»Wir können uns nicht befreien, wenn wir nichts dafür tun, dass sich andere befreien!«

Zum 50. Jahrestag des 2. Juni 1967 haben wir Andreas, ehemaliges Mitglied der »Bewegung 2. Juni« und von Anfang an bei der Interventionistischen Linken dabei, zu einem Gespräch getroffen. Im zweiten Teil des Interviews spricht Andreas über die Unterschiede zwischen damals und heute, die Notwendigkeit einer internationalistischen Haltung und die schwierige Suche nach einer neuen weltrevolutionären Strategie.

Der erste Teil des Interviews ist hier nachzulesen.

»Wir können uns nicht befreien, wenn wir nichts dafür tun, dass sich andere befreien!«

Andreas, im ersten Teil des Interviews hast Du beschrieben, wie der 2. Juni 1967 für Euch etwas klar gemacht hat: »Die führen Krieg gegen uns«. Wenn das ein wichtiger Ausgangspunkt für Eure Rebellion war – fehlt diese Erfahrung heute oder verläuft die Konfrontationslinie an einem anderen Punkt?

Natürlich führen sie immer noch Krieg gegen uns. Dieser Ausnahmezustand hat sich normalisiert und ist ein permanenter geworden, international, aber auch hier. Mit seinen NoGo-Areas, Folterenklaven, Dauerlagern, Kriegsgebieten – und natürlich den Wohlstandsinseln inmitten des Elends. Und es ist etwas anderes passiert: Die Erfahrung dieses sozialen Krieges von oben ist verwoben mit dem unterschiedslos gewordenen »Terror der Schwachen« - und ist in keinster Weise mehr gekoppelt an eine Möglichkeit des Aufbruchs. Das würde ich als den entscheidenden Unterschied markieren. Nicht Repression und Unterdrückung mobilisiert, sondern die kollektiv erfasste Option des Widerstandes. Ohne die sitzt nur die Furcht im Nacken. Faktisch passiert den allermeisten Aktivist*innen in Deutschland aktuell gar nix und droht auch nichts. Die Wahrnehmung ist aber eine andere. Das ist Teil der herrschenden Angststrategie. Wir dagegen müssen Mut machen.

Denn auch damals hatten wir es mit einer repressiven Regierung zu tun und die Mehrheitsgesellschaft war rechts und wir nur eine kleine radikale Minderheit. Dem 2. Juni 1967 sind die Diskussionen um die Notstandsgesetze vorausgegangen, dann kamen die Schüsse auf Ohnesorg und später auf Dutschke, das hat das Bild abgerundet und auf den Punkt gebracht. Aber es lähmte nicht, weil in tausend Rebellionen rund um den Globus eine Möglichkeit des Handels spürbar und sichtbar wurde. Deswegen hatten alle eine Antwort, egal wie unklar und ideologisch die war. Und alle waren fest überzeugt: Wenn wir es so machen, können wir wirklich etwas verändern.

Eines unser Probleme heute ist dagegen, dass es selbst denjenigen, die sich wehren, kaum gelingt, überzeugend eine echte Perspektive der Hoffnung und Veränderung zu vermitteln. Es fehlt uns die notwendige Glaubwürdigkeit, es ernst zu meinen. Unsere NoG20-Plakate bringen diese Dialektik auf den Punkt: Hoffnung kommt von Rebellion, Rebellion entsteht aus Hoffnung. Jetzt müssen wir das mit Leben füllen.

Aber hat die veränderte Wahrnehmung von Repression nicht auch damit zu tun, dass ein Teil der Leute seit den »1968er Jahren« tatsächlich viel mehr Freiheiten genießt, dass die Gesellschaft insgesamt liberaler geworden ist – und sich deshalb die Bedingungen von Protest und Widerstand grundlegend verändert haben?

