von Klasse mit Differenz tags Klasse Internationalismus Globalisierung Datum Jan 2018
zuMit dem Begriff der »Imperialen Lebensweise« wird seit einigen Jahren versucht, die internationalen Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert zu beschreiben – und dabei unseren Alltag und sozial-ökologische Fragen stärker als bisher zu berücksichtigen. Was bringt der Begriff für die strategischen Debatten der (radikalen) Linken, wie sie aktuell unter dem Slogan der »Neuen Klassenpolitik« geführt werden? Eine ganze Menge, meint unser Autor Sam.
Unter dem Schlagwort »Neue Klassenpolitik« wurde seit etwa einem Jahr eine bemerkenswerte Anzahl an Debattenbeiträgen veröffentlicht. Es handelt sich dabei vor allem um eine Strategiedebatte innerhalb der sozialistischen und bewegungsnahen Linken, die den sich rapide beschleunigenden Aufstieg autoritär-nationalistischer Kräfte theoretisch zu verarbeiten versucht. Ähnlich wie das Einknicken der SYRIZA-Regierung vor dem europäischen Spardiktat im Juli 2015, wirft das Erstarken völkischer Parteien und ihre Resonanz in »abgehängten« Gesellschaftsschichten grundsätzliche Fragen hinsichtlich linker Politik auf. Es wird immer deutlicher, dass die große Finanzkrise vor nunmehr zehn Jahren nicht zur Ausweitung linker Spielräume geführt hat. Im Gegenteil: Vielmehr scheint es, dass grundlegende Versäumnisse linker Politik in den vorangegangenen Jahrzehnten dazu geführt haben, dass Brüche in der bestehenden Ordnung – etwa in Form der Finanzkrise (2007/2008) oder des Sommers der Migration (2016) – nicht als Gelegenheitsfenster für linke Offensiven genutzt werden können. Didier Eribons Erzählung vom langsamen Abschied der parteipolitischen und kulturellen Linken von der Arbeiter*innenklasse lieferte eine Hypothese, die genau dieses Erklärungsmuster bediente und auch deswegen so große Aufmerksamkeit erfuhr.
Vom Interesse zur Lebensweise
Die Debatte um »Neue Klassenpolitik« nimmt Eribons Argumentationsfaden auf und versucht, ihn politisch zu wenden. Es wird schnell ersichtlich, dass es den allermeisten Debattenbeiträgen nicht darum geht, die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital als allgemeinverbindlichen Maßstab linker Politik zu restaurieren. Vielmehr geht es darum, klarzustellen, dass Kämpfe um Anerkennung, Teilhabe und Mitsprache auch im Kontext ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse zu verstehen und zu führen sind. Während die Apologeten einer »Konservativen Revolution« (Alexander Dobrindt) die Errungenschaften der 68er als Projekt einer kulturellen Elite von sich weisen, versucht die Linke, diese Errungenschaften wieder stärker in ein klassenpolitisches Gesamtprojekt einzubetten. Die Neue Klassenpolitik lässt sich im Sinne einer »Klassen- als Identitätspolitik« verstehen – ausgehend von konkreten Interessen (z.B. bezahlbarer Wohnraum) und Identifikationen (z.B. mit einer Mieter*innenschaft) sollen Auseinandersetzungen quer zu herrschenden Spaltungslinien (etwa bio-deutsche gemeinsam mit migrantischen Mieter*innen) gegen einen gemeinsamen, institutionellen Gegner (z.B. den Eigentümer) geführt werden.
Der »Eribon-Moment« (Tom Strohschneider) hat letztlich einer bestimmten Lesart der Organisierungsfrage zum Durchbruch verholfen: eine, die Verankerung linker Politik im Alltag der Menschen und die stärkere Einbeziehung ihrer konkreten Interessen zum Ausgangspunkt macht. Auch linke Politikangebote an bereits progressiv Gesinnte und deren Einbindung in ein »Dissidentes Drittel« (Thomas Seibert) stehen in keinem prinzipiellen Gegensatz zu Erschließungsprojekten in Betrieben oder Stadtteilen. In beiden Fällen sollen Probleme und Erfahrungen im (Arbeits-)Alltag adressiert und mit einem progressiven Organisierungsangebot verknüpft werden. Prekarität kann sich, wie Thomas Seibert festgehalten hat, unterschiedlich ausdrücken – als Arbeitsunsicherheit und Geldmangel, als Zeitnot und Burnout, als Angst vor rechten Übergriffen oder Leiden am Alltagssexismus, als Verzweifeln angesichts der Klimakrise und globalen Ungerechtigkeiten. »Die Aufgabe besteht darin, diese Erfahrungen zusammenzuführen, trotz der internen Widersprüche und Konflikte« (ebd.). Letztlich geht es darum, an der Lebensweise – auch der eigenen – anzusetzen und von dort aus kollektive Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung in ihren unterschiedlichen Formen zu entwickeln. Verschiedene Ausbeutungsformen fließen in der Lebensweise zusammen und können dort auch gemeinsam politisiert werden.
