von Linke Geschichte tags soziale Kämpfe (Anti-)Rassismus Solidarität Menschenrechte Datum Jun 2021
zuWas tun gegen die tödliche Abschiebepolitik? Wie wirkungsvoll ist Online-Aktivismus? Und lassen sich die Hauptversammlungen großer Konzerne zur Bühne für politischen Protest machen? Höchst aktuelle Fragen – auf die vor 20 Jahren, am 20. Juni 2001, eine spektakuläre Antwort gefunden wurde: Parallel zum Beginn der Lufthansa-Aktionärsversammlung startete eine erste Online-Demonstration gegen das Abschiebegeschäft des Konzerns – und schaffte es mit mehr als 13.000 Beteiligten, streckenweise die Buchungsserver und die Übertragung der Rede der Vorstandsvorsitzenden aus der Aktionärsversammlung lahmzulegen. Grund genug, hier einen älteren Beitrag der Initiative Libertad! zur Aktion und der anschließenden Repression zugänglich zu machen.
Netzaktivismus gegen Abschiebung
Erfolg einer Imageverschmutzungskampagne
Köln, 20. Juni 2001, kurz vor 10 Uhr. Erwartende Spannung liegt auf dem Platz vor der Kölnarena. Drinnen in der Messehalle hat die Lufthansa AG zur Jahreshauptversammlung der Aktionäre geladen. Draußen protestieren Gruppen von »kein mensch ist illegal« und Libertad!. Mit Transparenten, Straßentheater und Installationen wird ein Aspekt der Geschäftspolitik der größten deutschen Airline in den Mittelpunkt gerückt, um den es, nach Willen des Vorstandes, auf der Aktionärsversammlung auf keinen Fall gehen soll: das Geschäft mit der Abschiebung, das deportation business.
Die Lufthansa AG steht wegen dieser Praxis schon seit geraumer Zeit im Zentrum der Kritik. Wie andere Fluggesellschaften auch, beteiligt sie sich an der Abschiebungen. Jährlich werden 30.000 Menschen per Flugzeug aus Deutschland abgeschoben. Ein Großteil dieser als »deportee-tickets« gekennzeichneten Flugscheine verkauft die Lufthansa AG. Es ist ein tödliches Geschäft: Am 28. Mai 1999 stirbt der Sudanese Aamir Ageeb nach Misshandlungen durch Grenzschützer in einer Lufthansa-Maschine.
Ausgesprochen medienwirksam entwickelte »kein mensch ist illegal« die deportation.class-Kampagne, mit der die Lufthansa AG zum Ausstieg aus diesem Geschäft bewegt werden soll. Die Kampagne beschmutzt das Image der sauberen Airline - und das ist auch der Zweck. Auch zur diesjährigen Hauptversammlung warteten Vorstand, Aktionäre und Medienvertreter*innen gespannt auf mögliche »Zwischenfälle«. Waren sie doch auch angekündigt.
Anfang März hatten »kein mensch ist illegal« und Libertad! aufgerufen, die Internetpräsenz der Lufthansa AG zu blockieren. Massenhafte Aufrufe der Lufthansa-Website sollten sie als sichtbaren Ausdruck des Protestes gegen das deportation business im besten Falle lahmlegen. Diese neue Aktionsform bot sich auch deshalb an, weil Lufthansa vorhat, in den nächsten Jahren jedes vierte Flugticket online zu verkaufen. Im vergangenen Jahr wurden bereits 250.000 Flüge online gebucht - und für dieses Jahr will die Lufthansa AG diese Zahl verdoppeln. Ein guter Ort also für eine Protestkundgebung, sagten sich die Initiator/innen. Eher augenzwinkernd wurde sie auch beim Kölner Ordnungsamt angemeldet, aber das fühlte sich für den virtuellen Raum nicht zuständig. Wie sollte es auch den (Daten-)Verkehr regeln? Trotzdem ist es ein Ort, an dem sich viele treffen können, ohne durchs halbe Land fahren zu müssen - und doch gemeinsam mit vielen gegen das Geschäft mit der Abschiebung protestieren zu können.