Natürlich, das ist so. Und gleichzeitig existiert beides ganz eng nebeneinander. Nehmt die Situation hier in Frankfurt: Einerseits gibt es das beschwerdehafte Lob des Yuppie-Krawalls am Friedberger Platz im Nordend. Aber denen werden Toiletten hingestellt. Es wurden die beiden Mainseiten wunderbar ausgebaut, damit man da nett sitzen kann, auch abends ohne vertrieben zu werden. Aber wenn 30 migrantische oder arme deutsche Jugendliche im Gutleutviertel, in Griesheim oder in Sossenheim nachts feiern, dann kommen immer die Bullen. Das gibt es ja weiterhin. Es kommt darauf an, ob man zum notwendigen Personal der Global City gehört. Oder ob man zu den Überflüssigen gezählt wird.

Milieus und Orte der Rebellion

Jetzt könnte man natürlich ketzerisch fragen, warum die Linken früher offensichtlich zu denen gezählt haben, die man nicht wollte, und warum das heute anders ist.

Wenn ich ketzerisch antworte: Weil wir aus diesem Milieu kamen und heute halt nicht mehr. Aber das stimmt ja nur zum Teil. Die Bewegungen der 1960er und -70er Jahren bestanden eben nicht nur aus Studierenden. Die gab es auch, das waren oft auch die Wortführer. Aber es war eben auch eine proletarische Jugendbewegung – nicht unbedingt im parteikommunistischen Sinne, sondern auch die Underdogs, Subproleten, Aussteigenden und sich Verweigernden. Vom Aufstand in den Erziehungsheimen und den Obdachlosenquartieren über die damals so genannten »Zigeunerlager« bis zum Kampf um die Jugendzentren in den Stadtteilen. Ich erinnere mich an eine große Lehrlingsdemo in Hamburg gemeinsam mit den Rockern. Das war nicht so ungewöhnlich. Es war genauso ein Kern der gesellschaftlichen Veränderung wie eben der SDS.

Die Frage heute ist wohl eher, warum das Milieu, aus dem man kommt, kaum mehr ein Bezugspunkt ist, noch weniger Ort der Radikalisierung oder gemeinsamen Organisierung. Das hat natürlich mit der Zersplitterung der Gesellschaft und der Milieus zu tun, dass es diese ursprünglichen Orte des Klasse-Werdens, der Rebellion und des Widerstands nicht mehr gibt.

Aber diese Entwicklung ist doch bereits viel länger im Gange, oder nicht?

Genau deshalb haben wir von der »Bewegung 2. Juni« und andere auch gesagt, dass diese Orte nur im Kampf entstehen können und entsprechend aktiv hergestellt werden müssen. Das war auch gegen die Nostalgie und den Proletkult der aufstrebenden ML-Gruppen, die die völlig veränderte metropolitane Klassenrealität nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Zu dieser Erkenntnis gehörte auch, dass solche Orte der Klassenkonstituierung nicht statisch oder dauerhaft sein können. Deswegen hatten wir auch kein sonderliches Interesse an institutionellen Formen. Das muss man zusammen begreifen und zusammen lernen, solche Momente anzustoßen, Konfliktlinien aufzubauen, an denen diese Orte entstehen, in denen eine Neuzusammensetzung der Klasse stattfindet. Das ist die Herausforderung, weil das schwierig und beunruhigend ist: das Feld der objektiven Klassenlage zu verlassen.

Aber natürlich gibt es diese Konfliktlinien auch heute, z.B. im Kampf um »gleiche Rechte für alle«. Da lässt sich einerseits klar machen, wie die Gesellschaft aktuell entlang von Klassen, Geschlechtern und Rassismus, von oben und unten, gespalten ist; und andererseits lässt sich eine Neuzusammensetzung anstoßen, weil die Reibungspunkte nicht entlang der Frage verlaufen, ob ich von der Uni komme oder aus der Fabrik. Daran lassen sich Kämpfe entwickeln und vorübergehende Orte schaffen, im Sinne von »Social Center for All« oder »Frankfurt für Alle«. Das geht aber auch temporär über Konflikte, die uns von außen aufgedrückt werden, wie Gipfelevents wie der G20 in Hamburg, oder, selbstgewählt, wie Blockupy usw., weil es natürlich darum geht, das oppositionelle Lager nicht nur im lokalen sichtbar zu machen.

Fort- und Rückschritte

Bevor wir zur Frage nach den aktuellen Strategien übergehen, lass uns noch ein bisschen bei den Unterschieden zwischen damals und heute bleiben. Gibt es aus deiner Sicht denn Dinge, in denen die Bewegung heute weiter ist, als sie es z.B. in den 1970er Jahren war?

