Geschichte gibt es nicht

Mit unserem Call »Aus linker Geschichte lernen?« wollen wir dazu einladen, sich mit der Vergangenheit linker Kämpfe und Bewegungen auseinanderzusetzen – und mit der Frage, worin deren Aktualität heute bestehen könnte. Aber gibt es sie überhaupt, »die Geschichte», und können wir heute ohne Weiteres aus ihr lernen?

Geschichte gibt es nicht

Die IL fragt in ihrem Call »Aus linker Geschichte lernen?« für ihren Debattenblog nach der imposanten Aufzählung demnächst anstehender historischer Jahrestage zu recht »welche Bedeutung diese – und andere – Wegmarken für die (radikale) Linke heute noch haben«. Nicht ohne halbironisch darauf zu verweisen, dass es ja auch um die »anstehenden oder bereits begonnenen Debatten um die ›richtige‹ historische Deutung der jeweiligen Ereignisse« gehe.

Ich möchte mich hier auf zwei zusammenhängende Fragen konzentrieren: Was ist Geschichte (oder Vergangenheit) und kann aus ihr gelernt werden?

Geschichte ist, wie über Vergangenes gesprochen wird

Die Diskussionen sowohl der kritischen, bewegungsnahen Historiker*innen, wie auch Entwicklungen in der akademischen Zunft zeigen, dass es die »Geschichte« nicht gibt, sondern diese eine Konstruktion, wenn nicht Fiktion darstellt. Dazu trägt mit bei, so der Stand der Wissenschaft, dass es keine objektive Erinnerung gibt, sondern sich Menschen ihre eigene Vergangenheit immer wieder neu zusammensetzen.

So gibt es sicher unzweideutige »Ereignisse«, aber allein wie diese mit Wörtern und Bildern beschrieben werden, ist bereits Teil konfliktbehafteter, gesellschaftlicher Deutungsprozesse. Ich selbst gehe davon aus, dass es zwar Vergangenheit (oder auch: Vergangenheiten) gibt, »Geschichte« aber die permanente Deutung und Produktion von Deutung über diese Vergangenheit(en) ist. Insofern gibt es keine Geschichte, sondern Geschichte ist, wie über die Vergangenheit gesprochen wird. Postmoderne Historiker*innen sprechen seit Jahren davon, dass Geschichte auch Literatur sei und Klio (in der griechischen Mythologie die Muse der Geschichtsschreibung) insofern dichte. Selbst die liberale historische Bildung verwendet hier den Begriff der »Multiperspektivität«. Die radikale Linke kann und darf dahinter nicht zurückfallen.

Aus Überzeugung oder aus pragmatischen Gründen kann sich »die Linke« oder kritische Geschichtsarbeit an historischen Jahrestagen orientieren, da es rund um diese z.B. mehr Medienpräsenz des Themas und daraus resultierend mehr Interesse dafür gibt. Es wird aber auch unabhängig von solchen Konjunkturen historisches Wissen vermittelt und historisches Bewusstsein geschärft. Jahrestage wie die kommenden zu 1917 und 1918, aber auch vergangene, wie z.B. der 80jährige Beginn des sog. »Spanischen Bürgerkrieges« bieten Gelegenheiten sich die Vergangenheit anzueignen.

Aus der Vergangenheit lernen?

Dass die neuen »roten Gruppen», ihr Angebot einfacher Lösungen, ihre (vermeintliche) Klarheit und ihre schlichten Geschichtsbilder heute so attraktiv sind, ist auch ein Resultat der Versäumnisse der undogmatischen Linken. Aber kann aus »der Geschichte« überhaupt gelernt werden? Ich denke, dass die Deutung der Vergangenheit und der Umgang mit Geschichte wichtig sind. Das wäre die ganz klassische, auch von Konservativen geteilte Sichtweise, dass Menschen und auch politische Bewegungen und Strömungen wissen sollten, woher sie kommen – und dieses Wissen ihnen bei der Bewältigung ihres Lebens bzw. ihrer politischen Arbeit nützlich ist. Es gibt aber keinen Automatismus, dass aus der Geschichte gelernt werden kann. Der Lerneffekt entsteht aus der heutigen Debatte darüber, mit welchen Fragen, mit welchem Interesse und Blickwinkel sich der Vergangenheit genähert wird.

