»Diese Bereitschaft zu sagen: Man muss jetzt handeln!«

Zum 50. Jahrestag des 2. Juni 1967 haben wir Andreas, ehemaliges Mitglied der »Bewegung 2. Juni« und von Anfang an bei der Interventionistischen Linken dabei, zu einem Gespräch getroffen. Im ersten Teil des Interviews spricht Andreas über die persönliche und gesellschaftliche Bedeutung des 2. Juni 1967, den Politikansatz der »Bewegung 2. Juni« und das Erbe dieser Zeit.

»Diese Bereitschaft zu sagen: Man muss jetzt handeln!«


Vom 2. Juni 1967 …

2. Juni 1967, wie fühlt sich das für dich an, 50 Jahre danach? Hast Du spezielle Erinnerungen an den Tag?

Ich war damals nicht in Berlin auf der Demo. Der 2. Juni ist daher für mich nicht so sehr durch das geprägt, was dort tatsächlich geschehen ist, sondern dadurch, was ich in der Provinz, im Erziehungsheim, mitgekriegt habe. Der Konflikt, den wir dort hatten, war ganz banal. Trotzdem war es für mich in dem Moment, mit 11 oder 12 Jahren klar: Das ist der Punkt, jetzt muss es anders werden. Im April 1967 ist Adenauer gestorben. Das war das erste und einzige Mal, dass wir im Heim Fernsehen gucken durften. Da wurde von extern ein Fernseher rangeschafft, um dieses Staatsbegräbnis im Fernsehen zu gucken, wie er den Rhein langgeschippert wird. Selbst in den Knästen haben sie das gemacht, dass sie die Leute zum ersten Mal haben Fernsehen lassen, genauso in allen Heimen und Schulen, alles für den antikommunistischen Staatschef. Als dann zwei Monate später Benno Ohnesorg erschossen wurde, haben wir, also ein kleines Grüppchen im Heim, verlangt, dass wir die Übertragung der Beerdigung in Hannover sehen können. Das gab es natürlich nicht, da ist kein Fernseher geholt worden. Das ist die ganz unmittelbare Erinnerung und gleichzeitig zeigt sich ein grundlegender Konflikt: oben und unten, der eine gehört zu uns und der andere gehört zu ihnen.

Bei mir spielt da natürlich die persönliche Geschichte mit rein, ich bin in einem proletarisch-linkskommunistischen Milieu aufgewachsen. Dort war die Bezugnahme oben und unten, die und wir, völlig klar und überhaupt nicht strittig. Das war natürlich minoritär. Die wenigsten Leute, die ich danach traf, hatten eine ähnliche Geschichte, die waren nicht in einem solchen Milieu aufgewachsen. Als Kinder haben wir es als Majorität empfunden, weil die ganze Umgebung so war, Verwandte, die Nachbarn.

Das macht im Rückwärtsdenken betroffen. Erst später kam die Erkenntnis, dass die Gesellschaft ganz anders gesplittet ist, dass auch die Reibungspunkte, an denen Kämpfe entstehen, ganz anders verlaufen und auch verlaufen müssen, weil tatsächlich die Klasse zerstört ist, die proletarischen Stadtviertel zerstört sind. Zehntausende Kommunist*innen sind im Faschismus draufgegangen. Es ist eine völlig andere Situation, wie sie die Arbeiter*innenbewegung vor uns hatte. Das war die Kopferkenntis. Gefühlt habe ich das aber schon, nachdem ich aus dem Heim rauskam, als die Frage der Legalisierung der KPD als DKP und die Gründung der SDAJ aufkam. Wir merkten, dieses Milieu ist so minoritär, das sind die Übriggebliebenen.

Du hast gerade deine eigene Erfahrung geschildert. Welche Bedeutung hatte der 2. Juni 1967 gesamtgesellschaftlich, auch im Verhältnis zu dem viel breiter diskutierten Jahr 1968?

