Zivilgesellschaft und Solidarität in der Türkei nach den Erdbeben

Während der türkische Staat mit neoliberalem Urbanismus und autoritärer Politik auf die verheerenden Erdbeben in der Südtürkei und in Syrien im Februar 2023 reagiert, bemühen sich feministische und zivilgesellschaftliche Gruppen um eine solidarische Katastrophenhilfe. Ülker Sözen beschreibt in ihrem Beitrag die zivilgesellschaftliche Bewältigung der Krise mehrere Monate nach den Beben.

Seit den verheerenden Erdbeben in Maraş und Hatay sind nun mehrere Monate vergangen. Diese Erdbeben haben weite Gebiete im Süden der Türkei mit einer Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen betroffen. Die Ausmaße der Zerstörung sind mittlerweile deutlich erkennbar. Offiziellen Angaben zufolge sind über 50.000 Menschen ums Leben gekommen, 18.000 Gebäude eingestürzt, und fast 3 Millionen Menschen haben das Katastrophengebiet verlassen. Abgesehen von den menschlichen Verlusten und der Zerstörung sozialer Infrastruktur, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erdbeben laut Schätzungen der UNO enorm. Die bereits durch die anhaltende Währungskrise geschwächte türkische Wirtschaft wird voraussichtlich einen Schaden von über 100 Milliarden Dollar erleiden.

Der türkische Katastrophen- und Notfallmanagement-Vorsitz (AFAD) hat kürzlich bekannt gegeben, dass mehr als 2 Millionen Menschen in vorläufigen Siedlungen im Katastrophengebiet leben. Lediglich 40.000 Menschen haben Container zur Verfügung, während der Rest in Zelten unterkommen muss. Diese Zelte bieten keinen ausreichenden Schutz vor Regen und Überschwemmungen. Während heftiger Regenfälle im März kosteten diese Bedingungen 18 Menschen das Leben. Die Bewohner*innen der Zeltlager und die vor Ort tätigen Aktivist*innen berichten von infrastrukturellen Problemen sowie von einem Mangel an lebenswichtigen Gütern, wie sauberem Wasser, Nahrung und Kleidung. Zusätzlich sind Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, LGBTIQ+ und andere benachteiligte soziale Gruppen, wie syrische Migrant*innen und ethnische Minderheiten, besorgniserregend. Mit der Zeit rücken die Erdbeben zunehmend in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, was zu einem Rückgang von Spenden und zivilgesellschaftlichen Solidaritätsaktionen führt.

Ursachen der Katastrophe: Neoliberaler Urbanismus und Autoritarismus

Das verheerende Ausmaß der Zerstörung zeigt den politischen Charakter dieser Katastrophe und ist eine direkte Konsequenz der unzureichenden Vorbereitung auf Notfallsituationen sowie der weit verbreiteten Korruption unter der Regierung der AKP. Die Abwesenheit staatlicher Unterstützung und das Versagen öffentlicher Behörden nach den Erdbeben werden das ohnehin schon bestehende Misstrauen der türkischen Gesellschaft gegenüber dem Staat weiter vertiefen.

Ein weiterer maßgeblicher Faktor für die Verwüstung und den Verlust zahlreicher Menschenleben ist die unkontrollierte neoliberale Stadtentwicklungspolitik, die von der AKP als zentrales Mittel zur Profitgenerierung und als Instrument ihrer Klientelpolitik eingesetzt wurde. Diese Politik beinhaltet die Enteignung risikoreicher Gebiete, darunter landwirtschaftliche Flächen und Flussufer, sowie den Bau von Wohnhochhäusern, die sich mittlere und einkommensschwache Bevölkerungsgruppen kaum leisten können. Diese Vorgehensweise verstärkt die ohnehin hohe Verschuldung der türkischen Gesellschaft. Kurz nach den Erdbeben verkündete die Regierung ihre Lösung für die Wohnungsproblematik: Sie setzt auf die Fortführung des Verschuldungsregimes und die Urbanisierung neuer Gebiete innerhalb des kommenden Jahres, die - wenig überraschend - willkürlich ausgewählt wurden und den wirtschaftlichen Interessen der AKP-Elite dienen.

