»Die Erfahrung, ein Gesellschaftssystem kippen zu können«


Ein Gespräch zur Revolution von 1989 und zur Abwicklung der DDR

Unsere Genoss*innen Olga und Erwin sind beide in der DDR aufgewachsen, genauer: in Rostock. Im Gespräch schildern sie, wie sie die Ereignisse 1989/90, die zum Ende des Staatssozialismus und zur kapitalistischen Übernahme Ostdeutschlands führten, erlebt haben. Von wem welche Antworten stammen, ist dabei nicht so wichtig.

Ich war 1989 noch relativ jung, ich bin in dem Jahr 14 geworden. Damals war ich sehr schockiert von den Ereignissen, fühlte mich gewissermaßen überrollt. Ich hatte zu keiner Zeit ein euphorisches Gefühl im Sinne von »jetzt geht die Mauer auf, jetzt bricht die DDR zusammen«. Es war eher das Gegenteil, das Gefühl etwas bewahren zu müssen, das Gefühl überrannt zu werden, das Gefühl, dass der Kapitalismus kommt … Das war glaube ich – in der Rückschau – ein Überbleibsel einer »guten ideologischen politischen Bildung« in der DDR (lacht), oder sagen wir Indoktrination. Politisch in der Rückschau fällt die Einschätzung natürlich anders aus.

Die ersten Demonstrationen habe ich nicht mitgekriegt, da war ich noch zu jung. Man kann »1989« für meine Altersgruppe gut einteilen in die Zeit vor und die nach den Sommerferien: Die Hälfte der Schüler*innen war weg, die Hälfte der Lehrer*innen war weg … Das war wirklich der Anfang eines Umbruchs, ein Aufbruch, eine Öffnung, sowohl auf der großen politischen Ebene als auch in den kleinen Alltagsstrukturen. Bei mir war es vor allem in der Schule, wo sich auf einmal Räume öffneten, wo man auf einmal reden konnte, wo auf einmal Sachen nicht mehr funktioniert haben. Es war ja vorher alles reglementiert, und jede*r hatte seine Funktion und Rolle. Das alles wurde nun brüchig … und spannend.

Ich war schon etwas älter, 16 Jahre, und komme aus einem anderen Elternhaus. Meine Eltern waren zwar nicht in der Opposition, aber sie hatten ein kritisches Verhältnis zum Staat. Es gab zwei Ereignisse, die bereits vor dem Sommer zentral waren: zum einen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989, das eine klare Ansage war, wie man mit Protesten umgeht. Egon Krenz (SED) hatte die chinesische Regierung damals sogar dafür gelobt, wie sie vorgegangen ist. Und im Mai fanden die Kommunalwahlen in der DDR statt, die das erste Mal von der Opposition »überwacht« wurden und wo zum ersten Mal Wahlbetrug aufgedeckt wurde. Bei der Demo zum Gedenken an Rosa Luxemburg war man mit einem Transparent »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden« aufgetreten.

Die Opposition wurde also öffentlich immer sichtbarer – auch wenn man so etwas nur über das Westfernsehen mitbekommen hat. Es entstand dann der Eindruck: Da passiert etwas, und drohend im Raum steht irgendwie diese »chinesische Lösung«. Und als im Sommer die massenhafte Fluchtbewegung eingesetzt hat, da kann ich mich noch genau daran erinnern, wie mein Vater bei uns zu Hause darüber geredet hat, dass sie mich jetzt in den Westen rüberschicken müssten. Und ich saß damals auf der Couch, war gar nicht gefragt worden und meinte nur: »Ich will aber nicht in den Westen!« Ich wollte nicht in den Kapitalismus …

Die ersten Demonstrationen haben woanders stattgefunden, nicht in Rostock. Damals hieß es immer: »der rote Norden«. Rostock hat also schon länger gebraucht als Leipzig oder Berlin, bis es auch bei uns losging.

Am 7. Oktober war dann der 40. Jahrestag der Gründung der DDR, und Gorbatschow kam nach Berlin. Es war klar, dass dort irgendwas passieren würde. Ich bin mit meiner Mutter hingefahren. In einer Gaststätte haben wir gefragt, ob noch irgendwo was geht, und die Bedienung hat gesagt: »Klar, 17 Uhr, Weltzeituhr!« Dann sind wir da hingegangen, und dort waren total viele Menschen, die diskutiert haben. Es wurden immer mehr, und die setzten sich dann in Bewegung. In der DDR hatte man ja schon so Manifestationen mitbekommen, aber das war etwas vollkommen anderes. Mit ein paar tausend Leuten sind wir zum Palast der Republik gezogen, es gab Parolen wie »Neues Forum zulassen!« und »Gorbi, hilf uns!« Es war ein unglaublich geiles Gefühl, die erste selbstorganisierte Demo, auf der ich war!