Ja, auf jeden Fall. Junge Genoss*innen wissen heute zehntausend mal mehr, als wir jemals gewusst haben: darüber, wie Kapitalismus funktioniert, wie Unterdrückung funktioniert, gerade an der ganzen Frage von patriarchalen Strukturen und Geschlechterverhältnissen. Wenn man sich den schriftlichen Output ansieht, z.B. aus den 1970er Jahren, der war ja marginal im Verhältnis zu heute. Damals waren vielleicht 15 Bücher für mich zentral. Heute gibt es tausende. Und da stehen ja keine verkehrten Sachen drinnen, ganz im Gegenteil. Das ist auf jeden Fall viel weiter. Mich stört allerdings die weitgehende akademische Herangehensweise. Viel zu selten wird die Frage aufgeworfen: was heißt das denn für unseren Kampf? Wie wollen wir uns organisieren, welche Beziehungen wollen wir untereinander?

Insgesamt passiert viel mehr, gerade auch in organisierter Form. Zum Beispiel im Antira-Bereich: das Ausmaß, die Vielfältigkeit, die Eigenständigkeit von tausenden vernünftigen und richtigen Initiativen. Das finde ich richtig gut. Gleichzeitig sehe ich oft auch eine totale Begrenztheit und ein fehlendes Bedürfnis, den eigenen Kampf in einen anderen, breiteren Kontext zu stellen. Für mich war immer klar: neben jeder Lehrlingsinitiative, jeder Stadtteilgruppe, jeder Jugendzentrumsaktion oder was auch immer, gibt es noch den Strang der radikalen, revolutionären, kommunistischen Organisierung. Wir wären nie zufrieden gewesen, unsere Initiativen nur als eigenständiges Projekt zu denken.

Allerdings ist dieses Verhältnis von kleinteiliger, alltäglicher Praxis und übergeordneter Orientierung ja tatsächlich nicht immer einfach zu bestimmen. In der Guerilla war uns wichtig, dass jedes Kommando, jede Zelle, fähig wird autonom und selbstständig zu handeln und – überspitzt formuliert – selbst den Befehl zum Aufstand geben kann, weil es das Ganze denkt, weil es Teil des Ganzen ist. Das hieß für uns: nicht mehr abhängig zu sein von Führung, sondern selbst Führung zu werden.

Obwohl kaum noch jemand in diesen Begriffen denkt, können heute mehr politische Aktivst*innen ihre Handlungen selbst bestimmen. Allerdings ist der Horizont, in dem diese definiert werden, enger geworden. Einerseits muss also niemand mehr auf Radio Moskau, Peking oder Havanna warten, um zu wissen, was zu tun ist. Andererseits hat aber zum Beispiel im Spätsommer und Herbst 2015 unser kollektives »Radio der Unterdrückten« und die Stimme gefehlt, die sagt: Lasst alles stehen und liegen, wir müssen jetzt das Außenministerium stürmen und erzwingen, dass die Grenzen geöffnet werden. Das hätte ich mir gewünscht, dass kollektiv verstanden wird, dass das jetzt der einzig richtige und vernünftige »Befehl« wäre – und der ist ausgeblieben. Wenn wir Merkel da hin getrieben hätten, die Grenzen zu öffnen, dann hätte diese massenhafte, 100.000fache Bereitschaft von Leuten, konkret zu helfen, tatsächlich eine Bewegungsdynamik eröffnen können. Dann wären die Verhältnisse heute wirklich anders und der Rechtsruck hätte einen realen Gegner.

Die Notwendigkeit einer internationalistischen Haltung

Wenn wir schon bei den Stärken und Schwächen der heutigen Linken sind: Gibt es denn etwas, was dich an ihr wirklich stört?

Es gibt eine Entwicklung, mit der ich überhaupt nicht einverstanden bin: Die Tendenz, nur die nationale Ebene und den BRD-Staat als politischen Horizont zu begreifen, aus dem heraus man seine eigene Politik bestimmt. Das finde ich theoretisch wie praktisch sowas von rückständig. Als weiße Metropolenlinke müssen wir immer aufpassen, nicht den Fehler zu wiederholen, den große Teile der Linken vor uns gemacht haben: Die hiesige Arbeiter*innenklasse zu verteidigen auf Kosten der Unterdrückten im globalen Süden. Das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung: Wir können uns nicht befreien, wenn wir nichts dafür tun, dass sich andere befreien!