Ich war mit dieser `68er-Bezeichnung immer total unglücklich, weil das den zentralen Punkt gar nicht fasst. Das eigentliche Datum des Einschnitts war tatsächlich der 2. Juni 1967. Am 2. Juni ist eine Entwicklung deutlich geworden, die in den Jahren vorher schon begonnen hatte. Nicht nur, dass dieses autoritäre, konservative, rückwärts gewandte und bigotte Adenauer-Regime zu Ende geht, sondern, dass es tatsächlich Momente der Rebellion und Klassenaneignung gibt. Das fing alles schon vor 1968 an, das ist schon im Gange gewesen: Das Wissen, dass sich etwas ändern muss. Gleichzeitig hat der 2. Juni klargemacht: Wir leben in einem Bürgerkrieg, sie führen Krieg gegen uns – und eigentlich sind wir völlig unvorbereitet. Auch das hat nicht mit dem 2. Juni begonnen. Obwohl wir das nicht selbst erlebt hatten, war unsere Erfahrung doch irgendwie davon geprägt, was vorher lief: nicht nur der Nazifaschismus, sondern auch die 1950er und -60er Jahre, auch der Tod von Phillipp Müller, der bei einer Demo gegen die Wiederaufrüstung von der Polizei ermordet worden war. Diese Erfahrungsstränge kamen an dieser Stelle zusammen. Für uns war es wie ein Beweis, als dann ein dreiviertel Jahr später auf Rudi Dutschke geschossen wurde.

Das war der Fokus auf das Kleine, was für viele Leute gelaufen ist. Das andere ist die gesamtgesellschaftliche und internationale Entwicklung, Aufstände in den Schwarzenghettos der USA und Befreiungskämpfe im Trikont, der Vietnamkrieg. Das war ein epochaler Bruch, da war klar, jetzt muss sich alles ändern, das war ja in tausenden Verästelungen spürbar: Wir haben das überhaupt nicht als Studibewegung empfunden, wir wussten es gab auch Studierende, aber es gab eben auch eine Schüler*innenbewegung, eine Lehrlingsbewegung, Jugendzentren – schon 1968 wurden die ersten geräumt und zerschlagen, die Leute verprügelt. In Hamburg gab es die Jugend- und Sittenpolizei, die damals dafür zuständig war, jede Gruppe zu verprügeln, die herumlungerte oder irgendwie nach »Hippie« oder »Gammler« aussah. Das gehörte zu diesem: »Die führen Krieg gegen uns«. Da gab es nichts Vermittelndes.

Gleichzeitig existierte natürlich in Westdeutschland auf der Ebene der Politik die reale Chance auf eine linke Regierung, die Sozialdemokratie allein an der Macht oder eben mit der FDP. Es gab diesen auf breiter Zustimmung fußenden Reformismus, das hat die ganze Gesellschaft erfasst. Und gleichzeitig haben die Reaktionäre mobil gemacht, das war die Phase, in der die NPD mit über 5 Prozent in Landtage eingezogen ist. Eine ähnliche Bewegung wie der Aufstieg von Pegida und AFD als Reaktion auf »Refugees Welcome«.

… zur Bewegung 2. Juni

Wenn das der gesellschaftliche Hintergrund war: Wie hat sich dein Leben nach dem 2. Juni 1967 entwickelt?

Ich bin danach aus dem Erziehungsheim gekommen, dann nach Hamburg, dann war 68, die Schüsse auf Rudi Dutschke, meine erste Blockade beim Springer-Hochhaus. Das war dann eine ganz andere Situation. Es ist nicht ein einzelnes Datum, sondern ein langgestreckter Prozess, trotzdem in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit. Für mich war schon wenige Jahre später klar: Ich werde in die Guerilla gehen. Das war eine sehr schnelle Entwicklung.

In welchem Verhältnis standet ihr von der Bewegung 2. Juni zu den Ereignissen des 2. Juni 1967?