Am Beispiel der russischen Revolutionen können viele linke Vorstellungen und Begriffe problematisiert werden, von Partei über Klasse bis zu Revolution. An Beispielen, die sich nicht so aufdrängen, wie etwa der Erste Weltkrieg oder der Spanische Bürgerkrieg können – nicht nur historische – Debatten zu Internationalismus, Europa oder Bündnispolitik nachvollzogen und neu belebt werden. Fragen von Organisation und Organisierung, von Hegemonie und geeigneten Kampfformen, um von programmatischen Fragen gar nicht zu reden, spielen damals und heute eine Rolle.

Linke Historiker*innen haben in den letzten 15 Jahren verschüttete und unerforschte Themen oder Stränge an das Licht einer interessierten Teilöffentlichkeit gebracht. Sie haben eine Unmenge an Publikationen vorgelegt (vgl. die einschlägigen Stichworte auf www.kobib.de, die von Dissertationen bis zu einführenden Open Access-Broschüren reichen. Sie versuchten sich – wenn wir uns auf den Zeitraum ab der Sozialrevolte der beginnenden 1960er Jahre bis heute konzentrieren – an einer Rekonstruktion vergangener Ereignisse, Kämpfe und Bewegungen, von Buchhandlungen über die Jugendzentrumsbewegung bis zu einzelnen Zeitschriften, Organisationen oder Personen. Die liberale und sozialdemokratische Literatur über den Nationalsozialismus, die Shoa oder die historische Arbeiter*innenbewegung ist unüberschaubar und füllt ganze Bibliotheken.

Traditionslinien als Ganze aufgreifen

Aus der Vergangenheit oder den Erfahrungen vergangener Kämpfe und Bewegungen zu lernen, war auch einer der Gründungsimpulse von z.B. der Gruppe FelS. Der im Call zitierte Passus aus dem Zwischenstandspapier (»Alle diese Erfahrungen und Hintergründe fließen in der IL zusammen und gehören zu unserer Geschichte« (…) »wir wählen aus der Vielfalt linker und revolutionärer Geschichte keine Traditionslinie aus und erklären sie für richtig oder verbindlich«) reizt aber zum vehementen Widerspruch:

In meinen Augen hat die IL sehr wohl Säulenheilige, etwa Antonio Gramsci oder auch die Autor*innen des Postoperaismus wie Negri etc. Weit diskussionsbedürftiger ist die Vorstellung, die auch in der Partei DIE LINKE verbreitet ist, es könnte sich aus verschiedenen Traditionen heute das passende, oder eben nur das passende herausgepickt werden. Da stellt sich zumindest mir die Frage, ob das geht. Es muss womöglich das ganze Erbe einer Tradition angenommen werden: Wer sich mit »der Arbeiterbewegung« in eine Linie stellt, muss auch deren negative Seiten wie Fortschrittsoptimismus, ökologische Blindheit etc. zumindest reflektieren, wer sich mit der Oktoberrevolution beschäftigt, darf von den erschütternden Verbrechen des Stalinismus nicht schweigen und wer sich mit der feministischen oder der alternativen Bewegung identifiziert, kann über deren Bedeutung für die Herausbildung des Neoliberalismus oder bei der Gentrifizierung urbaner Quartiere nicht hinweggehen.

Aber gerade diese Debatten um die Fragen von heute an die Vergangenheit machen historisches Lernen oder allgemeiner die Beschäftigung mit Geschichte ja erst interessant.

Zur Vertiefung

AK Loukanikos: History is unwritten. Die Loukanikos-Debatte über linke Geschichtspolitik in ak, 2013.

AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Münster 2015.

Sergio Bologna: Acht Thesen zu einer militanten Geschichtsschreibung, 2005,[zuerst Winter 1977/78], Vorwort zur Wiederveröffentlichung.

Robert Foltin: Geschichte ist, wenn darüber gesprochen wird, Soziale Bewegungen und Archiv, 2011.

Thomas Seibert: Soziale Bewegung und Erinnerung, 2006.

www.kobib.de, Literaturdatenbank zur kritischen Geschichte

Bernd Hüttner, geboren 1966, 1999 Gründer des Archiv der sozialen Bewegungen Bremen, seit 2007 Mitarbeiter der RLS, seit 2012 dort Referent für Zeitgeschichte. Lebt in Bremen. Viele Texte von Bernd sind online.

Bild: Darstellung der Muse Klio in einem Mosaik.