von Klasse mit Differenz tags Organisierung Internationalismus Revolution Datum Feb 2019
zuDie Diskussion um eine »neue Klassenpolitik« war in den letzten Jahren in aller Munde. Manche der dabei diskutierten Fragen sind allerdings gar nicht so neu. Genosse Andreas, der seit vielen Jahrzehnten in der radikalen Linken aktiv ist, stellt im folgenden – ursprünglich mündlichen – Beitrag seine Sicht auf den Zusammenhang von Klasse, Kampf und Kommunismus zur Diskussion und warnt vor den Gefahren einer rein europäischen Perspektive.
Vorab
reden wir von uns. reden wir selbst, unser kampf, unsere waffe ist unsere menschlichkeit. reden wir vom revolutionären subjekt, von seinem entstehen, von der dekolonisation des bewusstseins. von der befreiung von der gewalt durch die gewalt. vom 24-stundentag unserer aufgabe und unseres ziels: die imperialen schweine zum teufel jagen… reden wir dazu von uns, von unseren wunden, unserem hass, unserer freiheit. das ist unser blues. werden die brüder und schwestern schon hören und verstehen, der widerspruch zwischen leben wollen und nicht leben können ist explosiv, die lunte dran, marx dran…
Gudrun Ensslin, Das Info
Ich gehe nach wie vor davon aus, dass die Zuschreibung der bürgerlichen Gesellschaft im Kapitalismus als Klassengesellschaft zutreffend ist. Aus der Analyse der objektiven Verhältnisse, der Stellung der Menschen in der Produktion und im Staat, der Eigentumsverhältnisse, des Zuganges zur sozialen Infrastruktur wie Wohnen, Gesundheitsversorgung, Alterssicherung, Mobilität, Bildung und Kultur, … sehe ich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die ich aus ihrer jeweiligen zumindest objektiv übereinstimmenden Lage und ihren jeweiligen zumindest objektiv übereinstimmenden Interessen als Klassen bezeichne. Natürlich prägt die Gesellschaft zusätzlich, dass daneben noch unterschiedliche Geschlechter, Hautfarben und Sexualitäten quer zu den Klassen bestehen. Aber diese behauptete Objektivität einer Klassengesellschaft entspricht vermutlich kaum noch der von den Menschen selbst wahrgenommenen Selbstzuschreibung und ihrer Sicht auf die Gesellschaft. Das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft ist zumindest als Parole vermutlich auch deshalb nicht besonders attraktiv. Da braucht es griffigere Übersetzungen; vermutlich kann mensch sich in klassisch arm/reich, oben/unten, abhängig/frei, Besitzende/Nichtbesitzende, Mächtige/Ohnmächtige, … immer noch einfacher einordnen. Eine objektivistische Klassenanalyse hilft uns ohnehin nur dahingehend weiter, die Lage der ausgebeuteten Klassen in Deutschland besser zu verstehen. Das ist in jedem Fall notwendig.
Zur Wiederentdeckung der Klasse
Wenn ich von der »Wiederentdeckung der Klasse« oder gar der Klassenfrage lese, bin ich eher belustigt: Ja, wo haben die denn vorher gelebt? Problematischer ist noch, dass dies begrifflich und theoretisch auf das Niveau der studentischen ML-Gruppen der 1970er zurückfällt. Da waren wir schon weiter. Die Definition der Klasse aus den objektiven Verhältnissen, aus der Stellung im Produktionsprozess abzuleiten, usw. war und ist völlig untauglich, um Klasse als Kampfterrain zu verstehen. Das Entstehen und Werden des Proletariates war die Zusammenballung in der Fabrik, in dazu gehörenden Wohnquartieren, Schulen usw. – also Arbeit, Reproduktion, Familien und Leben überhaupt. Es gab die Orte, wo die gemeinsame Lage auch gemeinsam als eine gemeinsame Lage begriffen werden konnte. Das ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Klasse als eines subjektiven Begriffs, also von Klassenbewusstsein. Denn das ist die subjektive Seite des Widerspruches zwischen Lohnarbeit und Kapital – und wenn Kommunist*innen eine Aufgabe haben, dann die, die subjektive Seite des objektiven Widerspruches im Kapitalismus zu organisieren, damit er antagonistisch wird.
