochen. Ich war selber überrascht, für wie viele migrantische Menschen der 1. Mai ein Anknüpfungspunkt ist, einerseits weil der Tag etwas ist, mit dem sie sich identifizieren können und der ihre Situation als Arbeiter*innen in der Gesellschaft anspricht. Andererseits waren viele derer, die beispielsweise aus der Türkei nach Deutschland migriert sind, Linke. Der 1. Mai war deshalb Teil ihrer Kämpfe. Es gibt also eine Tradition, an die wir anknüpfen können und die wir als internationalistisches Bündnis aufzeigen wollten.

Louise: Ich würde auch die internationalistische Dimension hervorheben: Dass der Reichtum, den wir hier leben, auf dem Rücken unserer Freund*innen und Genoss*innen im Globalen Süden erwirtschaftet wird, dass die kapitalistische Vergesellschaftung global ist und nicht auf ein Land beschränkt. Am 1. Mai 2018 gab es auch in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung das Fahnenmeer der hier in der BRD verbotenen kurdischen Flaggen – das sind emanzipatorische Anknüpfungspunkte, die uns wichtig sind und die ihren Platz haben sollten – aber natürlich nicht nur am 1. Mai.

Den zweiten Teil des Interviews findest du hier.

Aicha Jamal ist bei Migrantifa Berlin aktiv und Pressesprecherin des revolutionären 1.-Mai-Bündnisses.

Louise ist in der Berliner Krieg und Frieden AG der iL aktiv und war auf einigen Vorbereitungstreffen des revolutionären 1.-Mai-Bündnisses.

Bild: TRIPPIESTEFF