Frauen im Herbst `89


Ein Interview mit Judith Braband [J] und Renate Hürtgen [R]. Teil 1

Kann von einem revolutionären Moment gesprochen werden, wenn wir auf den rebellischen Herbst 1989 blicken? Auf jedenfall ist es an der Zeit sich dieser linken Osterfahrungen zwischen Stalinismuskritik und antiautoritären Sozialismusvorstellungen zu stellen, um für die Zukunft zu lernen.

2019 heißt 30 Jahre Herbst 89, heißt 30 Jahre sind vergangen, nachdem die Macht im Osten auf der Straße lag und wäre sie ergriffen worden, wäre es womöglich nicht zu einer erneuten Wiederwahl Helmut Kohls in der BRD gekommen. Heißt aber auch 30 Jahre zu viel, in denen sich (linke) Westler*innen nicht für die Erfahrungen eines erlebten Systemzusammenbruchs und die Opposition interessierten. Nach 30 Jahren Herbst `89 ist es an der Zeit für einen generationenübergreifenden Austausch zwischen Ost-West und mit den Freund*innen, die jenseits dessen geboren sind und hier leben. "Für ein offenes Land mit freien Menschen“ - schallte es einst aus Leipzig und gilt heute mehr noch als damals: „Für eine offene Welt, ohne Grenzen, mit Brücken statt Mauern und mit freien Menschen“. Warum ist diese Revolution gescheitert? Das folgende Interview zeigt aufrichtig die Kontroversen, die wohl stets Momente von Umbrüchen begleiten. Wie sind die Frauenperspektiven auf diese Zeit und die DDR-Opposition, welche Bedeutung hatte die Emanzipation vom Leistungsprinzip und wie war das Verhältnis zu den Westfrauen?

Judith Braband [J] und Renate Hürtgen [R] im Gespräch mit Anna Stiede. Teil 1

Was bedeutet für euch eigentlich der Herbst `89?

J: Das ist nicht dein Ernst?

Vielleicht in so ein paar Stichworten?

R: Naja wenn man so ganz politisch unkorrekt einfach mal sagt: großartige Stimmung, Aufbruch und das Gefühl, da passiert etwas. Ein Gefühl, dass alle Leute sich auf einmal anschauen in der U-Bahn, vor allem wenn sie gemeinsam zur Demo fahren, Aufregung was man jetzt machen könnte, aus der Opposition heraus. Und persönlich: ich bin Wissenschaftlerin, aber ich hatte nie etwas veröffentlicht, ich habe nie vor irgendwelchen Menschen gesprochen, und dann so ein Erlebnis auf einmal plötzlich auf `ne Bühne gehen zu können und zu sagen „Liebe Berlinerinnen und Berliner hier ist was ganz wichtiges passiert und ich lade euch ein...“ Das war ein durch und durch positives Gefühl und zwar nicht nur am Anfang. Das muss ich dazu sagen, dieses Gefühl, dass wirklich etwas wichtiges hier passiert, und dass man was machen muss, das hat sich sehr lange gehalten eigentlich bis in den Westen hinein.

J: Da kann ich ganz gut anknüpfen mit dem Reden: ich habe auch nie Reden gehalten und plötzlich war es nötig und ich konnte es auch. Ich war auch voller Zuversicht. Später kam dann die Wut hinzu und dann war ich glaub ich immer noch besser beim Reden. Aber am Anfang war es so, dass ich dachte: Wow jetzt passiert endlich wofür wir eigentlich schon zehn Jahre kämpfen oder länger. Und worüber wir immer nachgedacht haben und das hat so eine unglaubliche Euphorie hervorgerufen. Und auch, dass wir im Grunde nicht wussten was wir zuerst machen sollten, ne? Es gab 100.000 Möglichkeiten und du musstest alles irgendwie mit anschieben. Politisch war es einfach so, dass ich dachte aus diesem Land das zu machen, was wir uns immer gedacht hatten. Das war: Basisdemokratie praktizieren, Gleichstellung verwirklichen und so was alles.

