Ihr seid keine Sicherheit


Warum die Entnazifizierung der Sicherheitsbehörden nur durch antifaschistische und antirassistische Allianzen gelingt

Die Berliner Antifa-AG erforscht im Rahmen ihrer Recherchekampagne »EntnazifizierungJetzt« Nazistrukturen in den Sicherheitsbehörden. Ihr erschreckendes, wenn auch wenig überraschendes Ergebnis: Das Problem ist massiv und strukturell. Warum der Kampf für Entnazifizierung nur in Verbindung mit antirassistischen Gruppen gelingen kann, diskutieren sie in diesem Text.

Vor einem Jahr, am 8. Mai 2020, haben wir - das ist die Antifa AG der Interventionistischen Linken in Berlin - die Kampagne »#EntnazifizierungJetzt« gestartet. Die sogenannte »Entnazifizierung« wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges von den Alliierten beschlossen. Genauer hieß das, Menschen, die eng mit dem Nazisystem verbunden waren, aus dem Staatsdienst zu entlassen. Mit einem Schlussgesetz 1951 wurde diese jedoch bereits offiziell für beendet erklärt. Wir haben für unsere Kampagne diesen historischen Begriff gewählt, um aufzuzeigen: Nazis in den Sicherheitsbehörden haben System und eine historische Kontinuität.

In den Monaten vor unserem Kampagnenstart erfuhren wir nahezu täglich von Skandalen um Nazis und rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Diese Beobachtung betraf alle Behörden gleichermaßen: Bundeswehr, Polizei, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienste oder Justiz. Der große öffentliche Aufschrei blieb dennoch aus. Umso dringlicher wollten wir wissen: Wie groß ist das Ausmaß wirklich und handelt es sich um ein historisches, strukturelles Problem?

Entnazifizierung Jetzt – ein Rechercheprojekt

Wir riefen zu einer bundesweiten Crowdrecherche auf, in der Menschen dazu aufgefordert waren, mit uns gemeinsam jede Art rechter Vorkommnisse in den Sicherheitsbehörden zu sammeln. Die Skandale veröffentlichten wir auf unserer Homepage www.entnazifizierungjetzt.de. Die Liste war erschreckend: Netzwerke, die einen faschistischen Putsch vorbereiten und Todeslisten anlegen, Bedrohungen und Gewalt gegen Linke und Geflüchtete, Nazipropaganda im Wochentakt, Munitions- und Waffendiebstahl, illegale Datenabfragen von Polizeicomputern, rechte Staatsanwaltschaften und Gerichte, die Nazis verharmlosen und ihre Taten vertuschen, Geheimdienste, die faschistische Strukturen in den Sicherheitsorganen nicht nur deckeln, sondern teilweise fördern…

Heute, ein Jahr später, können wir sagen: Nazis in den Sicherheitsbehörden sind ein strukturelles Problem, das erschreckende Ausmaße annimmt. Dieser Umstand hat historische Ursachen, die von einem enormem Aufarbeitungsunwillen der Behörden verschleiert werden. Konkret lässt sich festhalten: Eine Entnazifizierung nach 1945 hat nicht stattgefunden. Die alten Nazis wurden lange weiterhin in Führungspositionen beschäftigt, verschwunden waren sie erst, als sie das Zeitliche segneten. Zurückgelassen haben sie autoritäre, menschenfeindliche Strukturen und Einstellungen, die bis heute fortbestehen. Es handelt sich um ein subtiles System, in dem Mitarbeiter*innen, Dienststellen und ganze Einheiten der Sicherheitsbehörden bewusst oder unbewusst zusammenarbeiten, um die Gesellschaft weiter nach rechts zu verschieben. Was wir sehen, sind die Spitzen des rechten Eisbergs. Was dahintersteckt, ist eine rechte Normalität, die den Alltag in den Sicherheitsbehörden prägt und an den wir - so kommt es uns jedenfalls manchmal vor - uns schon irgendwie gewöhnt haben und den wir kaum noch in Frage stellen.

Die rechte und rassistische Normalität der Sicherheitsbehörden äußert sich im täglichen Racial Profiling, in den zahlreichen von Hass und Hetze geprägten Chatgruppen, den rechten Patches auf Polizeiuniformen, in den milden Urteilen von Volksverhetzenden, während friedliche antifaschistische Blockaden verprügelt werden, im soldatischen Männlichkeitsverständnis, in Empathielosigkeit gegenüber Opfern rassistischer Gewalt in Gerichten und Polizeidienststellen, im Hofieren von Nazis und Coronaleugner*innen auf ihren Demos. Die Liste an Beispielen ließe sich ewig fortsetzen.