Das muss man trennen. Wir haben uns zwar sehr bewusst auf den 2. Juni 1967 bezogen, aber wir waren ja nicht die Bewegung des 2. Juni. Das wäre vermessen gewesen und so haben wir auch nie gedacht. Eher wollten wir deutlich machen, dass wir uns auf diese Kämpfe, auf diese Phase, auf dieses Ereignis beziehen – und dass wir denken, dass die Konsequenz, die wir gezogen haben, eine der Konsequenzen sein muss, die die Bewegung insgesamt ziehen müsste. Deswegen Bewegung 2. Juni.

Konkret haben wir gesagt: Man muss den kapitalistischen Staat angreifen, nicht warten, bis unsere Kräfte so stark sind, dass wir angreifen können, sondern den Kampf so entwickeln, dass die Stärke im Kampf entsteht. Wir wollten eine Verbindung herstellen von den lokalen Kämpfen zu den globalen, um unsere Kämpfe in ihnen zu bestimmen. So haben wir unsere Rolle definiert: hier das Zement der Herrschaft zersetzen, damit hier wie international emanzipatorische Entwicklungen Raum zur Entfaltung kriegen.

Auch wenn es dann in der Praxis sehr schwierig zu realisieren war, haben wir von Anfang an versucht, bewaffnete Zellen in den Stadtteilen und in den Fabriken aufzubauen. Wir waren überzeugt, dass die Frage von Macht und Gegenmacht eine ist, die nicht irgendwann entschieden wird, sondern von Anfang an angegangen werden muss. Und sich darin auch so zu organisieren, dass man nicht zerschlagbar ist. Das war für uns eine zentrale Lehre aus der Erfahrung der Arbeiter*innenbewegung und der Niederlage der KPD im Faschismus. Das gehört auch zum 2. Juni, zu dem, was ich ganz am Anfang gesagt habe: das Gefühl, sie führen Krieg gegen uns. Sie sollten uns nicht noch einmal zerschlagen können, ohne dass wir uns wehren. Diese Erfahrung war in der Bewegung 2. Juni eingebrannt, weil wir – zumindest gefühlt stärker als bei der RAF – aus kleinbürgerlich-proletarischen Milieus kamen. Das war das Schlimme gewesen, das hat unsere Eltern, unser Milieu, in dem wir groß wurden, so bestimmt: Es war die stärkste Arbeiter*innenbewegung Europas und trotzdem konnte sie innerhalb weniger Monate zerschlagen werden. Das durfte uns nicht noch einmal passieren. In jeder Diskussion, an jedem Punkt, war das damals super-zentral.

Trotz dieser Bezugnahme auf die historische Erfahrung der Arbeiter*innenbewegung und der KPD habt ihr euch antiautoritär organisiert und verstanden. Was bedeutete das konkret?

Das war im Verhältnis zu den inneren Prozessen der kommunistischen Partei. Wir haben gesagt: Dieser kleinlich-doktrinäre Haufen, das ist nicht unsere Perspektive, dieser Stalinismus. Man muss einen gesellschaftlichen Transformationsprozess ganz anders machen, keine autoritäre Sozialismus-Vorstellung, das ist einfach nicht unser Ding. Wir haben uns in dieser Phase auch viel mit den historischen Erfahrungen auseinandergesetzt, mit Kronstadt, mit dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno, mit der Funktionalisierung der Sowjets und ihrer inneren Entmachtung, das war für uns zentral. Und dann die persönliche Erfahrung von denjenigen, deren Eltern in der KPD waren. Dieses ständige autoritäre Linien-Gucken, sagst du was Falsches? Die Drohung oder das Wissen um die Drohung, dass du »nach Sibirien« kommen kannst und so weiter. Nee, Revolution läuft anders. Das muss ein freier Prozess sein und wir müssen darum kämpfen, dass er frei ist. Das ist ausschlaggebend. Und dann gab es die Ereignisse, die in der Phase natürlich auch dazu gehört haben: Der Einmarsch in Prag. Wir wollen nicht noch einmal einen autoritären Sozialismus, der dann irgendwann auch kein Sozialismus mehr ist. Und natürlich anders leben zu wollen, scheiße! Niemand von uns wollte so leben wie in der DDR – obwohl völlig klar war: das ist uns tausendmal näher, als das, was in Westdeutschland passiert.