Mittels geschickter Pressearbeit, massenhaften Flyern, Plakaten und einer gemeinsamen Ausgabe der »deportation.class«- Zeitung gelang es schnell eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Entsprechend erwartungsvoll war auch die Stimmung vor der Kölnarena. Die Onlinedemonstration sollte während der Eröffnungsrede von zehn bis zwölf Uhr stattfinden und: der symbolische Startklick - wo auch sonst - vor Ort erfolgen.
Nach dem Startklick
Demonstrant*innen hatten sich im Vorfeld über die Homepage (go.to/online-demo) über die »Demoroute« informiert und brauchbare »Winkelemente« besorgt: Eine Software stand zur Verfügung und konnte heruntergeladen werden. Damit wurde eine technische Hilfestellung gegeben, um in viel höherer Geschwindigkeit, als es mit der Hand möglich ist, fortlaufend die Lufthansa-Seiten anzuklicken. Nachdem der Startklick erfolgte und die zeitbegrenzte Software um 10 Uhr »scharf« war, setzte ein elektronischer Ansturm auf www.lufthansa.com ein. Innerhalb der zweistündigen Aktion gab es mindestens zwei zehn- bis fünfzehn-minütige Phasen, in denen die Server der Lufthansa nicht oder nur äußerst schwer zu erreichen waren. Auch wenn es unmöglich ist, die genaue Teilnehmer/innenzahl festzustellen, so gibt doch die tausendfach abgeforderte Software und die Verwendung eines Javascripts, das von der Homepage aufgerufen werden konnte, die Gewissheit, dass gut und gerne zehntausend Menschen sich an der Aktion beteiligten. Die ersten Nachrichten des WDR noch während der Online-Aktion verkündeten gar einen Ausfall der Lufthansa-Seite.
Tatsächlich hat es diesen Ausfall nicht gegeben - und es hat ihn doch gegeben. Wie geht das? Es hing zum Teil sehr stark vom jeweiligen Providernetz ab, ob der online-Ticketschalter zu erreichen war. Teilnehmer/innen aus einigen Netzen, wie z.B. dem Deutschen Forschungsnetz (DFN), handelten sich von vornherein Fehlermeldungen ein. Das DFN-Netz, an dem fast alle Universitäten hängen, hatte die Studierenden und das Universitätspersonal pauschal ausgesperrt: Anfragen an die Lufthansa-Seite wurden erst gar nicht weitergeleitet. Auch andere, kommerzielle Anbieter von Internetzugängen wurden von den Lufthansa-Systemadministratoren mit dem Wunsch angegangen, aus ihren Netzen alle Anfragen an Lufthansa herauszufiltern, um so den Ansturm abzuschwächen. Überhaupt betrieb die Lufthansa AG einen beträchtlichen organisatorischen, technischen und finanziellen Aufwand, um den Imageverlust durch abstürzende Internetseiten zu vermeiden. So orderte sie zusätzliche Bandbreite. Um die Präsenz auf jeden Fall aufrecht zu halten und ohne Rücksicht auf ihre Kunden schaltete sie zwischen verschiedenen Netzen hin und her. Damit gingen jeweils die Kundendaten, Anfragen, Bestellungen etc. verloren. Die Direktive war ganz augenscheinlich, koste es was es wolle, die Lufthansa-Präsenz im Netz aufrechtzuerhalten. Was dahinter geschah - bzw. eben nicht mehr stattfand: die normalen Funktionen, Flüge abfragen und buchen - war nicht mehr wichtig. Während der Rede des Vorstandsvorsitzenden sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, die Gegner/innen der deportation.class hätten Erfolg.