Machte es für euch einen Unterschied als Frauen in der Oppositionsbewegung aktiv gewesen zu sein?

R: Unterschied wozu?

Unterschied zu den Männern...

R: Du meinst ob ich die besondere Rolle der Frau reflektiert habe? Ich überhaupt nicht. Was mir allerdings aufgefallen ist, dass die Frauen in der Opposition keine besondere, wichtige Rolle und Stellung hatten. Zum Beispiel bei uns im Friedrichsfelder Friedenskreis da wurde an uns herangetragen, ob wir nicht mal so ein paar Daten zusammentragen können. Wir haben dann so Hilfsdienste leisten sollen. Aber die großen Reden und die wirklichen Informationen, die lagen da bei den Männern. Und insofern hätte es mir schon auffallen können, dass da plötzlich – wenn man in so eine wichtige Rolle kam – oder so. Ist es aber nicht.

J: Mir ist es relativ früh aufgefallen, da ich seit Ende der 1970er mit dieser Problematik beschäftigt bin und fand, dass wir dran arbeiten müssen, dass wir gleicher werden. Ein AHA-Erlebnis gab es für mich im November 89 bei der Gründung der Initiative Vereinigte Linken [VL]. Das war einschneidend. Die Diskussion war: ist es tatsächlich so, dass wenn die Arbeitenden Menschen befreit sind - die Frauen auch befreit sind? Das was die Linke irgendwie immer so vor sich her getragen hat, die linken Männer sag` ich mal. Das war auf der Gründungsversammlung der VL tatsächlich ein Thema. Die Lila Offensive ist darauf hin ausgezogen. Die wären Mitglied geworden in der VL.

Wer ist die Lila Offensive gewesen?

J: Die Lila Offensive war ein Zusammenschluss von linken Frauen, mit Kathrin Rohnstock als einer wesentlichen Vertreterin.

R: Die hat sich im November gegründet. Also relativ spät.

J: Also was heißt spät. Die Lila Offensive? Ne, die hat ja schon im November diesen Brief an die VL geschrieben – also muss es sie ja schon vorher gegeben haben.

R: Ich meine es ist keine Gruppe gewesen, die zu DDR Zeiten vorher schon existierte.

J: Ich weiß nicht, ob‘s die nicht schon vorher gab. Das ist ja bei vielen Sachen wirklich schwierig da ein genaues Gründungsdatum zu sagen, weil die offizielle Geschichte etwas anderes ist, als wenn Leute sich zusammenfinden und anfangen miteinander Politik zu machen. Jedenfalls wurde dieses Thema auf dem VL-Gründungskongress kontrovers diskutiert. Es war nicht möglich eine Mehrheit zu finden, es war eher umgekehrt.

Die DDR hat ja an vielen Stellen eine formale Gleichberechtigung bedeutet gerade im Vergleich zur BRD. Es gab Frauen-Weiterbildungspläne, es gab im Vergleich zum Westen ganz viele hochqualifizierte Frauen auch im Ingenieursbereich. Warum kam es denn eigentlich schon seit Beginn der 80er Jahren zur Gründung von Frauengruppen?

J: Weil Gleichberechtigung noch lange nicht heißt wirklich gleichgestellt zu sein – das wissen wir doch. Natürlich waren in den DDR Chefetagen ein paar mehr Frauen als heute oder damals im Westen. Aber insgesamt war sie nach wie vor patriarchalisch und kleinbürgerlich. Diese Gleichberechtigungsparagraphen sind eine gute Grundlage und das wussten wir auch – aber du musst es auch mit Leben füllen. Wenn die Frauen die sogenannten klassischen Frauenberufe, die immer schlechter bezahlt wurden haben und übrigens die einzigen Berufe waren, die auch weiblich konnotiert waren.

Auch zu DDR Zeiten wurden die schlechter bezahlt?

J: Ja

Ah ok?

J: Das war Leichtindustrie, oder Medizin, Pflege usw.

