von Linke Geschichte tags Bewegung Geschichte Feminismus Sozialismus Datum Jan 2019
zuKann von einem revolutionären Moment gesprochen werden, wenn wir auf den rebellischen Herbst 1989 blicken? Auf jedenfall ist es an der Zeit sich dieser linken Osterfahrungen zwischen Stalinismuskritik und antiautoritären Sozialismusvorstellungen zu stellen, um für die Zukunft zu lernen.Zweiter Teil des Interviews von Anna Stiede mit Judith Braband und Renate Hürtgen.
2019 heißt 30 Jahre Herbst 89, heißt 30 Jahre sind vergangen, nachdem die Macht im Osten auf der Straße lag und wäre sie ergriffen worden, wäre es womöglich nicht zu einer erneuten Wiederwahl Helmut Kohls in der BRD gekommen. Heißt aber auch 30 Jahre zu viel, in denen sich (linke) Westler*innen nicht für die Erfahrungen eines erlebten Systemzusammenbruchs und die Opposition interessierten. Nach 30 Jahren Herbst `89 ist es an der Zeit für einen generationenübergreifenden Austausch zwischen Ost-West und mit den Freund*innen, die jenseits dessen geboren sind und hier leben. "Für ein offenes Land mit freien Menschen“ - schallte es einst aus Leipzig und gilt heute mehr noch als damals: „Für eine offene Welt, ohne Grenzen, mit Brücken statt Mauern und mit freien Menschen“. Warum ist diese Revolution gescheitert? Das folgende Interview zeigt aufrichtig die Kontroversen, die wohl stets Momente von Umbrüchen begleiten. Wie sind die Frauenperspektiven auf diese Zeit und die DDR-Opposition, welche Bedeutung hatte die Emanzipation vom Leistungsprinzip und wie war das Verhältnis zu den Westfrauen?
Judith Braband [J] und Renate Hürtgen [R] im Gespräch mit Anna Stiede. Teil 2
Manchmal scheinen Frauen aus dem Osten „unabhängiger“ als Frauen aus dem Westen. Gibt es da irgendwie so was, was einer die DDR mitgegeben hat?
J: Ja Klar, ich finde schon! Das ist der Vorteil der Gesetzte, der verordneten Gleichberechtigung. Mit der hohen Quote an arbeitenden Frauen, ist auch dieses Selbstbewusstsein gewachsen. Wenn du dein eigenes Geld verdienst und nicht davon abhängig bist, dass der Kerl das nach hause bringt und du einen eignen Wert in der Gesellschaft hast. Das ist ein Ergebnis der DDR. Diese hohe Beschäftigtenquote bei Frauen führte dazu, dass Frauen selbstständiger und selbstbewusster waren. Und übrigens bis in die nachfolgenden Generationen. Also Kinder, Töchter von Frauen, die die DDR nicht erlebten, haben das auch noch, denn sie haben ein anderes Bild von Mutter.