Die TMMOB (Union der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern), der Dachverband von Fachleuten und Expert*innen, die eine verfassungsmäßige öffentliche Rolle bei der Überwachung von Bau- und Stadtplanungspraktiken innehat, äußert ihre Besorgnis über den knappen Zeitrahmen für den Wiederaufbau in den Katastrophengebieten. Sie kritisiert die intransparente Stadtplanung von oben nach unten. Um sichere, integrative und gleichberechtigte städtische Gebiete zu schaffen, die zukünftigen Erdbeben und Katastrophen standhalten können, betont sie die Notwendigkeit einer demokratischen Beteiligung der Öffentlichkeit und von Fachleuten. Dieser Prozess benötigt jedoch Zeit.

Soziale Mobilisierung nach der Katastrophe

Trotz der Repression gegen die Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in den letzten zehn Jahren, insbesondere während der Gezi-Proteste, gab es nach den Erdbeben eine beachtliche soziale Mobilisierung, vor allem in den ersten beiden Monaten. Viele Bürger*innen wandten sich an nichtstaatliche und unabhängige Organisationen, um angesichts der Unzulänglichkeiten und staatlichen Korruption zu spenden und ehrenamtlich tätig zu werden. Zivilgesellschaftliche humanitäre Organisationen konnten im Vergleich zu staatlichen Stellen schneller und effektiver Hilfe im Katastrophengebiet leisten.

Verschiedene zivile Initiativen und freiwillige Helfer*innen eilten in die Erdbebenregion, führten Such- und Rettungsaktionen durch und kümmerten sich um die Versorgung der Überlebenden. Besonders wirkungsvoll waren feministische, gewerkschaftliche, linke politische Parteien und sozialistische Organisationen, die aufgrund ihrer organisatorischen Netzwerke und Erfahrungen effizient agieren konnten. Dennoch sind die Herausforderungen, die die Katastrophe und die damit einhergehenden sozialen Bedürfnisse mit sich bringen, komplex und langfristig. Sie erfordern erhebliche Ressourcen, menschliche Anstrengungen, Zeit und Fachwissen. Mit der abnehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit und den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die türkische Gesellschaft sinken auch die Spenden und das ehrenamtliche Engagement in den Lagergebieten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Katastrophe als Ergebnis einer autoritären und neoliberalen Regierungsführung betrachtet werden kann. Die Auswirkungen von Ungleichheit und Diskriminierung auf die Überlebenden werden durch diese Ereignisse verschärft. Daher müssen die sozialen Mobilisierungs- und Solidaritätsbemühungen Gerechtigkeit einfordern, die Verantwortlichen anklagen, die Wunden der Überlebenden heilen und sie – soweit möglich - ermächtigen.

Die Komplexität von Solidarität und Hoffnung

Vor Ort berichten freiwillige Helfer*innen von einer alarmierenden räumlichen und sozialen Fragmentierung in den Katastrophengebieten. Diese führt zu einer weiteren Marginalisierung einkommensschwacher Gruppen, religiöser Minderheiten und syrischer Migrant*innen, die zweifellos die am stärksten benachteiligte soziale Gruppe in der Region sind. Zudem unterstützt die Regierung fundamentalistische religiöse Organisationen in den Katastrophengebieten, um soziale Kontrolle auszuüben und den Einfluss der autonomen Zivilgesellschaft und sozialer Bewegungen zu unterdrücken.

Die geschlechtsspezifische Gewalt nimmt in den Lagern aufgrund des religiösen Konservatismus und der patriarchalen Struktur der Gesellschaft zu. In diesem Umfeld ist der Zugang zu Schutzmechanismen für Frauen und LGBTQI+ stark eingeschränkt und sie werden aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen. Frauen in den Lagern tragen die Hauptlast der sozialen Reproduktion, einschließlich Reinigungs-, Koch- und Pflegearbeiten, während sie oft in ihren Zelten eingeschlossen sind und Schwierigkeiten haben, die entfernten Toiletten und Waschräume zu erreichen.