Ein Ausblick

Wenn Du jetzt zurückschaust, 50 Jahre nach diesem Aufbruch: Habt ihr verloren, oder war das ein Teilsieg? Wie würdest Du das heute bewerten?

Als Guerilla haben wir natürlich verloren, das ist völlig klar. Ganz objektiv: natürlich ist es uns nicht gelungen, der kleine Motor zu werden, der den großen anschmeißt. Also kleiner Motor vielleicht, aber er hat den großen Motor nicht angeschmissen. Das ist eine Niederlage, für die es Gründe gibt, die aber objektiv ist. Und auf die gesamte Bewegung bezogen, über uns hinaus: Seit Mitte der 1980er Jahre gab es einen gesellschaftlichen Rückschritt nach dem anderen, ein Zurückschrauben dessen, was der demokratische, radikale, gesellschaftliche Aufbruch rund um 1968 gebracht hat. Natürlich sind das alles Momente von Niederlage. Aber trotzdem war es richtig. Wenn du nicht durchkommst, wenn du mit dieser Vorstellung einer weltrevolutionären Strategie, wie wir sie hatten und wovon wir Teil waren, nicht durchkommst, zerrieben wirst an den Widersprüchen, an der Stärke des Kapitalismus, an den inneren Zerfallsprozessen, an der Korruption, dann ist das natürlich eine Niederlage. Gleichzeitig gab es natürlich Momente von Siegen, auch wenn sie dann nicht unsere Siege wurden. Zum Beispiel die ganzen Entkolonialisierungsprozesse, natürlich ist das ein historischer Sieg über den Kolonialismus. Die Vorstellung, dass es in einem viel schnelleren Prozess eine sozialistische Transformation gibt, die hat eine Niederlage erlitten, die ist zerrieben worden unter der Macht des Weltmarktes, aber auch unter der korrupten Vorstellung von Sozialismus, die einige Despoten hatten.

Angesichts dieser Niederlagen: Was bleibt für dich vom 2. Juni 1967? Warum sollten wir uns 50 Jahre danach noch mit ihm beschäftigen?

Weil uns das Ereignis oder dieser epochale Einschnitt 2. Juni 1967 zeigt, wie Bewegungsprozesse und gesellschaftliche Prozesse laufen, wie wir von ihnen bestimmt werden und wie wir sie bestimmen können. Deshalb ist es richtig, sich positiv und eindeutig auf den Prozess zu beziehen, der damals losgetreten wurde. Es war mit das Beste, was das vergangene Jahrhundert hervorgebracht hat. International gemeinsam kämpfen, die Sache der weltweit Unterdrückten zur eigenen Sache machen – und gegen die überkommenden Verhältnisse das radikale Leben einfordern. Eben praktisch zu machen: das ist unser Weg. Bezugspunkt müssen die radikalen, emanzipatorischen Prozesse sein – und dafür steht der 2. Juni. Diese Bereitschaft, zu sagen: man muss jetzt handeln!

Der zweite Teil des Interviews erscheint kommende Woche. Darin spricht Andreas über sein Verhältnis zur radikalen Linken der Gegenwart, die Notwendigkeit einer internationalistischen Haltung und die Möglichkeiten eines neuen Aufbruchs.

Bild: Nach den Schüssen in der Krummen Straße am 2. Juni 1967. Benno Ohnesorg, neben ihm Friederike Haussmann - von: Jürgen Henschel