R: Man muss ein bisschen aufpassen über wen man redet. Die Arbeitstätigkeit hat tatsächlich einen bestimmten Frauentyp hervorgebracht. Ich hab später auch Arbeiter-Ehepaare aus dem Ruhrgebiet kennengelernt, da waren die Frauen genauso selbstbewusst. Aber das Besondere in der DDR war, das es flächendeckend war und die meisten Frauen betraf. Der Hausfrauentypus war einfach nicht das Leitbild. Ich denke allerdings, dass man aufpassen sollte und dieses Leitbild der arbeitenden Frau nicht gleichsetzen darf mit emanzipatorischem Verhalten, wie wir es heute verstehen. Einmal muss man sagen, dass Frauen in der DDR nicht zu den besonders Kritischen, Oppositionellen gehört haben; Frauen haben viel weniger im Betrieb mit Streiks und Widerstand gedroht als Männer. Die sind viel viel anpassungsfähiger gewesen – das gehört natürlich auch zu diesem Bild. Frauen sind unglaublich anpassungsfähig gewesen in der DDR. Im Sinne von: den Schwierigkeiten anpassen, mit den widrigen Umständen irgendwie fertig werden. Das war auch ihr Stolz und ihr Selbstbewusstsein: „Ich hab‘s gepackt, obwohl alles Scheisse war“. Daraus ist auch so was entstanden, was man auch nicht so idealisieren sollte. Aber in der Wende ist dann Folgendes passiert. Am Anfang waren die Frauen nicht unbedingt mehrheitlich dabei auch, weil`s gefährlich war. Aber als es zum Beispiel darum ging im Betrieb dann die Gewerkschaftsstrukturen aufzubauen, sich wählen zu lassen: da wurden sehr viele sehr aktiv. Und das ist ganz typisch. Wenn Frauen, dann eine Aufgabe haben, dann machen sie das ordentlich. Nach westlichen Maßstäben sind dann sehr viele zu Betriebsrats- oder Personalratsvorsitzenden gewählt wurden. Sie haben sich allerdings auch ganz schnell wieder raus drängen lassen. So Anfang der 90er Jahre, spätestens dann bei den nächsten Wahlen, war es fast genau – nicht ganz – wie im Westen; die Verteilung, die Hierarchien, wer da im Betriebsrat war, wer da Funktionen hatte und so. Trotzdem glaube ich schon, dass es einen gewissen Einfluss auf die Gewerkschaften machte, dass da plötzlich so viele Frauen aktiv wurden. Das ist ganz kompliziert.
J: Warum ist das passiert?
R: Die haben sich nicht mehr zu Wahl aufstellen lassen, haben resigniert. Ich habe da so ein Büchlein gemacht nur mit Interviews: „Frauen in den ersten Betriebsräten“. Da habe ich erfahren, dass sie sich schnell in die typischen Frauenrollen begeben haben, also die „soziale Abfederung“ übernommen, nicht etwa die Funktionen des Betriebsrates im Aufsichtsrat oder so. Und sie sind häufig nicht mit den Gewerkschaftsfrauen zurecht gekommen, zum Teil auch feministischen Frauen. Die Frauen haben sich sehr für die Frauen eingesetzt und die Sozial Schwachen; Aber wenn die Gewerkschaft zum Beispiel darum gekämpft hat, dass es keine Nachtarbeit gibt, dann haben sie dagegen gestimmt, haben sich also reaktionär verhalten, weil, sie wollten ja immer wie die Männer, „ihren Mann stehen“ … Also das ist eine ganz komplizierte Gemengelage. Und da würde ich dir einerseits zustimmen, dass DDR-Frauen irgendwie ja so ein gewisses Selbstbewusstsein hatten, dass maßgeblich aus ihrer Arbeitstätigkeit resultierte, aber man muss aufpassen, man kann es nicht mit Emanzipation in unserem Sinne gleichsetzen.
Das ist wichtig, dass wir das für die Zukunft festhalten: Dass Emanzipation nicht so idealisiert werden sollte, da sich diese oftmals an einem männlichen Leistungsbild orientierte.
R: Natürlich und dazu gehören wir beide auch. Ich hab das ganz tief verinnerlicht – Leistung-Leistung - und noch besser als die Männer sein.
J: Deswegen wollte ich unbedingt, dass wir über den Leistungsbegriff diskutieren. Das finde ich ein ganz wichtiges Thema in dieser Auseinandersetzung zu Gleichstellung der Geschlechter. Und das ist bis heute nicht wirklich passiert. Weil das ändert alles, wenn du Leistung neu definierst. Oder den Stellenwert, den eine bestimmte Leistung hat, neu definierst. Dann ändert das die Gesellschaft am Ende.
Und das war doch schon ein Punkt, den ihr auch im Unabhängigen Frauenverband thematisiert habt?
J: Ja das war einer der wichtigsten Punkte. Klar.