Die politischen Ziele hatte die Onlinedemo bereits vor dem ersten Mausklick erreicht. Sicher auch durch den Neuigkeitswert einer erstmaligen öffentlich angekündigten Internetaktion, griffen zahlreiche Medien die Thematik der Aktion auf. Anders als vielleicht zu befürchten war, stand dabei nicht allein das Mittel, die Aktionsform, im Mittelpunkt. Die Abschiebepraxis und die Beteiligung der Lufthansa wurden thematisiert. Die deportation.class-Kampagne erreichte eine große Breitenwirkung. So stand die Lufthansa AG schon vor dem 20. Juni wieder im Zentrum der Kritik. Ihrem Versuch, die Aktivist*innen als »terroristisch« und »kriminell« zu brandmarken, war auch kein Erfolg beschieden. Selbst die verbale Unterstützung aus dem Bundesjustizministerium konnte die öffentliche Wahrnehmung der Aktion nicht beeinflussen.
Live dabei
Die Erfahrung einer Onlinedemo ist nicht zu vergleichen mit der auf der Straße. Der/die Einzelne bewegt sich in einer nicht sichtbaren Menge, die Frage »Wie viele sind wir?« kann nicht durch Schulterklettern erkannt werden. Einige mochten das Gemeinschaftsgefühl vermissen, auch die unmittelbare Konfrontation mit der Staatsmacht blieb aus. Kein Seitenspalier, aber auch keine unsäglichen Parolen, die man gar nicht erst mitrufen möchte. All das kann ein - auch kollektiver - elektronischer Protest nicht bieten. Die massenhafte Beteiligung, der technische und politische Erfolg wird erst wirklich sichtbar in der Auswertung. Der Onlinedemo fehlte trotzdem eine besser mögliche Visualisierung der Aktion und eine Plattform der Kommunikation zwischen den Demonstrant*innen in realtime.
In der Folge der Aktion gab es auch Stimmen, die die Wirksamkeit der Software bemängelten. Es gab Ratschläge, wie die Effizienz hätte gesteigert werden können und vielleicht doch der eine oder andere »Hackertrick« zur Anwendung gebracht werden sollte. Aber bereits vor der Onlinedemo hatte ein Aktivist der Kampagne auf diesen Punkt hingewiesen: »Wichtig ist uns die Transparenz der Aktion und der angewandten Methoden. Diese Form des elektronischen Widerstandes, die wir propagieren, ist kein Coup aus der Computerfreak-Ecke, kein Hackerstreich. Die könnten viel effektiver sein. Wir bauen nur auf die - sicherlich technisch unterstützte - Massenaktivität. Deswegen sprechen wir auch von Kundgebung oder Demonstration, weil das die Beteiligung zahlreicher Menschen impliziert und klar ist, dass es in der Öffentlichkeit stattfindet.«
Während die Initiator*innen von Anfang an den politischen Charakter der Aktion hervorhoben, forcierten nach der Aktion einige Medien (Spiegel-online, Stimmen bei indymedia u.a.) eine geradezu militaristische Bewertung. Weil kein Server kaputt gegangen ist, konnte die Aktion nur ein Misserfolg sein. Das Ziel war allerdings die (technische) Störung der Online-Geschäfte der Lufthansa und die (politische) Denunziation des Abschiebe-Geschäftes. Beides konnte die Onlinedemo erreichen. Die Initiator*innen von »kein mensch ist illegal« und Libertad! verwiesen nach der Aktion auch darauf, dass für sie die Aktivitäten eines digitalen Protestes niemals alleine stehen.