Antirassistische und antifaschistische Kämpfe verbinden

Nun wissen wir das. Wir wissen aber auch, dass eine Homepage nicht ausreicht, um die Situation zu ändern. Vor allem nicht für jene, die dieser gefährlichen Normalität jeden Tag ausgesetzt sind.

Wir denken daher, dass es wichtig ist, antifaschistische und antirassistische Kämpfe zu verbinden, und als Bündnispartner*innen, insbesondere mit (post-)migrantischen Gruppen, gegen das rechte, strukturelle Problem der Sicherheitsbehörden zu demonstrieren. Am 8. Mai gehen wir gemeinsam auf die Straße, um den Behörden entgegenzuschreien: Ihr seid keine Sicherheit! Vereint sind unter diesem Motto mehrere Themenschwerpunkte und damit Forderungen: Unter anderem die Forderung nach Untersuchungsausschüssen zu rechtem Terror, die Forderung danach, die menschenverachtenden Abschiebepraxen zu stoppen, oder – als Reaktion auf kontinuierliche Polizeigewalt – die Forderung, die gesamte Polizei abzuschaffen.

Die Polizei abschaffen?

Um diese letzte Forderung hat im Bündnis eine Diskussion begonnen, an der wir uns beteiligen möchten. Wir haben uns gefragt, ob die »Abschaffung der Polizei« nicht zu schwer zu vermitteln und damit auch nicht-durchsetzbar ist. Auf der einen Seite hat die Forderung, die auch Community basierte Vorschläge von Sicherheit ohne die Polizei einschließt, durch die Black Lives Matter Bewegung in den USA deutlich an Zustimmung gewonnen und wurde gleichzeitig stark verallgemeinert. Wir denken darüber hinaus jedoch, dass diese Forderung zu kurz greifen könnte, weil die Polizei nur einen Teil der rechten und rassistischen Sicherheitsorgane ausmacht. Wo bleibt die sichtbare Anklage der Justiz oder der Bundeswehr? Wird mit dieser Forderung das Ausmaß des Problems von Nazis in den Sicherheitsbehörden geschmälert?

Gleichzeitig ist uns bewusst: Wir als Antifa-AG der IL sind überwiegend weiße Antifas mit einem Tunnelblick auf Nazis, mit denen wir im besten Fall nicht im Alltag konfrontiert sind. Unsere migrantisierten Genoss*innen und Bündnispartner*innen haben andere Erfahrungen und Notwendigkeiten. Aus der Perspektive der von Rassismus Betroffenen ist die Forderung nach der Auflösung der Polizei die konsequente Antwort auf das tägliche Ausgeliefertsein gegenüber einer potentiell gewaltbereiten Gruppe, die sich deutsche Polizei nennt. Die konsequente Antwort auf Racial Profiling, Polizeigewalt und rassistische Morde auf der Straße und in Polizeigewahrsam. Greift also wiederum der Fokus unserer Kampagne auf Entnazifizierung nicht zu kurz und vernachlässigt den strukturellen Rassismus? Vielleicht bedeutet die abolitionistische – also auf eine Abschaffung der Polizei zielende – Forderung, dass die Polizei – wie alle anderen Sicherheitsbehörden – auch mit Alternativen nicht mehr zu retten ist.

Zur Zeit erleben wir, dass sich antifaschistische und antirassistische Gruppen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen verstärkt mit der Forderung nach der Abschaffung der Polizei beschäftigen. Als Kampagne »#EntnazifizierungJetzt« wollen wir Teil dieser Diskussion sein. Wir sehen die unterschiedlichen Sichtweisen als eine Chance zur produktiven Auseinandersetzung.

Autor*innen: Die Antifa-AG ist Teil der IL Berlin. Zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung, ruft sie unter dem Slogan »Ihr seid keine Sicherheit!« gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Antirassismus zu einer Parade gegen rassistische Polizeigewalt und Nazistrukturen in den Sicherheitsbehörden auf.

Bild: »Ihr seid keine Sicherheit« vom Aktionsbündnis Antirassismus