Reclaim Freiheit for Future

Die herrschenden Verhältnisse als Ergebnis freier, ökonomisch handelnder Subjekte? Wohl kaum. Mit dem Urteil des BVG zur Klage gegen das Klimaschutzgesetz bahnte sich jüngst eine andere Interpretation von »Freiheit« den Weg in den Mainstream-Diskurs. Wie kann es der Klimagerechtigkeitsbewegung gelingen, das politische Schlüsselkonzept emanzipatorisch zu besetzen?

Junge Menschen aus der Klimabewegung hatten vor dem Bundesverfassungsgericht (BVG) gegen das 2019 verabschiedete »Klimaschutzgesetz« geklagt. Das BVG gab ihnen Ende April recht. Im Urteil heißt es: »Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, begründen eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit«. Das ist nichts weniger, als die Umkehr der bisherigen Hegemonie – eine kleine Revolution. Das BVG erkennt, wenn auch etwas verklausuliert, an, dass Freiheit zur Zerstörung letztlich die Zerstörung von Freiheit bedeutet. Bislang wurde Freiheit im globalen Westen hauptsächlich verstanden als die Freiheit zum Fahren eines SUV oder zur unternehmerischen Zerstörung von Menschenleben und Biosphäre im Namen der Ressourcenerschließung. »Freiheit« war eine diskursive Waffe, die immer wieder gegen emanzipatorische Bestrebungen nach anders gedachter Freiheit und Selbstbestimmung, etwa für indigene Gruppen oder junge Menschen überall auf der Welt in Position gebracht wurde. Ölriesen wie Shell ebenso wie der GroKo ist es gelungen, die Klimakrise und die globale Zerstörung von Lebensgrundlagen über individualisierende Konzepte wie den »ökologischen Fußabdruck« als Konsequenz individueller Konsumfreiheit zu entwerfen und dadurch staatliche Verantwortung und Konzernmacht zu verschleiern.

Das perfide daran: Genug Menschen innerhalb und außerhalb der westlichen Klimabewegung haben das damit verknüpfte Menschenbild verinnerlicht. Sie schließen von der Struktur auf die Essenz: Privilegierte Menschen in den frühindustrialisierten Staaten konsumieren demnach all den Scheiß freiwillig und wider besseren Wissens. Menschen sind damit inhärent scheiße und der Kapitalismus ist schlicht ein notwendiger Ausdruck der beschissenen menschlichen Natur. Radikaler Wandel wäre dann nur mit massiv freiheitseinschränkenden undemokratischen Maßnahmen durchsetzbar. Die fundamentale Hoffnungslosigkeit, die aus der neoliberalen Besetzung von Freiheit und dem damit verbundenen verkürzten Konzept von Menschsein resultiert, ist heute eines der größten diskursiven Hemmnisse für die Konfrontation der Macht von business as usual.

Detox your Menschenbild

Es ist längst an der Zeit, Freiheit im westlichen Diskurs postkapitalistisch, postkonsumistisch und postkolonial zu reclaimen. Doch dazu müssen wir erst einmal unser Menschenbild ordentlich durchlüften; eine Distanz schaffen zwischen unserem Blick auf die herrschenden Verhältnisse und das Menschsein in ihnen.

Leider sind wir an diesem Punkt noch nicht. In zugespitzten materialistischen Artikulationen im Kontext der Klima- und ökologischen Krise findet sich – im Gegenteil – immer wieder eine Vermenschlichung der herrschenden Verhältnisse. Etwa wenn Naomi Klein in Kapitalismus vs. Klima von der »Profitgier« der Konzerne spricht. Solche Formulierungen können helfen, die abstrakte Akkumulation zu skandalisieren. Leider deuten sie im selben Handstreich eine urmenschliche Schlechtigkeit als Treiber kapitalistischer Dynamiken an. Damit fallen sie hinter bereits Gewusstes zurück: die Einsicht, dass das menschliche Wesen doch gerade wesentlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt und hervorgebracht wird.

So kann eine Herrschaftskritik – wenn auch ungewollt – an die kapitalistische Hegemonie anknüpfen, die ihr eigenes Menschenbild produziert hat, um ihren Fortbestand zu rechtfertigen. Etwa die von Hobbes bekannt gemachte Wolfsmetapher, die das Wesen des Menschen als bissiges Raubtier festschreibt. Durch die wiederholte Verquickung von (negativen) menschlichen Attributen wie Gier, Dominanzstreben und Konkurrenzverhalten mit kapitalistischen Strukturmerkmalen, laufen so auch kritische Artikulationen Gefahr, über den Umweg der konstruierten Wesenhaftigkeit des Menschen den Fortbestand von kapitalistischen Unerträglichkeiten im Denken und Handeln vorweg zu nehmen.