Für uns müssen doch die Milliarden Menschen, die im globalen Kapitalismus leben, in ihm gedemütigt, geschlagen und ausgebeutet werden der Bezugspunkt sein! Und das ist gar nicht mal so ganz woanders. Mindestens 20 Jahre alt ist schon die Erkenntnis in diesen alten Begriffen, von der Dritten Welt in der Ersten – und der Ersten Welt in der Dritten, eben die vertikale Klassenspaltung im Weltmaßstab. Warum sind das nicht unsere Leute?

Wir müssten doch längst kapiert haben, dass wir hier immer nur temporär gewinnen, wenn das kapitalistische System in seinen Kernstaaten von vielen Seiten bedroht ist und in ihm eine antagonistische Kraft entsteht. Auch das westdeutsche Wohlfahrtssystem gab es nur, weil »der Osten« vermeintlich rot war und in Südostasien antikoloniale Kämpfe den globalen Kapitalismus bedrohten. Nachdem das weg war, ist ein Einschnitt nach dem anderen gelaufen, auch Hartz IV gehört dazu. So ist jeder vergangene Fortschritt der »sozialen Demokratie« in Europa auch Ergebnis der Kämpfe anderswo. Das ist die Dialektik von Reform und Konterrevolution.

Aber bestimmen wir umgekehrt unsere Kämpfe, unsere Interventionen als Bedingung dafür, dass sie sich anderswo weiterentwickeln können? Nehmen wir den »Arabischen Frühlings« als Beispiel. Innerhalb der interventionistischen wie der Linken insgesamt war es eine minoritäre Position, zu sagen: Es ist unsere Verantwortung, ob die einen Raum haben, in dem emanzipatorische Prozesse entstehen können – da müssen wir ansetzen, da müssen wir handeln! Es dominierte die selbstgefällige Haltung: Mal gucken, was die so machen – und dabei eigentlich zu wissen: Irgendwann werden die eh von den Islamisten eingeholt. Nach 30 Jahren bricht da etwas auf – und wir verhalten uns wie die Zuschauer. Bis in den mörderischen Exzess des syrischen Bürgerkrieges hinein. Das ist kein Vorwurf, nicht an diese oder jene Person, sondern an uns alle: Scheiße, wir sind nicht auf der Höhe der Zeit, wenn wir so sind!

Aber gibt es aktuell in der Linken hierzulande nicht unheimlich viele Bezugnahmen auf die Bewegungen und Kämpfe an anderen Orten, einen neuen Aufschwung internationaler Solidaritätsarbeit? Ist das nicht die Haltung, die Du meinst?

Solidaritätsarbeit ist etwas anderes als seine eigene Politik und ihre Notwendigkeiten und Möglichkeiten im internationalen Kontext von Befreiung und Emanzipation zu bestimmen. Und das ersetzt wiederum nicht konkrete Solidaritätsarbeit. Ich finde es z.B. toll, was zu Kobane und Rojava läuft, dass Feuerwehrautos organisiert und Kliniken aufgebaut werden, dass es Städtepartnerschaften gibt und Genoss*innen dort hingehen, um gemeinsam zu kämpfen.

Aber es geht doch auch darum, hier so anzugreifen, einen Konflikt auf die Spitze zu treiben, damit der Gegner in einer Konfrontation gefangen bleibt und anderswo dafür ein politischer Raum aufgeht. Die Befriedung der metropolitanen Linken ist genauso wie der Zusammenbruch des sowjetischen Lagers Voraussetzung gewesen, dass der Westen z.B. in Jugoslawien intervenieren konnte: Als klar war, dass die Linke keine Rolle mehr spielt, konnten sie wieder Belgrad bombardieren. Man muss keinen Kaffeesatz lesen können, um diesen Zusammenhang zu sehen. Was immer das konkret gehießen hätte, manchmal ist es schon wichtig genug, bereit zu sein, die eigene Politik so zu denken – allein schon um die Lücken in Theorie und Praxis nicht mit ideologischen Rechtfertigungen zuzukleistern.