Etwa eine Woche später bin ich mit einem Freund nach Leipzig gefahren, dort war wieder eine große Demo mit Zehntausenden, das war noch mal der absolute Hammer. Wieder zurück in Rostock, ging es dann auch bei uns los. Auf einmal passierte total viel. Man konnte sich überall eintragen und irgendwo mitmachen. Mein Vater war bei der Stasi-Besetzung dabei. Man ist in die Marienkirche gegangen, wo es Andachten gab und im Anschluss die Demos. Es war total aufregend, man hat auf einmal ganz neue Sachen gemacht.

Das Tolle an den Entwicklungen 1989/90 war dieser Spielraum an Möglichkeiten, der sich auf einmal aufgetan hat. Dieser totale Wegfall der Erwachsenenwelt und von staatlichen Strukturen. Ich bin damals im Frühjahr 1990 von zu Hause weggelaufen, oder ausgezogen – wie immer man es nennen will – und habe dann alles gehabt, was ich brauchte. Es gab keine Repressionsorgane, die mich verfolgten, keine Schule, die irgendwas gemeldet hat, und kein Jugendamt, das irgendwas wollte. Und gleichzeitig war es kein Problem, an eine Wohnung zu kommen, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals Geld gebraucht habe in dieser Zeit. Es gab immer irgendwo etwas zu essen, es gab Räume, es gab Leute, es bildeten sich total schnell soziale Strukturen heraus. Das hat mich damals stark geprägt – genauso wie mein antifaschistisches und internationalistisches Verständnis zuvor durch die DDR geprägt worden war, durch die Schulbildung in der DDR. Es war klar, dass ich »in die linke Szene abrutsche«, dass ich dort mein Zuhause finde.

Was mir noch in Erinnerung geblieben ist, ist eine Szene in einer besetzten Wohnung, wo wir zu siebt diskutierten. Ich war damals für den Linken Schülerbund dort, zusammen mit so Lehramtsstudierenden. Es wurde Rotwein getrunken und über ein neues Bildungskonzept für die DDR geredet, wir haben so herumgesponnen. Ich hatte das Gefühl, es hat total Relevanz, was wir uns da ausdenken! Das war ein Gefühl, das hatte ich danach nie wieder. Es gab tatsächlich die Vorstellung, man schafft eine Gesellschaft neu. Das war ein Gefühl, das mich ziemlich lange getragen hat. Vor der Wende hörte ich Punkmusik und beschäftigte mich mit Anarchismus, versuchte an Bücher heranzukommen. Irgendwoher bekam ich einen Text von Erich Mühsam, »Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat«, auf Schreibmaschine abgetippt. Ich saß dann nächtelang wach und habe es mit meiner eigenen Schreibmaschine nochmal abgetippt … Totaler Irrsinn, oder?! Der Linke Schülerbund wurde in der Wendezeit von Leuten gegründet, die aus kirchlichen Kreisen kamen und in der Jungen Gemeinde aktiv gewesen waren. Die Gruppe gab es aber nicht lange, vielleicht ein Jahr oder eineinhalb Jahre. Und dann gab es das erste öffentlich besetzte Haus in der Stadt. Da hingen Zettel von der Vereinigten Linken (VL), die machten dort eine Kneipe. Die VL war in Rostock aber eher so ein Zellkern, aus dem heraus dann ganz viele Sachen entstanden sind.