R: Das lag an der Lohngruppe, die hatten eine schlechtere Lohngruppe. Du hattest in der DDR auch 25% Unterschied gehabt zwischen Männern und Frauen, genau dasselbe. Was aber in der Regel nicht daran lag, dass Männer und Frauenarbeitsplätze, die gleich waren, ungleich bezahlt wurden, das gab`s sicher auch, aber das war die Ausnahme. Sondern das lag daran, dass es ‚Mädchenberufe‘ gab und das vielmehr Leitungspersonal von Männern geführt war.

Schauen wir wieder auf 89: Wie kam es zu der Gründung des unabhängigen Frauenverbandes Anfang Dezember `89 in der Berliner Volksbühne?

J: Es gab überall in der DDR verschiedene Frauengruppen. Und die wollten ein Netzwerk bilden oder ein gemeinsamen Dachverband, um schlagkräftiger zu sein, um mehr Gehör zu finden. „Wir wollen vertreten sein, wir sind die Hälfte der Gesellschaft und wir wollen uns jetzt selbst vertreten.“ Eine kleines EWA Frauenzentrum, das hat einfach nicht so eine große Stimme wie ein Frauenverband in dem 1000 Mitglieder sind. Und der Frauenverband den es gab: der Demokratischer Frauenbund Deutschlands [DFD], der war diskreditiert – der war Sprachrohr der Partei.

Da ging doch auch der Slogan hervor: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!“

J: Genau Ina Merkel hatte das in ihrem Gründungsaufruf gesagt.

R: Zu den Frauengruppen hab ich eine etwas andere Einschätzung. Ich glaube, dass die Frauen, die es vor 89 gab, dass die am aller-aller wenigsten mit der Thematik Gleichstellung oder gar Feministisch zu tun hatten. Es ging um Friedensfragen, ökologische Fragen, sodass denke ich nicht der Eindruck entstehen darf, dass das Thema Gleichberechtigung wirklich `nen großen Stellenwert in der Opposition hatte. Dann gab es eine Gruppe, die sich mit Gewalt in der Ehe oder so befasste. Aber das war marginal. Was ich nur sagen will Judith ist, dass wer das heute liest oder hört, der Eindruck entsteht, dass da eine große lebendige Frauenbewegung existiert hätte. In meinen Oppositionskreisen ist das nie thematisiert wurden und das war nie Thema und ich denke, dass man das einfach mit signalisieren muss.

J: In meinen Kreisen war es schon Thema.

Festhalten kann man ja schon, dass sich Frauen in der Oppositionsbewegung ermächtigt haben – angefangen haben reden zu halten, sich auf Bühnen zu stellen...

R: Das war aber alles in der Kirche muss man sagen...

J: Warte mal eben; ich möchte noch etwas zum vorherigen Punkt sagen, ich glaube nicht Renate, dass es richtig ist zu sagen, es ging nicht um Frauenthemen...

R. Gleichberechtigung hab ich gesagt.

J: Frauen für den Frieden hatten so viele Möglichkeiten in anderen Gruppen mitzuarbeiten. Warum sollten sie `ne Frauengruppe für den Frieden gründen? Weil Frauen einen besonderen Grund hatten, weil sie einen besonderen Zugang zu bestimmten Fragen hatten und das hat etwas mit Gleichstellung – nicht Gleichberechtigung zu tun.

R: Ich habe gesagt, es wurde nicht darüber geredet und reflektiert. Es war nicht das eigene Selbstverständnis und schon gar nicht feministisch. Ich wollte nur das Bild richtig rücken.

J: Wir haben da einen kleinen Dissens – wir haben die Sachen auch einfach anders erlebt.