In dieser Differenz hatten wir unseren Kampf bestimmt, und daraus das Verhältnis: Wir greifen sie hier an. Obwohl in Europa die Voraussetzungen für einen bewaffneten Kampf nicht existierten, wenn damit gemeint war, »die Massen sind noch nicht so weit«. Das hat ja immer gestimmt, das haben wir nie abgestritten. Aber das war eben nicht der einzige Punkt, auf dem sich unsere Politik begründet hat, sondern es war klar, dass wir Teil eines internationalen Klassenkampfes sind und man sich da drinnen verhalten muss. Das war teilweise so zentral, dass es dominant wurde und anderes dahinter verschwunden ist. Das waren dann die konkreten Fehler. Aber es war immer der Bezugspunkt, hier in den Metropolen anzugreifen, im »Herz der Bestie«.

Dass genau diese Formulierung von Blockupy wieder aufgerufen wurde, ist ja kein Zufall, da steckt im Keim das Gleiche drin: Hier im Zentrum der Macht den Verantwortlichen einen Konflikt aufzwingen – nicht als Solidarität für irgendwelche griechischen Suppenküchen, sondern damit dort ein Raum entsteht, in ihrem Widerstand stark zu bleiben. Ein dynamischeres Blockupy auch noch während der OXI-Kampagne – und es wäre unmöglich geworden, das griechische Nein wieder auszuhebeln. So eine Dynamik kann man natürlich nicht am Reißbrett entwerfen, aber man muss seine konkrete Politik entsprechend ausrichten. Die Frage ist: Treibt einen das an, ist das die Haltung?

Gesucht: Eine neue weltrevolutionäre Strategie

Aber selbst wenn einige mehr eine solche Haltung hätten: Wäre das Argument nicht trotzdem richtig, dass es sich eigentlich um eine voluntaristische Anrufung handelt, weil die Basis für einen solchen Angriff fehlt und man sich dadurch noch weiter marginalisiert?

Ja, das mit dem Voluntarismus …[lacht] … jein: Weil ich natürlich sage, das es analytisch gesehen das Richtige ist, insofern ist es nicht voluntaristisch, wenn man es tut. Das Problem ist eher – und deshalb bin ich auch nicht mehr in der Guerilla, deswegen gibt es sie gegenwärtig genauso wenig wie eine revolutionäre Linke – dass natürlich etwas gebrochen ist, wofür es noch keine Lösung gibt, nämlich die glaubwürdige Zuversicht: Wenn wir so kämpfen, können wir gewinnen. Wenn alle in der Welt es machen, wird die Erde rot werden. Das kann gegenwärtig niemand behaupten. Ansonsten wäre es genau das Realistische, was man tun müsste.

Sehen wir zusammen, dass dieser Punkt eigentlich unser wichtigstes Projekt sein müsste? Eine Vorstellung gesellschaftlicher Veränderung im globalen Maßstab? Kapitalismus zerschlagen und etwas Neues aufbauen? Bis Mitte der 1980er Jahre schien das klar zu sein. Jetzt ist klar, dass es nicht klar war, auch damals schon nicht. Aber das müsste eigentlich unser zentraler Punkt sein, wirkliche Arbeit an einer weltrevolutionären Vorstellung. Gute Stadtteilarbeit machen wir doch mit links – aber das? Im Bild der »Einkreisung der Städte durch die Dörfer« war so eine Vorstellung präsent, ebenso in »Zwei, drei viele Vietnams«, oder noch vorher die Vorstellung vom Massenstreik, Massenaufstand usw. All diese Vorstellungen sind an Grenzen gekommen, es hat sich gezeigt, dass sie falsch waren oder zu kurz griffen. Zum Glück entwickelt sich das nur im Kampf, nicht in der Studierstube. Insofern ist auch die Frage, wer sind unsere Bündnispartner, wer sind die sozialen und politischen Bewegungen und Gruppen in aller Welt, auf die wir uns beziehen, mit denen wir diese Diskussionen führen, natürlich von zentraler Bedeutung. Weil wir diese Perspektive ja nicht alleine entwickeln können. Schon gar nicht im miefigen Deutschland. Und erstrecht nicht, wenn man die eigenen guten Ansätze, wie z.B. des Metropolen- oder gesellschaftlichen Streiks oder die »Commune of Europe« nicht ernstfach betreibt und wie ne Eintagsfliege verenden lässt.