Der Mythos vom fossilen Eigennutz

Ein anderer Aspekt von Freiheit, der im neoliberalen Diskurs immer gern unter den Teppich gekehrt wurde, sollte jetzt hingegen sichtbar gemacht werden: Die Einbettung und Bedingtheit aller Freiheit. Im Zeitalter der disruptiven Klimakrise, in dem die Menschheit im Ganzen mit jeder Minute Lebenschancen einbüßt, verfügt keine Gruppe mehr über Freiheit, die mittelfristig ungefährdet bleibt. Der Journalist Nathaniel Rich fasst es in Losing Earth folgendermaßen zusammen:

The climate scientist James Hansen has called two-degree warming »a prescription for long-term disaster.« Long-term disaster is now the best-case scenario. Three-degree warming is a prescription for short-term disaster: forests in the Arctic and the loss of most coastal cities. Robert Watson, a former director of the IPCC, has argued that three-degree warming is the realistic minimum. Four degrees: Europe in permanent drought; vast areas of China, India and Bangladesh claimed by desert; Polynesia swallowed by the sea; the Colorado River thinned to a trickle; the American Southwest largely uninhabitable. The prospect of a five-degree warming has prompted some of the world’s leading climate scientists to warn of the end of human civilization.

Natürlich soll das nicht heißen, dass dadurch die materielle Konstitution der Gesellschaften aufgehoben wäre. Auch weiterhin stehen manche Menschen weiter oben auf der Treppe und profitieren von den Produktionsverhältnissen. Andere stehen auf den unteren Stufen, an der Frontlinie der Schwemmen, Dürren und Ernteausfälle. Aber die Treppe steht nicht still, sondern hat sich in eine Rolltreppe verwandelt: auf ihrem Weg nach unten nimmt sie alle mit. Eine Zeitlang gab es tatsächlich eine objektive Basis für das Argument, dass die fortwährende (fossile) Kapitalakkumulation der herrschenden Klasse mit einem subjektiven Zugewinn oder Erhalt von Freiheit in Einklang stehe. Wenn die Klimawissenschaftler*innen Recht haben, gibt es heute allerdings keine Belege mehr dafür, dass ein Festhalten an der globalen Fossilwirtschaft dem Erhalt von Freiheit für Subjekte aus Fleisch und Blut dient, weil schlicht keine menschliche Freiheit der allumfassenden klimatischen Destabilisierung äußerlich sein kann.

Dass die Bourgeoisie im 21. Jahrhundert allen Fakten zum Trotz von der breiten Gesellschaft noch recht unbehelligt so weitermachen kann, lässt sich nicht zuletzt durch eine nicht schnell genug bröckelnde Hegemonie erklären: Durch den allgemeinen Irrglauben, sie und ihre Freiheiten seien aufgrund ihrer materiellen Konstitution außerhalb der Klimarolltreppe positioniert. Die bloße Imagination der Existenz eines solchen ‚außerhalb‘ leistet in den bürgerlichen Milieus dem blinden Glauben an eine Art »Trickle-Down-Sicherheit« vorschub: Manche Leben sind bedroht, manche Regionen werden sich destabilisieren – aber doch nicht hier. Nicht ‚wir‘. Leider nährt auch jede vulgärmarxistische Behauptung, dass das Festhalten an business as usual im Eigeninteresse der herrschenden Klasse läge, den Irrglauben an dieses ‚außerhalb‘. Eine zeitgemäße materialistische Analyse muss hier einen Kontrapunkt setzen. Sie muss die konstitutive Einbettung von menschlichem Leben in seine Umgebung und Ökosysteme abbilden, um dem fossilen Weiter-so die letzte denkbare ideologische Basis zu entziehen.

Immerhin hat die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus im globalen Norden bereits ordentlich Federn gelassen: Das einstige Versprechen, dass es allen (oder manchen) immer besser ginge durch ihn, ist der hauchdünnen Hoffnung gewichen, (vielleicht) nicht unter die Räder der Klimakatastrophe zu kommen. Jetzt ist es an den emanzipatorischen Kräften, das Ende des Kapitalismus im globalen Westen vorstellbar zu machen. Um ihn tatsächlich zu überwinden, wird die Gesellschaft zwei Dinge lernen müssen: Dass der Mensch nicht inhärent scheiße ist und dass jede Freiheit eingebettet und bedingt ist.

Autorinnen: Judith und Rebecca sind als Klimagerechtigkeitsaktivistinnen unter anderem bei Extinction Rebellion aktiv. Sie schreiben über Themen, die sie im Klimakontext unterrepräsentiert sehen und stellen sich unter anderem die Frage nach einer materialistischen Herrschaftskritik der Klimagerechtigkeitsbewegung im globalen Norden. Sie veröffentlichten bereits in der taz und Der Freitag.

Bild: Eine Rolltreppe in Uppsala, von flöschen.