R: Ich glaube auch gar nicht, dass es so unterschiedlich war. Es gibt da so ein paar Leute, die wir gemeinsam kennen. Die Haltung, die ich jetzt habe ist im gemeinsamen Gespräch entstanden. Da haben wir festgestellt: es ist nicht darüber gesprochen wurden, dass wir alle Gewalterfahrungen hatten oder jedenfalls nicht in den Zusammenhängen, in denen wir waren oder wenn da was stattfand dann haben die Frauen da im Friedrichsfelder Friedenskreis in der Küche gestanden, nicht ein Mann. Der Rückblick auf die Opposition würde schon zeigen, dass es eine erstaunliche patriarchale war. Trotz `68er – Impetus. Ich will das auch gar nicht moralisieren, dieses Konspirative und so, das verleitet dazu, dass sich die Männer da so konspirativ ihre Strukturen bilden und die Frauen dürfen dann Zuarbeit leisten. Weisst du Judith ich will einfach, wenn wir schon mal die Gelegenheit haben darauf aufmerksam machen, das vieles nicht thematisiert wurde, weißt du? Was war das eigentlich für eine Opposition die eigentlich so links war aber auch patriarchalisch und wo die Frauen das auch nicht thematisiert haben – zumindest nicht grundsätzlich. Sie haben über Bildung und Kindererziehung diskutiert.

J: Da hast du völlig recht.

R: Das waren sehr wenige auch im Kontext der gesamten Opposition.

J: Ich will nur sagen, dass der Erfahrungshintergrund von jedem Menschen ein anderer ist. Ich hab wie gesagt 79/80 mich damit beschäftigt oder seit `78 und verstärkt Anfang der 80er Jahre. Die Politik von Alexandra Kollontai war zum Beispiel wichtiges Thema, aber das ist bei uns unterschiedlich .

R: Genau.

J: Du hast eben was anderes gemacht.

R: Ich habe mich auch damit beschäftigt. Ich habe alternativ gelebt, aber um mich herum nicht. Um mich herum war Puritanismus. Ich würde mir wünschen, dass darüber auch mal eine Diskussion stattfindet. Das ist mein Anliegen, warum ich gerne auch selbstkritisch bin, weil ich glaube das hilft auch den jungen Frauen heute viel mehr.

Ich finde das total gut, dass ihr‘s benennt. Es war ein Aufbruch Moment 89 und trotzdem war die Oppositionsbewegung auch patriarchal. Das wird auch daran deutlich, dass zum Beispiel schon allein nicht alle an der Oppositionsbewegung gleichermaßen beteiligt sein konnten. Wer ein kleines Kind hatte, oder Sorgeverpflichtungen gegenüber anderen Menschen, konnte sich weitaus weniger an konspirativen Strukturen beteiligen.

R: Das hat bestimmt auch eine Rolle gespielt.

**Der zweite Teil des erscheint in den kommenden Wochen. Eine Kurzfassung des Interviews erschien in der JungleWorld 2018/51.

Renate Hürtgen war 1989 maßgeblich beim Aufbau basisdemokratischer Strukturen in Ostbetrieben beteiligt und Mitbegründerin der Initiative für Unabhängigen Gewerkschaften (IUG). Heiner Müller verlas den von ihr verfassten Aufruf während der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989.

Judith Braband war seit Ende der 1970er Jahre DDR-Dissidentin und von politischer Repression verfolgt. 1989 wurde sie Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und der Initiative Vereinigten Linke (VL), deren Vertreterin am Zentralen Runden Tisch sie war.

Das Interview führte Anna Stiede Anfang Dezember 2018 in Berlin. Sie ist mit Blick auf das politisch hochbrisante Jahr 2019 gemeinsam mit Renate Hürtgen und Judith Braband aktiv im Vorbereitungskreis „30 Jahre Herbst `89 – Nennen wir es Revolution!?

Bild: Christine Rietzke aus der Zeitschrift Zaunreiterin: "Die Zeitschrift ‚Zaunreiterin‘ war die erste unabhängige Frauenzeitschrift in der DDR. Gegründet in Leipzig wollten die Herausgeberinnen mit dem Blatt eine feministische Gegenöffentlichkeit schaffen, die Frauen mit ihren Belangen und Erfahrungen Raum gab."

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