In Rostock gab es bereits vorher viele stille Besetzungen, sogenanntes »Schwarzwohnen« oder »Erhaltenswohnen«. In der Innenstadt stand ja total viel Altbau leer. Die Leute sind dort einfach eingezogen, gingen dann zum kommunalen Wohnungsamt und anschließend wurde das Ganze legalisiert oder auch nicht. Das waren Tausende, aber es war nicht politisch organisiert. Die politisch motivierten Hausbesetzungen fingen 1989 an. Die »offiziell« erste dieser Besetzungen in Rostock, die »Tante Trude«, ging im November von Leuten von der VL aus. Die sind nach Hamburg gefahren, in die Hafenstraße, und haben gesagt: »Ey, wir sind Hausbesetzer aus Rostock, redet mit uns!« Die Rostocker*innen kamen dann zurück nach Hause und haben den ganzen Autonomen-Sprech eingeführt. Es gab auf einmal immer »Plenum« … In der Hafenstraße gab es ja die »Tante Hermine«, bei uns hieß es dann »Tante Trude«. Ich hatte keine Ahnung, was ein Plenum ist! Ich kannte das nur aus der Zeitung: »das 12. Plenum des ZK der SED tagt«. Im besetzten Haus wurde dann ein Stadtteilzentrum eingerichtet, das faktisch aber eher eine Punker- und Autonomenkneipe war. In der Folge haben dann immer mehr Leute »politisch« Häuser besetzt.

Ja, das war ein wichtiger Punkt, der in solchen Städten ein bedeutsames Gegengewicht zur stärker werdenden Nazi-Szene darstellte. Das Besondere an dieser Welle von Besetzungen – zumindest in Rostock – war aber das Zusammenspiel zwischen ganz normalen »Erhaltenswohner*innen« und politisch motivierten Besetzer*innen. Wir haben es geschafft, mit beiden einen gemeinsamen politischen Ausdruck zu schaffen. Rostock hat ja bis heute eine große linke Szene; schon ab Anfang der 1990er Jahre gab es ein alternatives Zentrum, das JAZ. Wir hatten das Glück nicht so eine krasse Nazi-Area zu sein, wie es in anderen Gegenden der Fall war. Es gab derbe Probleme mit Nazis, na klar, wie überall im Osten, aber es gab auch eine schlagkräftige Antifa. »Lichtenhagen« war dann später noch mal ein Katalysator, da hat man gemerkt: Die Nazis dachten, sie hätten »die Ausländer« verjagt und machen nun die linke Szene klar. Da gab es wöchentlich größere Überfälle. Es ist nicht übertrieben, von »Straßenkampf« zu reden. Ich hatte immer etwas dabei. Es waren tagtägliche Auseinandersetzungen, auf dem Weg zur Schule oder wenn man dann doch mal ins Neubaugebiet gefahren ist, um die Eltern zu besuchen. In der Innenstadt beherrschten wir dann die Straße, während die Nazis in den Plattenbaugebieten waren.

Mit der Maueröffnung kippte es dann in Richtung Nationalismus, mit Parolen wie »Deutschland einig Vaterland« und dem Wahlbündnis »Allianz für Deutschland«, das für die Wiedervereinigung eintrat und bei den letzten Volkskammerwahlen 48 Prozent der Stimmen erhielt – wobei ich fand, dass es in Rostock nicht so krass war wie beispielsweise in Dresden. Ich weiß noch, es gab eine Kundgebung mit dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am Hafen, und die eine Hälfte waren Kohl-Anhänger*innen und die andere Hälfte Gegendemonstrant*innen. Es war also ein ganz anderes Kräfteverhältnis als etwa in Sachsen, wo es zum Teil das Gefühl gab »der Mob übernimmt alles« … Als dann die Wahlen waren, habe ich eine riesige DDR-Fahne aus dem Fenster gehängt. Das war eher eine Trotzreaktion.

So ein Gefühl »alles ist vorbei, unsere Chance ist verpasst« gab es zwar schon, aber das, was man an neuem Leben hatte, war ja dadurch nicht weg. Die staatlichen Autoritäten hatten immer noch nichts zu sagen, du konntest machen, was du wolltest, es war alles noch in Bewegung. Und persönlich hatte ich auch kein Elternhaus, das sofort in eine Existenzangst gestürzt wurde – also, als die Betriebe abgewickelt worden sind und für viele Leute auf einmal ganz andere Sachen eine Rolle spielten, Arbeitslosigkeit usw. Das war ja überall um einen herum der Fall. In Rostock spielten die Werften eine große Rolle. Die wurden dann auch besetzt, es gab Streiks und große Demos. Wenn andere von den Geschehnissen erzählen, fällt mir auf, was es bedeutete, wenn auf einmal der Vater und die Mutter tagsüber zu Hause waren, deren ganzes Lebenswerk zerstört worden ist, und dann die Depressionen anfingen, Alkoholismus, Gewalt und solche Sachen – alles Erscheinungen einer sozialen Degradierung, die mit der Übernahme durch den Kapitalismus einhergingen. Vor der Vereinzelung hat uns aber auch unser Umfeld geschützt, eine linke Szene, die damals entstanden ist.