Ihr seid beide auch Mütter und auch `89 – hat das eine Rolle für die Oppositionsbewegung gespielt oder für euch persönlich?
J: Ja klar.
R: Für mich insofern, dass Stefanie uns aufgefordert hat 1987 mit in die Kirche zu kommen und uns zu trauen, dass mal anzuschauen. Kirche war ja nicht nur wegen der Stasi sondern auch wegen der Kirche für mich so ein fremdes Terrain. Sie hat das maßgeblich forciert. Sie hat sich schon mit 17, 18, 19 Jahren in solchen Gruppen bewegt. Also Musik und Punkgruppen. Sie kannte das schon. Und wir haben auch zusammen die erste Zeit so verbracht. Insofern hat das schon – wie soll ich sagen – war das schon ein generationenübergreifender Vorgang diese Wende. Es war auch für sie wie eine Befreiung. Sie ist in der Welt rumgereist, hat tolle Menschen auf politischen Veranstaltungen kennengelernt, sie hat sich erst mal um getan. Das war für alle ein Befreiungsschlag, wo man einfach das Gefühl hatte jetzt kann man noch irgendwas tun. Denn – ich muss das sagen, weiß nicht wie dir es ging Judith – selbst in der Opposition habe ich dieses Gefühl nicht gehabt. Dieses nur unter sich im kleinsten Kreis sitzen und irgendwelche Dinge diskutieren und das Gefühl zu haben man kann nicht in die Entwicklungen eingreifen, das hat mich schon bis zum Schluss…
J: Was meinst du?
R: Ich meine in der DDR-Zeit hatte ich das Gefühl da zu sitzen und nix machen zu können und das hat sich auch nicht gegeben, als ich in der Opposition war. Das war schön und man hatte jetzt ein paar Gleichgesinnte. Aber das Befreiungsgefühl, dass ich das erste Mal das Gefühl hatte, dass ich etwas tun kann für meine Weltanschauung, für mein Denken, für mein politisches Handeln, das kam erst `89 und das sollte man auch ruhig trotz aller weiteren Entwicklungen erinnern. Das finde ich ganz wichtig.
Ich habe das so verstanden – dass es keine Handlungsfähigkeit gab und das hat sich erst mit dem Herbst `89 verändert und da hat sich was aufgetan für Renate...
R: Jetzt kann ich endlich kommunizieren, Artikel schreiben, mich einmischen….
J: Jetzt hab ich`s verstanden.
Wie war es für dich Judith?
J: Bei mir war es ja ein bisschen anders, weil ich ja vorher schon so Sachen gemacht habe, die am Rande der Legalität waren, sage ich mal. Und das schon 10 Jahre oder 12 Jahre vor dem Herbst `89. Nach meiner Haftentlassung war klar, dass haben die Männer entschieden und ich habe mich nicht in jedem Fall darüber hinweg gesetzt, dass ich nicht mehr so in Erscheinung trete, denn die Gefahr wieder in den Knast zu gehen war natürlich relativ groß. Dass die Druckvorlagen von illegalen Zeitungen, z.B. von den Umweltblättern und dem Friedrichsfelder Feuermelder bei mir im Atelier produziert wurden, das wusste niemand ausser demjenigen, der es gemacht hat, meiner Mitarbeiterin und mir selber. Obwohl die Stasi jemand drauf angesetzt hatte - sie wussten, dass das irgendwo produziert worden sein musste – sie haben es nicht raus gekriegt. Es war einer unserer besten Freunde und sie haben es nicht raus gekriegt. Und das war auch gut so. Das hatte eben auch die Folge, dass ich an bestimmten Sachen nicht teilgenommen habe. Und an manchen doch. Ich hatte ein ähnliches Verhältnis zur Kirche wie Renate. Dieser Weg war mir also durchaus versperrt. Aber ansonsten war das insofern auch wieder eine Befreiung, denn ich war von dieser Last nicht mehr auffallen zu dürfen – war ich wirklich befreit. Das fing dann aber schon ein bisschen früher an. Nämlich an dem Tag, als meine Tochter sich in die Prager Botschaft gesetzt hat. Da habe ich mich meinen Genossen widersetzt und bin dahin gefahren, um ihr auf Wiedersehen zu sagen.