»Wir sind«, so ein Onliner, »durchaus kritisch, was die Möglichkeiten elektronischen Widerstandes betrifft. Keine Internetdemonstration ersetzt die Bewegung auf der Straße, bestenfalls ist es eine Ergänzung. Dabei stehen sich virtuelle und reale Wirklichkeiten nicht gegenüber. Massenhaft wurde an einem Tag zur verabredeten Stunde die Lufthansa virtuell ›besetzt‹ mit dem Ziel realer Einflussnahme auf ihre Geschäftspolitik. Im Anschluss an unsere Aktion wurden Vorschläge laut, die nächsten Castor-Transporte mit elektronischen Blockaden der Internetseiten der Deutschen Bahn zu ›begleiten‹. Ich glaube, die wenigsten hängen dabei dem Irrtum an, gesellschaftliches, insbesondere oppositionelles Tätigwerden käme mit einem nur simulierten, nicht echten Angriff auf die herrschenden Verhältnisse sehr weit.«
Lufthansa schlägt zurück
Dass die Deutsche Lufthansa AG mit kritischen Stimmen nicht zimperlich umzugehen pflegt, durfte schon die Süddeutsche Zeitung erleben. Als den Konzernchefs die Berichterstattung über den Pilotenstreik nicht zusagte, nahmen sie das Blatt einfach aus dem Bordprogramm. Dann versuchte der Konzern, die Kampagne mundtot zu machen, die seit 1999 ein Ende der Abschiebungen mit Lufthansa-Maschinen forderte. Stellvertretend für die Abschiebegegner*innen wurden die Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) e.V. und die Solidaritätsinitiative Libertad! durch die Lufthansa mit Anzeigen und massiven Strafandrohungen überzogen.
Nach einer Anzeige des Konzerns brachen am 17. Oktober 2001 Beamte der politischen Polizei die Büroräume der Gruppe auf und beschlagnahmten sämtliche Computer sowie zahlreiche Festplatten, CDs und Dokumente. Auch vor der Wohngemeinschaft des Verantwortlichen der von der Gruppe betriebenen Internet-Domains machte die Polizei nicht halt: Hier nahm sie sechs Computer sowie über hundert CDs mit. Im Frankfurter Dritte-Welt-Haus, in dem sich die Büroräume von Libertad! befinden, wurden die Eingangstür eingeschlagen und die Türen aller übrigen dort ansässigen Initiativen aufgebrochen - bis auf jene von amnesty international. Hintergrund: Weil der Lufthansa durch die über 1,2 Millionen Seitenaufrufe während der Onlinedemo ein nicht näher ausgewiesener wirtschaftlicher Schaden entstanden sei, wertet die Polizei die Online-Aktion als »Nötigung« und die Erklärung der 250 aufrufenden Gruppen als »Anstiftung zu Straftaten«.
»Das ist ein Angriff auf die Demonstrationsfreiheit«, protestiert die Aktivistin Anne Morell, die die Onlinedemo am 10. Mai 2001 beim Ordnungsamt Köln angemeldet hatte. »Es ist skandalös, dass 13.000 Demonstrant/innen zu Kriminellen gestempelt werden, während gleichzeitig ein Unternehmen, das aus Abschiebungen Profit schlägt, im Internet seinen Geschäften nachgehen kann.«
Im Zuge der aktuellen »Anti-Terror-Pakete« scheint der direkte Draht zwischen einem finanzstarken Privatkonzern und dem Amtsgericht Frankfurt, sowie der politischen Polizei kürzer denn je geworden zu sein. So meinte Thomas Jachnow, Pressesprecher von Lufthansa, bereits 48 Stunden nach der Razzia auf Nachfrage der taz zu wissen, dass die Durchsuchungen »sehr erfolgreich« verlaufen seien. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft bekräftigte ebenfalls, die Ermittlungen auch auf »einen Teil« der Onlinedemonstrant/innen ausweiten zu wollen, da über die so genannte IP-Nummer, die jeder Rechner besitzt, die Identität der Demonstrationsteilnehmer*innen ermittelt werden könne, wie die Berliner Zeitung am 19. Oktober berichtete.