Von der Lebensweise zum Gegenprojekt?
Eine Frage, die in der aktuellen Debatte um Neue Klassenpolitik offen bleibt, ist, wie eine stärkere Verankerung linker Politik im (Arbeits-)Alltag der Menschen praktisch zu einer linken Machtperspektive führen soll. Eine zentrale Einsicht im Konzept der imperialen Lebensweise ist, dass die Lebensweise eng mit der vorherrschenden Produktionsweise verwoben ist. Schließlich stabilisiert der imperiale Zugriff auf Arbeitskraft und Natur weltweit kapitalistische Reproduktion, durch die verinnerlichte Normalisierung dieser Produktionsweise im Alltag der Menschen. Veränderungen in der Lebensweise – etwa ethischer Konsum – führen nicht zu einer anderen Produktionsweise, sondern zur Weiterentwicklung und Diversifizierung der bestehenden. Auf die Debatte um Neue Klassenpolitik ließe sich aus dieser Einsicht die Frage ableiten, wie eine stärkere Verankerung linker Politik im (Arbeits-)Alltag der Menschen zur Herausbildung eines linken Gegenprojekts führen kann, das programmatisch umrissen und machtpolitisch fundiert ist.
Die Neue Rechte profitiert nicht deswegen von der Krise der Globalisierung und der europäischen Integration, weil sie im Alltag der Menschen so gut verankert wäre. Sondern weil sie über eine realistische Handlungsperspektive und eine emotional erfahrbare Erzählung verfügt, die in der multiplen Krise des globalen Kapitalismus Abhilfe verspricht. Nachdem das Glücksversprechen der Globalisierung gebrochen wurde, wird »Abschottung« zum Allheilmittel, um sich gegen Migrant*innen, ausländische Investoren oder internationale Regelwerke zur Wehr zu setzen. Sich Arbeiter*innen und Menschen in prekären Lebenslagen im Zuge einer Neuen Klassenpolitik einfach nur vermehrt zuzuwenden, reicht in diesem Kontext nicht aus. Entscheidend ist eine machtpolitisch fundierte Handlungsperspektive. Wie Thomas Sablowski festgestellt hat, sind Nationalismus und Internationalismus für Arbeiter*innen »zwei unterschiedliche Strategien, ihre Interessen zu verteidigen – und der Nationalismus, die Abschottung nach außen, gegen Migranten und Flüchtlinge als zusätzliche Konkurrenten … und gegen alle anderen Zumutungen der Globalisierung erscheint gegenwärtig leichter realisierbar als eine internationalistische Strategie.« (Thomas Sablowski, 2017, Die Widersprüche der europäischen Integration und die Linke Europe, in: Mario Candeias (Hg.): What's left? Die EU zwischen Zerfall, Autoritarismus und demokratischer Erneuerung. Hamburg, VSA, S. 165).Mit anderen Worten: Während die Neue Rechte die verbleibenden Privilegien der imperialen Lebensweise mittels Abschottung zu sichern versucht, verpasst es die Linke ebendiese Lebensweise als Ansatzpunkt einer internationalistischen Politik zu sehen.
Pradigm lost
Um die richtigen Schlussfolgerungen aus der Niederlage der SYRIZA-Regierung im Sommer 2015 und dem Erstarken rechts-autoritärer Gesellschaftsprojekte seitdem zu ziehen und perspektivisch eine »neue linke Erzählung« (Sebastian Friedrich) zu entwickeln, reicht die Debatte um Neue Klassenpolitik nicht aus. Sie suggeriert, dass die Linke in den letzten Jahren lediglich einen methodischen Fehler begangen hätte, der sich einfach revidieren ließe. Doch wir haben es mit tiefer liegenden Strukturproblemen linker Transformationsstrategien zu tun. Die Internationalisierung der Produktion und die mit ihr einhergehende Globalisierung der Finanzmärkte muss als ein Prozess verstanden werden, im Zuge dessen eine linke, internationalistische Handlungsperspektive sukzessive verbaut wurde. Die wachsende Mobilität des Kapitals sowie die Abhängigkeiten nationaler Wirtschaftsräume von globalen Waren- und Finanzmärkten ließ eine Politik der Umverteilung und der Verstaatlichung immer irrationaler erscheinen, da sie Kapitalflucht, Währungsabwertungen und außenpolitische Restriktionen nach sich ziehen könnte. Die Unterordnung der Sozialdemokratie unter die Logik des neoliberalen Standortwettbewerbs entsprach daher deren »Wesen, das darin besteht, Interessen der Lohnabhängigen nur nach Maßgabe der Restriktionen der Kapitalakkumulation zu vertreten« (Thomas Sablowski, s. oben, S. 165).