Allerdings haben wir heute eine ganz andere gesellschaftliche Situation als in der Phase der Proletarisierung. Durch Faschismus, Krieg, die Eroberung des gesamten Lebens durch die kapitalistische Warenproduktion, Stichwort: der 24h-Tag des Kapitals – ist die »Klasse an und für sich« zerstört. Revolutionärer Kampf ist deshalb die Rekonstruktion der Klasse selbst, also des Teils der Gesellschaft, dessen Befreiung aus den kapitalistischen Zwängen am ehesten mit einer Befreiung der gesamten Gesellschaft übereinstimmt. Aber die Orte ihrer ursprünglichen Konstituierung – Fabrik, proletarisches Wohnquartier – existieren z.T., wie insbesondere letztere, gar nicht mehr. Gibt es andere Orte, wo die gemeinsame Lage auch gemeinsam als eine gemeinsame Lage begriffen wird – und daraus im gemeinsamen Interesse, diese Lage zu beseitigen, gehandelt wird?
Revolutionäre Politik muss die Zerstörung der Klasse, ihre Einbindung in die bürgerliche Gesellschaft, die Durchdringung ihres gesamten Alltags und jeder Lebensäußerung durch die kapitalistische Warenproduktion zum Ausgangspunkt nehmen. Denn Ausbeutung findet nicht nur in den 8 Stunden Lohnarbeit statt. Nicht nur die alte Arbeiter*innenbewegung war zusätzlich in einer Sorte Klassenbegriff gefangen, der im wesentlichen nur auf den nationalen Staat, maximal gleichentwickelte Gesellschaften bezogen war. Dass dies die Quelle eines fortgesetzten »Verrats an der Arbeiterklasse« war, wurde erst später gesehen. Das Ausklammern des kapitalistischen Weltmarkts, der ursprünglichen Akkumulation durch Kolonisierung der Welt und ihrer gleichzeitigen kapitalistischen Zurichtung usw. führte zu einer durchaus kolonialistisch geprägten Definition von Proletariat. Die nach wie vor populäre Antwort auf die Frage, »Wer hat uns verraten? – die Sozialdemokraten« ist ein Missverständnis. Tatsächlich wurde im Interesse dieser weißen, kolonialistischen »Arbeiteraristrokatie« gehandelt – und zwar erfolgreich.
Klassenkampf global – gegen Spaltung und Rassismus
Die Tatsache, ausgebeutet zu werden und gleichzeitig die Teilhabe an den Segnungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft denen zu verdanken, die weltweit noch mehr ausgebeutet werden, führt, wenn man das ausklammert, bestenfalls zu dem bekannten Reformismus. Vor diesem Dilemma steht jede linke Politik: Jede nur auf die hiesige Gesellschaftsformation gedachte Politik ist spalterisch, reformistisch und rassistisch.
Eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse muss von dem globalen Kapitalismus ausgehen – und allein schon deshalb Klasse und Proletariat auch in diesem Weltmaßstab begreifen und definieren. Dann stellt sich heraus, dass die hiesige Arbeiter*innenklasse maximal eine Schicht oder Fraktion innerhalb eines weltweiten Proletariates ist – dessen Kern »die am meisten ausgebeuteten, gedemütigten und unterdrückten dieser Welt« sind.
Daraus eine grundsätzliche Gegensätzlichkeit der hier und der dort Ausgebeuteten zu behaupten, führt allerdings in eine Handlungsunfähigkeit. Das ist auch lediglich eine aus meiner Sicht andere Seite der Medaille der Parteinahme für die von hier ausgehende kapitalistische Herrschaft (z.b. »Standortnationalismus«). Es geht dagegen um die Zentralität einer daraus bestimmten politischen Intervention in die Verhältnisse als Handlungslinie von in den Metropolen des Kapitals lebenden und kämpfenden Revolutionär*innen. Das Bild von der "ersten Welt in der dritten, und der dritten Welt in der ersten" war zumindest hilfreich diesen Zusammenhang zu verstehen - und das es die gemeinsame Grundlage der hier wie dort Ausgebeuteten und Unterdrückten gibt. Das auch gegen einen paternalistischen Solidaritätsbegriff (und seine falsche Ablehnung), der so tut, man würde etwas für andere tun - und nicht für sich selbst.
Ohne diesen Begriff eines Klassenkampfes im Weltmaßstab entsteht aus der gemeinsamen Lage und ihrer Aufhebung auch kein Bewusstsein von sich als Klasse. Im räumlichen Sinn, wie Fabrik oder Wohnquartier, schafft der moderne Kapitalismus diese Orte offensichtlich – zumindest hier – nicht mehr. Im Gegenteil: Die Gesellschaft wird tausendfach gespalten und segmentiert. Die potentiellen Orte des Klasse-Werdens existieren gegenwärtig nicht mehr dauerhaft; wenn, dann sind sie vorübergehend.