»Das virtuelle Sit-In vor dem Lufthansa-Portal war ein öffentlicher Akt des zivilen Ungehorsams gegen das menschenverachtende Abschiebegeschäft«, so hält Anne Morell dagegen. »Wir verzichteten dabei bewusst auf jede Form etwaiger ›elektronischer Hasskappen‹, wie sie jederzeit durch frei im Internet verfügbare Verschlüsselungsprogramme technisch machbar gewesen wären. Wenn der Staatsschutz nun meint, im Nachhinein den öffentlichen Protest kriminalisieren zu müssen oder gar in abstruser Weise versuchen sollte, in der Menge der Demonstrant*innen vermeintliche digitale ›Rädelsführer‹ zu konstruieren, so werden wir dem mit einer öffentlichen Ausweitung unserer Kampagne begegnen.«
Prozess um den Versammlungsort: www.lufthansa.com
Schon im Vorfeld war es zu Kontroversen über die Legalität der neuen Protestform gekommen: »Die Bundesregierung spricht einer solchen Demonstration im virtuellen Raum ihre Rechtmäßigkeit ab«, erklärte eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums, denn: »Die im Artikel 8 Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit ist nur auf die physische Anwesenheit im realen öffentlichen, und nicht im virtuellen Raum zu beziehen.« Das Ministerium riet der Lufthansa AG zur Anzeige und wies darauf hin, dass Datenveränderung als Computersabotage mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet würde. Die Organisator/innen indes pochten auf ihr Recht und argumentierten, das Netz sei ein öffentlicher Raum wie das Straßenland: »Wenn man im Internet schmutzige Geschäfte machen kann, kann man da auch demonstrieren.« Um die Legalität zu unterstreichen, hatten die Organisator*innen vorab garantiert, dass keine Daten zerstört werden und jeder Demonstrationsteilnehmer durch seine IP-Adresse erkennbar sein werde. Die Demo war öffentlich angekündigt und beim Ordnungsamt Köln per eMail angemeldet worden (»Versammlungsort: www.lufthansa.com«). Von den Strafandrohungen zeigten sich die Organisator*nnen unbeeindruckt. Sie wiesen darauf hin, dass das Demonstrationsrecht »auch historisch gegen den Widerstand der Mächtigen durchgesetzt wurde«.
Durch die Hausdurchsuchungen wurde Libertad!, das sich gegen staatliche Repression und für die Freiheit politischer Gefangener einsetzt, kurzfristig arbeitsunfähig. Seitdem befinden sich die Computer im Besitz der Frankfurter Polizei, die keine Bereitschaft erkennen läßt, die Rechner zurückzugeben. Vielmehr unterbreitete die Staatsanwaltschaft Libertad! ein Angebot, das Verfahren einzustellen; allerdings gegen ein Schuldeingeständnis, den Verzicht auf Schadensersatz und den Verzicht auf Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände. Die Initiative lehnte das Geschäft ab, daraufhin wurde im Januar 2005 Anklage erhoben.
Netzaktivismus vor Gericht: Mausklicks als Gewalt
Frankfurt, 01. Juli 2005, kurz vor 17 Uhr. Im Amtsgericht wird das Urteil im Prozess wegen einer Internet-Demonstration mit Spannung erwartet. Angeklagt ist der Inhaber der Internet-Domains libertad.de und sooderso.de. Er soll sich der Nötigung und Anstiftung schuldig gemacht haben, indem er zur ersten Onlinedemonstration in Deutschland aufgerufen hatte. Das muss geahndet werden. Deshalb beschlagnahmte die Polizei im Oktober 2001 ein knappes Dutzend Rechner und ermittelte vier Jahre lang. Für die beiden Prozesstage kam die Polizei mit großem Aufgebot, und, als ginge es um schwerste Verbrechen, tagte das Amtsgericht im Hochsicherheitssaal mit Trennscheibe und Leibesvisitationen der Besucher*innen.
Richterin Bettina Wild entsprach der Spannung. Sie verhängte die eher harmlose Strafe von 90 Tagessätzen à 10 Euro, produzierte aber eine Urteilsbegründung, die mal wieder die Findigkeit der deutschen Richterschaft unter Beweis stellt: Andreas-Thomas V. habe sich mit dem Aufruf zur Internet-Demonstration der Nötigung schuldig gemacht, tausende in seine Straftat hineingezogen und bisher unbekannte Waffen eingesetzt: die Computermaus. Dem musste die Richterin entgegentreten und das Internet von Demonstrationen und anderen kollektiven Protestaktionen säubern.