R: Ich glaube, ich verstehe jetzt, was der Unterschied zwischen uns ist: Bei mir war der Leidensdruck riesig. Judith hat wahrscheinlich durch ihre politischen Aktivitäten schon lange vor 1989 nicht so einen Leidensdruck gehabt. Bei mir war es so, dass ich 1987 in eine solche Depression gefallen bin – ich wusste nicht mehr was ich tun soll. Ich hab wirklich unter den DDR-Verhältnissen und vor allem unter der Stagnation der 1980er Jahre gelitten, nicht unter Repression – oder, doch schon auch – Publikationsverbote, doch der Leidensdruck war so groß, dass ich das nur noch als positiv erleben konnte, was dann im Herbst 89 passierte. Durch deine politischen Aktivitäten, die du vorher hattest – und die ich nicht hatte – war bei mir der Leidensdruck „raus aus dieser Enge“ aus dieser Stagnation viel größer als bei dir.
J: ja klar.
Hattet ihr in dem Herbst 89 eigentlich schon Kontakte mit Leuten aus dem Westen? Insbesondere mit Frauen aus dem Westen? Wie war das? Wie waren denn eure Erfahrungen mit Frauen aus dem Westen?
J: Chick, charmant und dauerhaft.
Was heißt das?
J: Das ist der Titel einer alternativen Modeschau aus der DDR. Ich hatte schon seit Mitte der 70er Jahre Freundinnen aus dem Westen. Und was mir dann im Laufe der Jahre aufgefallen ist, dass die immer irgendwie gut drauf waren. Wenn man sie gefragt hat: sie waren irgendwie immer gut drauf. Also wenn wir uns besser gekannt haben, dann habe ich auch von ihren Sorgen gehört aber eher nicht von Geldsorgen. Und zur Wendezeit habe ich dann verstanden, was das ist, was das bedeutet. Ich habe verstanden, dass in dieser westlichen Gesellschaft sie tatsächlich charmant und dauerhaft sein mussten – immer präsent und gut drauf und leistungsfähig.
R: „Wie geht es dir?“ - „Super!“
J: Ja genau, Scheisse – ich hasse diese Wörter. Viele Dinge verstehst du ja erst im Nachhinein warum das so ist. Der politische Druck in der DDR, dem wir alle ausgesetzt waren, war immens. Aber du konntest ihm auch entgehen. Du konntest nämlich Kleingärtner werden. Ich sag das jetzt mal ein bisschen flapsig – oder Indianer. Du musstest dich nicht politisch betätigen. Wenn du das wolltest, musstest du mit Konsequenzen rechnen. Aber du konntest auch Indianer, Kleingärtner oder Angler werden. Es wurde noch witziger, oder nicht witzig, dass ist ja wie eine Verballhornung – das wurde als gesellschaftliche Tätigkeit gewertet. Und im Westen ist es so, also im Kapitalismus ist es so, dass dieser enorme Druck, dieser existenzielle Druck, dem kannst du nicht entgehen. Es sei denn du hast irgendwelche Milliardäre oder Millionäre in der Familie. Aber die meisten Menschen können dem nicht entgehen, weil sie dem ausgesetzt sind. Und deren Kinder sind dem von Anfang an ausgesetzt. Das ist eine andere Art von Druck, die entsteht. Behaupte ich.