Klasse-Werden
Es hat sich herausgestellt, dass wir aber diese Orte brauchen. Wir müssen sie als Räume gemeinsamer Erfahrung, gemeinsamer Lage und ihrer Veränderung schaffen. Wie können wir das? Sicher, das eine oder andere Mal auch als örtlichen Raum, eine befreite Zone, ein Chiapas oder Rojava, ein besetzter Platz oder auch ein soziales Zentrum … Diese Bilder von Orten zeigen eines: Der Kampf selbst ist der Ort, in dem die Klasse entsteht. Das ist für mich auch der Grund, warum wir in alle sozialen und politischen Widersprüche der Gesellschaft intervenieren müssen, um Reibung und Konflikte zu erzeugen. Die Akkumulation des Kapitals erzeugt zwar eine Akkumulation des Elends – aber nicht das schafft die subjektive Seite des Widerspruchs. Das ist der Klassenkonflikt selbst, der Streik, die Barrikade, der Aufruhr, der Krawall – in den unterschiedlichen Formen von Protest und Widerstand. Dieses Temporäre zu verlängern in gegenmächtigen Orten und Strukturen, das ist revolutionäre Organisierung.
Unsere Interventionen und Konfliktfelder sollten dabei jeweils so viel an Grundsätzlichkeit, Radikalität und emanzipatorischem Vorgriff enthalten, wie möglich ist. Die darin liegende vorweggenommene Zuspitzung bricht erst den Horizont auf, produziert erst die vage Möglichkeit einer revolutionären Veränderung des status quo – und zu dem gehört sehr viel mehr als nur die Arbeitsbedingungen. Es ist gerade auch »der Widerspruch zwischen leben wollen und nicht leben können« der die Klasse über alle Unterschiede und Kontinente verbindet.
Unsere Vernunft gegen den Irrsinn der kapitalistischen Welt
Das von meinem damaligen revolutionären Kollektiv Kein Friede Frankfurt (kff) verwendete Bild »wir essen kein Brot sondern Reklame« verweist auf die ideologische und kulturelle Zurichtung der Menschen im Kapitalismus. Alles ist Ware, das Lebensnotwendige wie das pure Vergnügen – der Konsum dieser Warenwelt wird aber nur zu einem Teil von ihrem tatsächlichen oder vermeintlichen Gebrauchswert bestimmt. Die versprochene Befriedigung der unmittelbaren und darüber hinausgehenden Bedürfnisse ist einerseits identitätsstiftend – andererseits eine fortgesetzte Enttäuschung. Die Beglückung bleibt dann meist doch aus.
Sie wird auch aufgefressen, denn der Zugang und die Teilhabe am Glück und Wohlstand sind ausschließlich über Geld, also ausreichendes Einkommen, geregelt. Eine nicht endende Schufterei. Die mögliche Reduktion der zur Reproduktion des Lebensnotwendigen notwendigen Arbeit verkehrt sich andauernd in ihr Gegenteil: eine fortgesetzte Intensivierung und Ausweitung der Plackerei. Obwohl und weil es also kein wirkliches Vergnügen ist, im entwickelten Kapitalismus zu leben, produzieren die Menschen selbst die Ideologie, in der besten aller Welten zu leben, damit der Widerspruch überhaupt auszuhalten ist. Das macht krank und schizophren. Dieses Mitmachen, diese selbstproduzierte Illusion von markt- und warenmäßiger Freiheit ist denn auch die große Stärke des demokratischen Kapitalismus. Das begründet auch seine Überlegenheit gegenüber staatssozialistischen Gesellschaftsmodellen: Die von ihnen versprochene Volksbeglückung kommt von oben, ist also autoritär vermittelt – und deswegen keine Einladung zum mitmachen.
Das Krankwerden an diesen Verhältnissen ist nicht nur ihre Folge, sondern ihr konstitutives Merkmal. Die Gesundung kann deshalb nur außerhalb – und gegen diese krankmachenden Verhältnisse – stattfinden. So habe ich immer die Parole »aus der Krankheit eine Waffe machen« verstanden, die das Sozialistische Patientenkollektiv aus Heidelberg Anfang der 1970er Jahre vertreten hat. Die fortgesetzte Zerstörung des Menschen im Kapitalismus, die fortgesetzte Destruktion durch Raubbau an der Natur, durch Krieg und andere von Menschen gemachten Katastrophen ist der Irrsinn der kapitalistischen Welt und ihrer Ordnung. »Vernünftig sein« ist deswegen ein durchaus revolutionäres Kriterium.