Mit der Lufthansa AG war sich ein hochgerüsteter Gegner ausgesucht worden. Der Lufthansa ging es ums Image und so musste, komme was wolle, die Präsenz ihrer Startseite gewährleistet werden. Was dahinter geschah war egal. Dabei knickte ihr Buchungsgeschäft völlig ein. Ein »immenser materieller Schaden«, den die Lufthansa beklagte - der aber auf keinen Fall, auch nicht im Frankfurter Prozess, genau beziffert werden sollte. Deswegen konnte die Lufthansa AG auch nicht die vor der Aktion angekündigten zivilrechtlichen Forderungen geltend machen. Erst zwei Monate nach der Onlinedemonstration wurde Anzeige erstattet, wozu das Bundesjustizministerium geraten hatte.
Razzia und Strafverfahren
Anfangs wurde wegen Datenveränderung und Computersabotage (§§240,303a StGB) ermittelt. Als dann aber am 17.10.2001 der polizeiliche Staatsschutz in das Libertad!-Büro und die Wohnung des späteren Angeklagten einbrach, war nur noch von Anstiftung und Nötigung die Rede. Das hinderte die Polizei nicht, alle Rechner und unzählige Datenträger zu beschlagnahmen. Die Ermittlungen brachten aber keine Erkenntnisse, die nicht schon bei Einleitung des Verfahrens bekannt waren, und zogen sich jahrelang hin. Im Prozess bestätigte der Staatsschutzleiter die Vermutung, dass es eher um die Behinderung von Libertad! ging, mit den Worten: »Das nächste Mal nehme ich auch noch Monitor, Tastatur und Maus mit«.
Überhaupt trug Kriminalhauptkommissar Günther Brandt dazu bei, Stereotypen polizeilicher Tätigkeit zu bestätigen. So gab er zu, dass er die Homepage www.libertad.de regelmäßig observierte und dokumentierte. Da sei ihm auch der Aufruf zur Onlinedemo aufgefallen. Ein Verfahren hätte er zwar nicht eingeleitet, auch informierte er nicht seine Vorgesetzten, setzte sich aber mit der Konzernspitze der Lufthansa AG in Verbindung »und hielt Kontakt«. Als die dann - nach der Onlinedemo - Anzeige erstattete, war er sofort zuständig. Seine Ausführungen zur Nicht-Strafbarkeit bis zum 20.06.01, warum er ja auch nichts amtliches unternahm, und zur Strafbarkeit ab dem 20.06.01 nervten sichtlich die Amtsrichterin.
Hatten doch nicht nur Anwälte, die die Onlinedemonstrierenden juristisch berieten, sondern offensichtlich auch Staatsschützer einen für sie viel zu laxen Begriff von Demonstrationsfreiheit. Denn das ist das Metier der Amtsrichterin: So verurteilte sie Demonstrant*innen gegen den drohenden Krieg der USA im Irak als Blockierer der US-Airbase wegen Nötigung und Gewalt.
Mit ihrem Urteil setzte sie noch eins drauf: Die Onlinedemonstration gegen Lufthansa war »Nötigung«, wandte »Gewalt« an und drohte mit »einem empfindlichen Übel«. Schon allein »durch die Kraftentfaltung des Mausklicks« wurde »Zwangswirkung« auf potentielle User der Lufthansa-Webseite ausgeübt. Das Betätigen der Computer-Maus war eine Form physischer Gewalt mittels der elektrischen Impulse, die der Mausklick bewirkte und die wiederum eine Aktion einer Onlinedemo-Software auslösten. Das Ganze verglich sie mit Elektroschockwaffen, den so genannten Teasern. Eben die Maus als Waffe.
Die Verteidigung hatte argumentiert, eine Demonstration auf der Lufthansa-Homepage sei im Grunde dasselbe wie eine Aktion vor einer Lufthansa-Filiale. Das sah Richterin Wild ganz anders und hebelte gleich das geltende Versammlungsrecht aus. Der Online-Protest sei höchstens eine »Ansammlung«, die wie eine illegale »Blockade« der Lufthansa-Webseite gewirkt habe.