R: Ja, eine andere Art von Druck. Aber nicht so wie du das beschreibst – aber das ist ja nicht das Thema. Nochmal zu meinen Begegnungen. Ob in linken Gruppen, oder in den Gewerkschaften, häufig hatte ich so ein Gefühl von „Altbacken“ und traditionell und eben auch unter den Linken im Westen. Wie soll ich sagen, da wurden die patriarchalen Verhältnisse wiederhergestellt – in Gewerkschaften sowieso – wenn ich da an die ersten Begegnungen denke, , – die saturierten Betriebsräte sah - das war eine Atmosphäre – das war gruselig. Aber auch die linken betrieblichen Gruppen, weil, da ist die Frauenfrage auch nicht thematisiert worden, wenn, dann höchsten im Sinne von Arbeit und gleicher Lohn. Aber in einer traditionellen Weise, wie ich es auch aus der DDR kannte. Da war mir völlig klar, dass ich nicht bei den Gewerkschaften anfange zu arbeiten, nachdem ich meine erste Begegnung mit einer Frau von der Gewerkschaft im Faltenrock hatte.Mit feministischen Frauen hatte ich wenig oder gar nichts zu tun, die waren im betrieblichen Milieu nicht so zu finden.
J: Ich hatte mit Frauen zu tun, die auch feministische Ideen hatten. Eine hat mir Ende der 70er Jahre was zu Sexualität und Frauen mitgebracht. Das war hoch interessant und ich habe alle Männer damit überfallen und dann Diskussionen angezettelt, auch in der Straße, in der ich damals wohnte. Die Reaktionen waren schon interessant. Wir haben Mitte – Ende der 70er Jahre ganz viel darüber diskutiert, wie Mensch leben soll. Das berührte natürlich diese Fragen. Es ging genau um „wie leben wir als unterschiedliche Geschlechter miteinander und was ist das Beste dafür.“
Das wurde zu DDR Zeiten trotzdem nie Feminismus genannt?
J: Nie. Eher die Frage: wie wollen wir miteinander leben.
Ich bin Traktorist“ das haben die Westfrauen nicht so gut verstanden…
J: Überhaupt nicht, das war ja das Dilemma.
R: Eins meiner ersten Erlebnisse war in der Böckler-Stiftung. Da musste ich ein Projekt verteidigen, dieses über die „Wendefrauen“. Ich bin da in einer Weise angefahren wurden, von der Gutachterkommission, die nur aus Frauen bestand, weil ich eben nicht mit diesem – das war damals gerade aktuell - großen I meine Texte geschrieben habe. Wenn ich nicht so viel Selbstbewusstsein gehabt hätte, damals in dieser Wissenschaftsszene, wo ich mit klaren Worten reagiert habe, wäre ich kleinlaut davon gegangen. Sie sind sehr arrogant und auch dumm mit mir umgegangen.
J: Das war auch politisch dumm so mit uns um zugehen. Die haben nicht erkannt was die DDR-Frauen an Potenzialen hatte. Sie haben nur das gesehen, was so nach außen getragen wurde.
Und auch nicht mal zugehört, oder?
J: Ja genau, die ersten Jahre haben die Westfrauen wenig zugehört.
R: So dieses sich zum allgemeinen Maß zu machen – das ist ein Problem.
J: Aber es ist auch klar, eigentlich jetzt erst in der letzten Zeit ist mir die Idee gekommen, dass sie ja von einer Position des Opfers aus gehandelt haben. Die haben ja gekämpft, die haben so richtig für was gekämpft. Diese Position hatten wir nicht in der DDR. Wir waren auch Opfer der Verhältnisse, aber wir haben für nichts gekämpft, wir haben das alles geschenkt gekriegt. Also diese, alle diese sozialen Maßnahmen, Kinder kriegen und Versorgung und Arbeit haben und dieser ganze Kram, Schwangerschaftsabbruch – Möglichkeit...
R: Das stimmt.
J: Dafür haben die Westfrauen richtig gekämpft.