Zur Möglichkeit des Kommunismus …
Sehr beliebt war und ist bei mir nach wie vor die Redensart vom »Kommunismus als Sofortprogramm«. Für mich ist Kommunismus kein Bild eines paradiesischen Zustands in der Zukunft. Kommunismus ist möglich, weil die Produktivkräfte durch den Kapitalismus soweit entwickelt sind, dass die gesamte Menschheit nicht hungern oder sonst wie leiden müsste. Es ist also tatsächlich eine Frage der Verfügungsgewalt, des Eigentumes und der Macht.
Die mit der Klassenfrage immer verbundene Frage nach dem revolutionären Subjekt zeigt schon eine Paradoxie auf: Für was auch immer das Proletariat gut sein soll, als einzige Klasse, deren Klasseninteresse objektiv mit dem der ganzen Gesellschaft zusammenfällt… Subjekt einer Auseinandersetzung, eines Klassenkampfs, ist man nicht per Definition – Mensch muss dazu werden. Es kommt also auf die kollektive Entscheidung an, die im Alltag allerdings sehr individuell getroffen wird – und nur in bestimmten Situationen anders. Ich meine hier Situationen á la »wenn die oben nicht mehr können, und die unten nicht mehr wollen«.
Im Alltäglichen sind es dagegen »die Mühen der Ebene«, das unermüdliche Abrackern an den Verhältnissen, das Herstellen kollektiver Erfahrungsmomente, aus denen gemeinsame Entscheidungen und subversive und solidarische Haltungen entstehen. Trotzdem bleibt natürlich richtig: »ein Funke kann einen Steppenbrand auslösen«. Darauf aber die eigene Handlung zu bestimmen, ist weder Lunte noch Marx dran.
In der Guerilla verwendeten wir den von Jan-Carl Raspe geprägten Begriff der vertikalen Klassenanalyse. Die horizontale Spaltung der Gesellschaft sagt nichts über die subjektive Seite des Widerspruchs aus – um deren Organisierung es uns aber geht. Um gegen diese Verhältnisse zu handeln, braucht es noch ein anderes Koordinatensystem als die Stellung im Produktionsprozess. Denn die ist per se kein Widerspruch zu rassistischen, sexistischen, patriarchalen, bürgerlichen, reaktionären … Verhaltens- und Lebensweisen. Diese quer, also vertikal verlaufenden gesellschaftlichen Spaltungen definieren die Klasse an und für sich mit.
… als wirkliche Bewegung
Ob und wie mensch sich zu diesen Bruchlinien positioniert, und ob und wie mensch sich auf Seiten der am meisten ausgebeuteten, gedemütigten und unterdrückten dieser Welt stellt, ermöglicht die Teilhabe am Klassenkampf ganz unabhängig von der ökonomischen Klassenherkunft. Denn, wo immer wer herkommt, entscheidend wird sein, welche praktische Position und Handlung eingenommen wird gegen die Totalität der kapitalistischen Durchdringung und der davon ausgehenden und sie sichernden Gewalt und Herrschaft.
Das veränderte den Begriff des Klassenkampfs. Auch die Vorstellung des revolutionären Kampfes. Die Entwicklung von Gegenmacht als dauerhaft dynamische Erscheinung, die Metropole als Kampfterrain, ob als Guerilla oder unterschiedlich militante Bewegung oder aktivistische Organisierung – bis in die Redefinition des politischen Streikes als metropolen- oder sozialen Streik. Das ist nach wie vor die Herausforderung – auch gegen die Schlafmützigkeit und Biederkeit deutschlinker Organisationshuberei und der Vorstellung, man könne irgendwen an der Bushaltestelle abholen und dabei noch jedes Aufsehen und jeden Aufruhr vermeiden … Entscheidend bleibt: Eine Revolution ist nicht nur notwendig, um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden und die dadurch bestimmte Welt zu verändern. Revolution ist notwendig, um den ganzen alten Dreck und Rotz loszuwerden, von dem wir durchdrungen sind. Das geht nicht ohne Wut, Gefühl und Härte - gegen sich und für und mit den anderen. Die Sprache unserer Wunden und unserer Wut verstehen die Schwestern und Brüder überall auf der Welt, wie wir ihre verstehen.
Deswegen zum Schluss auch mal ein Lieblingszitat:
Die Geschichte zeigt, dass sowohl zur massenhaften Erzeugung des kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.
Bild und Zitat: K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3 (S. 70).
Vom Autor Andreas findet sich auf dem Blog auch ein ausführliches, zweiteiliges Interview.