Ich glaube aber auch, dass das, was wir und Angehörige unserer Generation als Aufbruch und Eröffnung neuer Spielräume beschreiben, für Leute, die älter waren und die bereits vor 1989 stärker in oppositionellen Kreisen aktiv gewesen waren, für die war die Wiedervereinigung schon das Ende. Man hatte es gefühlt in der Hand, und dann wurde einem die Möglichkeit, die ostdeutsche Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu verändern, genommen.

Was ich für die Beschäftigung mit dem Thema heute wichtig finde, ist es, einerseits dieser Erzählung etwas entgegenzusetzen, die die Ereignisse darauf reduziert, dass es den Menschen letztlich um die Wiedervereinigung und bessere Lebensstandards gegangen sei. Dabei haben alle gesagt, und das war bis in den Dezember 1989 hinein klar, bis in die Ost-CDU hinein: Die DDR bleibt eigenständig, wir halten am Sozialismus fest, wir wollen aber einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz und mehr Freiheiten! Und erst dann fing die ganze Propaganda an, dass das alles gar nicht geht, die DDR nicht lebensfähig sei usw. Andererseits müssen wir aber auch einer linken Geschichtsschreibung etwas entgegensetzen, die davon ausgeht, dass 1989/90 das dunkelste Kapitel der Nachkriegsgeschichte begann und es nur Pogrome, Nazis und nationalistischen Taumel gegeben habe. Dabei wird übersehen, welches Potenzial in dem Ganzen steckte und wie viele Ideen. Das sind Sachen, auf die man sich beziehen sollte – vor allem auf diese Erfahrung, ein Gesellschaftssystem kippen zu können. Das ist eine Erfahrung, die prägt.

Was völlig fehlt in der linken Erzählung und weshalb es wichtig ist, dass wir es aus einer radikalen Perspektive thematisieren, sind diese unzähligen kleinen Möglichkeiten, die es damals gab. Wenn man sich beispielsweise anschaut, was die Arbeiter*innenschaft damals in den Betrieben gemacht hat! Alle sagen immer, »die Ossis sind demokratiefeindlich«, aber diese Ossis haben die Basisdemokratie gelebt, flächendeckend für einen gewissen Zeitraum, in dem es die Möglichkeit dazu gab. Jedes Schwarze Brett war auf einmal ein Diskursraum, in jeder Kantine, in den Schulen, in den Kirchen und in den Betrieben wurde diskutiert, geplant und gestritten. Das gehörte dazu. Es gab Betriebe, die aufgrund der krassen Abwicklung, erst mit der Währungsunion, dann dem Einigungsvertrag und der Treuhand, gesagt haben: »Okay, wir versuchen es alleine!« Diese Experimente mit selbstverwalteten Betrieben waren zu der Zeit ein ganz organischer Prozess.

Dass es diese und andere Erfahrungen nicht einmal in ein linkes gesamtdeutsches Bewusstsein geschafft haben, ist eine vertane Chance. Und was für die Linke gilt, gilt erst recht für die westdeutsche Gesellschaft. Die Erfahrungen der 17 Millionen DDR-Bürger*innen sind völlig andere als die der Westdeutschen. Und trotzdem spielen sie in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Geschichte keine Rolle. Sie kommen einfach nicht vor. Und das macht etwas mit Menschen, wenn ihre ganze Lebensweise, ihre ganzen Erfahrungen einfach weggewischt werden.

Da hast Du recht. Und trotz allem: 1989/90 ist so eine Blaupause dafür, wie gesellschaftliche Veränderung stattfinden kann, auch in Zukunft – eine Erfahrung, aus der man viel lernen kann.

Olga ist in der Interventionistischen Linken Hamburg, Erwin in der Interventionistischen Linken Berlin aktiv.

Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe von »iL Giornale«, der Zeitung der Interventionistischen Linken Hamburg erschienen. Die Ausgabe mit Schwerpunkt feministische Kämpfe findest Du ab sofort im Schanzenbuchladen, im Infoladen Wilhelmsburg und im Centro Sociale in Hamburg.

Bild: Des amarres à Rostock, von Paul Jeannin.