Die Globalisierung führt linke, auf eine Überwindung des Kapitalismus abzielende Politik vor ein doppeltes Dilemma. Einerseits wurden die Möglichkeiten für ein Ausscheren aus der Politik des neoliberalen Wettbewerbsstaates systematisch verengt. Andererseits wurden die Interessengegensätze innerhalb der Lohnabhängigen auf internationaler Ebene durch divergierende Lohn- und Sozialstandards und den imperialen Zugriff auf die Arbeitskraft und Natur peripherer Räume vervielfältigt. Obwohl auch in den frühindustrialisierten Ländern prekäre Lebensverhältnisse auf dem Vormarsch sind, ist die imperiale Lebensweise attraktiv genug, um breite soziale Unruhen zu verhindern. Beides – die Attraktivität des globalisierten Kapitalismus in Form der imperialen Lebensweise und die Perspektivlosigkeit linker Politik im internationalen Standortwettbewerb – trägt maßgeblich dazu bei, dass eine klassenpolitische Konfliktlinie, die eine Aneignung des globalen Reichtums und ein besseres Leben für die großen Mehrheiten aller Gesellschaften in den Mittelpunkt stellt, immer wieder verwischt wird. Letztlich handelt es sich um eine tiefe Krise des Internationalismus. Sie hat sich im Zuge der kapitalistischen Globalisierung herausgebildet und nationalstaatliche Antworten rechter oder keynesianischer Provenienz plausibel werden lassen.
Neuer Internationalismus?
Um sich einer neuen, transnationalen linken Erzählung anzunähern, müssen Strategiedebatten nicht nur um das »Wie«, also Fragen der Methode und der Organisierung, sondern auch um das »Wer« und vor allem das »Was« kreisen. Welche Akteure sollen welche Alternativen auf dem Wege einer Neuen Klassenpolitik durchsetzen? Debatten um eine inklusive Klassenpolitik (Wie), um ein linkes Mosaik (Wer), und um Transformation (Was) sollten gemeinsam anhand konkreter Konfliktfelder innerhalb der Lebensweise geführt werden. Wie und an welchen Stellen müssten beispielsweise Gewerkschaften, NGOs, linke Parteien und soziale Bewegungen zusammenarbeiten, um das globale corporate food regime – von der Sojaplantage in Brasilien bis zum deutschen Supermarkt – aufzulösen und eine dezentralisierte Nahrungsmittelproduktion und eine solidarische Ernährungsweise an seine Stelle zu setzen (Oliver Pye, 2017, Für einen labour turn in der Umweltbewegung. Umkämpfte Naturverhältnisse und Strategien sozial-ökologischer Transformation, in: PROKLA 189, 517–534)? Wie könnte es durch Solidaritätsnetzwerke und Commons, internationale ökonomische Unterstützungen, Schuldenschnitte, Vergesellschaftung von Banken und Unternehmen sowie politischen Druck durch Streiks und Demonstrationen in einer Reihe von Ländern gelingen, mit der neoliberalen Sparpolitik in einem Mitgliedsland der EU zu brechen? Es müsste eine Art neuer Internationalismus entwickelt werden, der linke Politik und Brüche im Rahmen des Nationalstaats mit ihren transnationalen Ermöglichungsbedingungen verknüpft und diese zum Teil von Hegemonieprojekten macht (Thomas Sablowski, s. oben, S. 171).
Das Konzept einer »solidarischen De-Globalisierung« im Sinne einer international koordinierten Kontrolle, Auflösung, Dezentrierung und Demokratisierung der Produktions- und Finanznetzwerke des globalen Kapitalismus könnte zu einem gemeinsamen Bezugspunkt einer transnationalen Linken werden. Auch weitere Konzepte – z.B. De-Kommodifizierung, Postwachstum, industrielle Transformation und Konversion, »Infrastruktursozialismus« und Vergesellschaftung, (digitale) Planung und Commons – müssten stärker in linke Vernetzungen und Kämpfe hineingeholt und zu machtpolitisch fundierten Alternativen weiterentwickelt werden, um die bestehende Politik mehr und mehr unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Ohne Gegenerzählung keine Gegenmacht und umgekehrt.
Der Artikel ist zuerst in der Ausgabe 634 von analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis erschienen und Teil eines Schwerpunkts zu »Imperialen Lebensweise« und globaler Ausbeutung.
Sam ist aktiv in der IL Berlin und hat während seiner Jobsuche viel Zeit, um Artikel zu schreiben.
Bild: Matthias Ripp, »Konsum«.