Die Feministische Solidarität für Katastrophenhilfe (Afet İçin Feminist Dayanışma) ist eine Organisation, die sich aus einer feministischen Perspektive mit diesen Fragen auseinandersetzt. Sie entwickelt organische Formen des Aktivismus, um Frauen in den Katastrophengebieten zu stärken. Diese Organisation lehnt bewusst hierarchische Beziehungen zwischen Aktivist*innen und Überlebenden ab und zielt darauf, gleichberechtigte und transformative Verbindungen zwischen Frauen aufzubauen. Die Feministische Solidarität für Katastrophenhilfe arbeitet mit verschiedenen Partnern zusammen und finanziert ihre Arbeit durch Spenden und Solidaritätsveranstaltungen. Ihre Aktivitäten umfassen eine breite Palette von Maßnahmen, von der Bereitstellung von Menstruationsprodukten bis zur Schaffung sicherer Räume und Unterstützung von Frauen, die Gewalt erlebt haben. Die Herausforderungen sind groß, aber die Solidarität und das Engagement der Aktivist*innen zeigen, dass Veränderungen möglich sind, auch wenn sie Zeit und Geduld erfordern. Trotz der Komplexität der Situation bleibt die Hoffnung auf eine Transformation der türkischen Gesellschaft bestehen.

Die Arbeit der Feministischen Solidarität für Katastrophenhilfe

Zwei Aktivist*innen von Afet İçin Feminist Dayanışma haben ihre wertvollen Erfahrungen und Einsichten mit mir geteilt. Im Folgenden möchte ich einige ihrer Ansichten über die Herausforderungen und Chancen der Solidarität, die Komplexität der emotionalen Arbeit, die mit ihrem Aktivismus und ihrer Solidaritätsarbeit verbunden sind, sowie Gedanken zu Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zitieren.

Ein Schlüsselaspekt, den beide Aktivist*innen betonen, ist die zentrale Bedeutung der Begegnungen zwischen den freiwilligen Helfer*innen und den Überlebenden. Diese Begegnungen sind der Kern ihrer Solidaritätsarbeit, die dazu dient, den Sinn für Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, emotionale Bande zu stärken und einen Beitrag zum sozialen und politischen Wandel zu leisten.

Aktivist*in H.: Begonnen haben wir mit einer Kampagne für Menstruationsbinden, dann haben wir uns organisiert, um Zelte zu schicken. Das waren Dinge, die uns machbar schienen. Weiter ging es mit Toilettenkabinen... Ich bin erstaunt, wie es uns gelungen ist, diese zu kaufen, zu verschicken und in den Zeltgebieten zu installieren. Einmal begonnen, erscheinen diese Anstrengungen nicht mehr so schwer, wie man zunächst dachte. Man bewältigt sie irgendwie Schritt für Schritt, und eine Handlung führt zur nächsten. Manchmal kann sogar der einfache Akt zum Markt zu gehen eine große Herausforderung sein. Aber wenn man den Schritt wagt, geht man weiter.

Wenn wir zusammen sind und gemeinsam Aktivismus produzieren, sind wir füreinander verantwortlich. Dieses Gefühl der gegenseitigen Verantwortung ist manchmal schwer zu ertragen, aber auch ein Vorteil. Allein scheint alles unmöglich, vor allem angesichts der vielfältigen Bedürfnisse und Komplikationen. Aber wenn wir zusammen sind, schlägt jemand eine Idee vor, und man löst das Problem gemeinschaftlich.

Es ist sehr wertvoll, dass wir durch unseren Aktivismus Menschen einbeziehen, die sich vorher nicht an Solidaritätsaktionen beteiligt haben. Das gibt uns Kraft und stärkt unser Gefühl der Handlungsfähigkeit. Die Wertschätzung und die freundlichen Worte der Frauen vor Ort zu hören, fühlt sich unglaublich gut an, aber gleichzeitig möchte ich nicht, dass sie uns ihre Dankbarkeit zeigen, als ob sie uns etwas schuldig wären. Wir verzichten deshalb bewusst auf die Worte »Hilfe« oder »Spende«. Uns ist bewusst, dass unsere Bemühungen im Angesicht der enormen Zerstörung und des Leids nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind. Wir versuchen, die Verwüstung zu bewältigen, was eigentlich Aufgabe des Staates und der Behörden wäre. Unsere Solidaritätsmaßnahmen werden aus eigener Tasche finanziert und durch ehrenamtliche Arbeit geleistet.