Damit erweitere Richterin Wild noch die Lesart der Staatsanwaltschaft und sah den Tatbestand der »Gewalt in seiner stärksten Form erfüllt«, da im Internet auf elektronischem Wege der »Willen Anderer gebeugt« worden wäre. Dem musste sie entgegentreten, zumal die Onlinedemonstration mehr als nur ein einmaliger »Gewaltakt« war, sondern ihr ginge es auch darum, mit dem Urteil »potentielle Nachahmer« abzuschrecken.
free online protest
So grundsätzlich sah auch die Solidaritätsorganisation Libertad! die Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Internet tangiert. Deswegen wurde die Kampagne »free online protest / online protest is not a crime« gestartet. Mit Veranstaltungen und Kundgebungen wurde an die deportation.class-Kampagne angeknüpft und das Internet als Raum für politischen Protest verteidigt.
Im Prozess beharrte der Angeklagte auf dem Recht der freien Demonstration auch im Internet. Zahlreiche Beweisanträge thematisierten das deutsche Abschieberegime und die Beteiligung der Lufthansa. Dagegen war die Onlinedemonstration notwendig und angemessen. In seinem Schlusswort nahm der Angeklagte dann den Urteilsspruch vorweg als er betonte, dass allein die Tatsache dieses Prozesses beweise, dass »das Internet unter die Fuchtel des Polizeirechts« gestellt werden solle.
Während der Urteilsverkündung forderten Zuschauer mit Transparenten die Demonstrationsfreiheit »online wie offline« und outeten sich als mit dem Urteilsspruch kriminalisierte Onlinedemonstranten.
Die Verteidigung hat gegen das Urteil Revision eingelegt. »Wir streben eine Entscheidung vor den höchsten deutschen und europäischen Gerichten an«, sagte Rechtsanwalt Thomas Scherzberg. Libertad! kündigte die Fortsetzung der Kampagne »free online protest« an. »Das Urteil zeigt, wie notwendig es ist«, schlussfolgerte der Angeklagte, »gegen jede staatliche Einschränkung des Internets vorzugehen. Bundesinnenminister Schily und Firmen wie Lufthansa hätten es gerne unter ihrer Kontrolle, als Plattform für Regierungspropaganda und Geschäfte. Aber wir werden es weiter nutzen für gesellschaftliche Vernetzung und Artikulation.«
Montage aus Libertad!-Artikeln in: So oder So Nr. 9 - Herbst 2001, ak Nr. 455 - 25.10.01, ak Nr. 492 - 18.2.2005, soz Nr. 8 - August 2005
PS: Das Urteil wurde mit Beschluss (1 Ss 319/05) vom 22. Mai 2006 durch den 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt wegen Verletzung bestehender Gesetze kassiert und der Angeklagte freigesprochen. Das Fazit ist deutlich: Onlinedemos sind keine Gewalt, keine Nötigung, keine »Drohung mit einem empfindlichen Übel«, keine »Datenveränderung«; auch eine Verurteilung als Ordnungswidrigkeit käme nicht in Betracht. Das OLG stellt fest, dass die Onlinedemo auf die Meinungsbeeinflussung zielte.
Damit wird nach fünf Jahren die Position von Libertad! bestätigt: Auch das Internet ist ein Ort für Proteste und Demonstrationen.
Der vorliegende Text stammt aus der Textsammlung »go.to/online-demo. Handbuch Online-Aktivismus«, die von der Initiative Libertad! herausgegeben wurde und hier heruntergeladen werden kann: Handbuch_Online-Aktivismus.pdf
Autor: Libertad! war eine bundesweite Initiative für die Freiheit aller politischen Gefangenen weltweit. Sie setzte sich außerdem gegen staatliche Repression und Unterdrückung ein. Sie existierte von 1993 bis 2016 und ist eine der historischen Quellgruppen der Interventionistischen Linken. Es lohnt sich, die Schlusserklärung des Projekts »Alles hat seine Zeit. Bemerkungen zum Ende der Initiative Libertad!« zu lesen – und mal bei Twitter vorbei zu schauen.