Aber wie kommen wir denn jetzt aus dieser Situation wieder raus? Die bisherigen Vorstellungen sind gescheitert und die jüngeren Generationen haben gar nicht mehr das Gefühl, dass es so etwas wie eine weltrevolutionäre Strategie überhaupt geben könnte.

Solche Vorstellungen gibt es im Keim immer, sie entstehen fortwährend. Zum Beispiel bei den Zapatistas: Den eigenen Kampf als Teil eines größeren Umbruchsprozesses zu begreifen, der zwar erstmal lokal gedacht ist, aber global wirken soll. Und konkrete Vorschläge zu machen, wie man einen solchen Prozess entwickeln kann. Ebenso in Rojava. Das sind alles Mosaiksteinchen, in denen etwas Gemeinsames für uns alle entsteht. Allerdings sind die Zeitabstände, in denen Momente revolutionärer Strategie entstehen, wahnsinnig auseinandergerissen. Und es fehlt noch eine Antwort, wie wir das weiterentwickeln, wie es sich aufeinander beziehen kann, damit es eben nicht nur vorübergehend existiert. Diese Dynamik kann nur aus Kämpfen kommen, die sich global neu zusammensetzen. Davon müssen wir Teil werden.

Mögliche Wege

Heißt das, wir müssen jetzt einfach nur warten, bis anderswo ein neuer weltrevolutionärer Prozess beginnt?

Nein, nicht abwarten. Im Gegenteil. Wir müssen bestimmen, an welchen gesellschaftlichen Spaltungen wir ansetzen und dabei genau von der besonderen Realität der kapitalistischen Metropole ausgehen – und was sie mit den Menschen macht.

Relevant ist da z.B. immer noch, was wir den »24 Stunden Tag des Kapitals« genannt haben, also den Umstand, dass wir nicht nur während der Arbeit ausgebeutet werden, dass wir alle Teil des Systems sind, dass wir in all unseren Handlungen zur Reproduktion des Kapitalismus beitragen – dass wir ihn darin aber auch zerstören können, weil wir selbst zerstört werden. Wir hatten versucht, das in Sätzen zu fassen wie »Wir essen kein Brot, sondern Reklame!« oder »Aus der Krankheit eine Waffe machen!«. All diese Erscheinungsformen der totalen Durchdringung unserer eigenen Existenz und jeder unserer Lebensäußerungen durch die Verwertungslogik des Kapitals, sind aktuell nicht Anknüpfungspunkt für politisches Handeln. Überhaupt nicht. Oder haben wir eine kollektiv erarbeitete Konsum- oder Warenkritik, eine Kritik des Images, der Werbung, des Outfits?

Ich behaupte, das »Burnout-Syndrom« ist längst das zentrale Symbol des gegenwärtigen Kapitalismus in den Metropolen. Trotzdem spielt es für unser Handeln überhaupt keine Rolle. Wenn die Möglichkeit der Teilhabe an den Glückseligkeiten des gegenwärtigen Kapitalismus ausschließlich vom Portmonee und der Fitness abhängt, aber es außerhalb der kapitalistischen Beglückung keine mehr gibt, dann ist Leiden und Krankwerden ein Knackpunkt, an dem neue Kämpfe, Bedürfnisse, Reibungen und Aufbrüche entstehen. Die Frage ist: Dreht es sich um in Grauseligkeiten, in Gewaltexzesse oder Sexismus in Haufenform, wonach es im Moment eher aussieht. Oder dreht es sich in eine andere, emanzipatorische Richtung?

Aber ist es aktuell nicht sogar so, dass die Leute das Gefühl haben, dass die Politik zu ihrem Burnout beiträgt und sie krank macht? Weil wir eigentlich in der Form, wie wir uns organisieren, auch bestimmte Anerkennungs- und Leistungsmuster reproduzieren?