R: Das muß man unbedingt noch sagen: Es war in der DDR ein individueller Kampf: ich habs nicht mit anderen zusammen, ich hab
s alleine gemacht, man hat sich die emanzipatorischen Errungenschaften oder das Verhältnis zum Partner, die hat man sich individuell erkämpft. Es gab eben keine Bewegung. Und das ist ein großer Unterschied zum Westen. Die DDR-Frauen haben sich nicht als Opfer wahrgenommen, das ist wahr, aber das heißt ja nur, dass sie bestimmte Dinge nicht begriffen haben. Als ich in den Interviews sagte: es ist so, dass Frauen 25 % weniger Lohn bekommen, da haben die meisten es gar nicht geglaubt. Sie wussten es nicht.
Wollt ihr noch eine Schlussbemerkung zum Herbst 89 los werden und eurer Rolle als Frauen?
R: Eigentlich, denke ich, war diese Zeit für alle – und jetzt rede ich sowohl von uns als Oppositionelle, aber auch für diese Frauen in den Betrieben, unheimlich wichtig. Es war eine kurze Zeit, auf die wir stolz sein können, denn da ist – egal wie es dann ausging – etwas für jede passiert. Ich merke das auch in Gesprächen, wenn man daran erinnert wird, es ist eine kurze Phase gewesen, wo bei allen so eine Aufbruchstimmung da war. Und das finde ich wichtig, dass man daran ab und zu erinnert.
J: Ich denke, mir ist diese Erfahrung total wichtig. Ich zehre davon, nicht weil ich eine Vision da dran hänge, sondern weil ich auch praktische Erfahrung damit habe. Auch weil ich ein bisschen weiß, was wir falsch gemacht haben. Ich bin mir nicht sicher, bei solchen Sachen kann man sich auch nicht sicher sein, trotzdem: die Macht lag auf der Straße und wir haben sie nicht aufgehoben. Und auch nicht neu definiert. Denn das erste, was von sechs Oppositionsgruppen fünf gemacht haben, ist in die Regierung Modrow einzutreten und Minister zu stellen, anstatt die Regierung Modrow abzusetzen.
Das letzte mal sagtest du, du hättest es bedauert, deinen Satz nicht gesagt zu haben….
J: Ich will nach wie vor eine Revolution.!
Dann gibt’s noch einen 2. Satz: dass du am 9.11. geweint hast...
J: Ach so ja, das war...das Gefühl dafür, dass sich jetzt die Interessen verschieben. Für mich war das ganz logisch. Ich hatte inzwischen verstanden – ich hatte gar nix mit dem Westen am Hut – aber dass das für viele Leute `ne Last war mit der Mauer: „Erstmal alles neu, alles gut...das mache ich jetzt, dann interessiert mich der Rest nicht mehr.“ Das hat sich ja später auch relativiert, es gibt Leute (Frauen), die mir an der Kasse a im Supermarkt sagen: „wenn ich mich nochmal entscheiden könnte, würde ich mich anders entscheiden“.
Renate Hürtgen war 1989 maßgeblich beim Aufbau basisdemokratischer Strukturen in Ostbetrieben beteiligt und Mitbegründerin der Initiative für Unabhängigen Gewerkschaften (IUG). Heiner Müller verlas den von ihr verfassten Aufruf während der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989.
Judith Braband war seit Ende der 1970er Jahre DDR-Dissidentin und von politischer Repression verfolgt. 1989 wurde sie Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und der Initiative Vereinigten Linke (VL), deren Vertreterin am Zentralen Runden Tisch sie war.
Das Interview führte Anna Stiede Anfang Dezember 2018 in Berlin. Sie ist mit Blick auf das politisch hochbrisante Jahr 2019 gemeinsam mit Renate Hürtgen und Judith Braband aktiv im Vorbereitungskreis „30 Jahre Herbst `89 – Nennen wir es Revolution!?“
Bild: Christine Rietzke aus der Zeitschrift Zaunreiterin: "Die Zeitschrift ‚Zaunreiterin‘ war die erste unabhängige Frauenzeitschrift in der DDR. Gegründet in Leipzig wollten die Herausgeberinnen mit dem Blatt eine feministische Gegenöffentlichkeit schaffen, die Frauen mit ihren Belangen und Erfahrungen Raum gab."
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