Ich selbst komme aus Yalova, einer Stadt, die beim großen Erdbeben 1999 schwer getroffen wurde. Die jüngste Katastrophe hätte für mich eine große Herausforderung sein können, hätte ich mich nicht in die Solidaritätsarbeit eingebunden. Um durch diese Zeit zu kommen, habe ich versucht, meine Gefühle so gut wie möglich zu verdrängen. So konnte ich weitermachen. Dennoch waren die letzten Monate sehr anstrengend, und ich spüre jetzt, dass ich mir eine Pause und etwas Raum gönnen muss.

Aktivist*in D.: Wir sind daran gewöhnt, in der Türkei mit Unvorhersehbarkeit und Unruhe zu leben. Aber wie das Sprichwort sagt: »Die Hoffnung ist das Brot der Armen«, also sind wir alle bis zu einem gewissen Grad hoffnungsvoll. Doch dieses Gefühl allein bringt uns nicht zu einem Zustand des Wohlbefindens. Das Wohlbefinden hängt von der Solidarität und der Selbstorganisation ab. Denn die politischen und sozialen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, sind so massiv und strukturell, dass sie sich nur schwer ändern lassen. Ich denke, dass selbst die minimalen Reformen, die die Türkei zu einem gewissen Maß an Demokratie zurückführen, mindestens 15 Jahre dauern werden. Was können wir tun, um unter diesen Umständen nicht zusammenzubrechen? Wir müssen uns selbst organisieren und Kollektive bilden. Sich politisch zu organisieren birgt in der heutigen Türkei viele Risiken, aber trotzdem können wir uns auf gewisse Weise zusammenschließen, wie es die Feministische Solidarität für Katastrophenhilfe zeigt.

Wir alle sind nach der Katastrophe mit großer Wut und Trauer zurückgeblieben. Es gibt Menschen in unserer Gruppe, die ihre Angehörigen verloren haben. Wir alle, sowohl die unmittelbar Überlebenden als auch die Freiwilligen, haben das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Die ersten sechs Wochen fühlten sich wie ein Tag an. Das Heilendste an unserer Solidaritätsarbeit war für mich das Gefühl, unsere Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen und zu wissen, dass ich meine Freund*innen an meiner Seite habe, wenn ich müde bin. Ich weiß, dass es jemanden gibt, der die Waren zum Lastwagen trägt, wenn eine*r keine Kraft mehr hat.

Die türkische Gesellschaft ist zwar durch Unterdrückung und Verfolgung gelähmt, doch in Momenten wie diesen, in Krisenzeiten, kommen die Menschen trotz allem zusammen, um Wunden zu heilen. Die Stärke der türkischen Gesellschaft liegt darin, dass sie in Krisen schnell gemeinsam handeln kann. Trotz aller Widrigkeiten gibt es hier eine kollektive Erfahrung und Fähigkeit dazu. Das ist ein Hoffnungsschimmer.

Hoffnung ist ein Gefühl, das die Vielfalt der Möglichkeiten anerkennt, es ist in dieser Hinsicht ein positives Gefühl. Aber in unserer Gesellschaft ist alles so unvorhersehbar. Das Leben ist sehr schwierig und jeder muss viel arbeiten, es sei denn, er ist superreich. Hundert Krisen können an einem Tag ausbrechen. Deshalb sind viele von uns pessimistisch. Hoffnung ist ein Gefühl, das Hoffnungslosigkeit verlangt und in Enttäuschung oder Freude umschlagen kann. Es prägt unsere Gesellschaft.

Feministische Solidarität für Katastrophenhilfe Um mehr über Afet İçin Feminist Dayanişma zu erfahren und seine Konten in den sozialen Medien zu verfolgen, besucht https://bio.biolinktr.com/afeticinfeministler. Ihr könnt mit der Organisation über afeticinfeministler@gmail.com in Kontakt treten.

Autorin: Ülker Sözen erhielt ihren Doktortitel in Soziologie im Jahr 2017 von der Mimar Sinan Fine Arts University in der Türkei. Heute forscht sie als Postdoktorandin zu Zivilgesellchaft und Autoritarismus in der Türkei und ist Fellow der International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies (IRGAC).

Der Text wurde im Mai 2023 auf Englisch auf dem IRGAC Blog erstveröffentlicht und von uns in gekürzter Version ins Deutsche übersetzt.

Bild: Autonomous Design Group