Klar, Widerstand kann auch krank machen. Aber erstmal macht er gesund. Widerstand ist die beste Medizin. Das Problem ist nicht der Widerstand, sondern z.B. die immer wieder einkehrende bürgerliche Arbeitsteilung, die sich kaum davon unterscheidet, als wenn ich das für eine Werbeagentur mache. Es sind die bürgerlich-kapitalistischen Verhaltensnormen, die sich im eigenen Prozess fortsetzen. Dass man darunter leidet und dass dieses Leiden auch krank machen kann, das ist ja klar. Aber kollektiv etwas Neues zu machen, einen Aufbruch zu wagen – das macht nicht krank, das macht gesund.

Organisieren – aber wie?

Stichwort etwas Neues machen: Wenn Du abschließend ein Resümee über deine Organisierungserfahrung ziehen müsstest – wie würde das denn ausfallen? Mit welcher Perspektive guckst Du aus dieser Erfahrung auf das Projekt der IL, wie setzt Du das ins Verhältnis zu dem, wie Du vorher organisiert warst? Was würdest Du dir erwarten, was hast Du schon längst aufgegeben, wo siehst Du Dinge wiederkehren?

Ich hoffe, dass ich das nicht direkt ins Verhältnis setze. Nicht nur, weil das Vergangene natürlich keine reine Erfolgsgeschichte war. Trotzdem hat mich das natürlich geprägt und dazu beigetragen, neugierig zu bleiben. Mit anderen erschien es mir als eine Konsequenz aus dem Leerlaufen bisheriger radikaler linker Politik nach den 1990er Jahren richtig, ein Projekt wie die IL mit auf den Weg zu bringen. »Alles hat seine Zeit«, haben wir woanders gesagt. Das war die Erfahrung, dass wir nach 30 Jahren »Neue Linke« die damaligen politischen und organisatorischen Vorstellungen nicht einfach fortsetzten können. Dass die traditionelle, die autonome wie die anti-imperialistische Linke, die themenorientierten wie die Basisgruppen und was es noch alles gab, aus der Begrenztheit und eingefahrenen Beharrlichkeit raus müssen, damit ihre konstruktiven Beiträge zu Strategie und Taktik revolutionärer Politik überhaupt Bestand haben. Es musste was Neues her, ein Projekt, das wieder eine gesellschaftliche Intervention wagt und in Gang setzen will, und sich dabei bewusst ist, das es nur geht, wenn es sich als kollektiver Ort von Strategiefindung bestimmt. Also auch eine Organisation neuen Typus und neuer Zusammensetzung wird. Und dabei davon ausgeht, dass man nicht die Weisheit gefressen haben muss, um loslegen zu können.

Die Frage ist natürlich: ist die IL noch auf diesem Weg, ist das noch Suchen und Prozess? Ich denke, dass für viele Aktive der beschriebene Ausgangspunkt schon nicht mehr gilt. Allein schon, weil sie nicht aus der Überwindung des eigenen begrenzten Politikansatzes kommen und so herum der fehlende Ort kollektiver Strategie und Wirksamkeit in der lokalen autonomen Gruppe auch nicht vermisst wird. Im besten Fall wird er heute in der IL vorausgesetzt. Ich fürchte allerdings die selbstgenügsame Fortsetzung lokaler postautonomer Praxis, die glaubt, das Label überregionaler Organisierung allein würde schon das real Neue sein. Das macht mir etwas aus, weil ich die Gefahr sehe, dass es bieder, behäbig und selbstzufrieden wird. Ich kann auch nichts mit diesem Gefühl anfangen, das mir immer mal wieder Genoss*innen vermitteln, nichts machen, nichts bewegen zu können: Das stimmt doch alles nicht. Wir können etwas bewegen! Daher ist es wichtig, die eigenen Routinen regelmäßig aufzubrechen, damit sich der eigene Haufen immer wieder neu zusammensetzen kann. In diesem Sinn hab ich schon manchmal das Bedürfnis: Bombardiert die Hauptquartiere, machen wir das nochmal!

Bild: Demonstrationsaufruf zur Internationalen Vietnam-Konferenz in Berlin am 18. Februar 1968.