Ist Rojava eine sozialistische Utopie?

Für die einen ist Rojava eine gelebte sozialistische Utopie, von anderen wird es als kurdisches Nationalprojekt abgetan. Dass diese Widersprüche Teil des revolutionären Prozesses sind und in die Geschichte der Selbstverwaltung Rojavas eingeschrieben sind, argumentiert Matt Broomfield in seinem Beitrag, der zuerst bei UnHeard erschienen ist.

Um einen Streit unter westlichen Linken zu entfachen, muss man nur das Wort »Rojava« erwähnen. Seit seiner Gründung vor einem Jahrzehnt hat das kurdisch geführte politische Projekt die Linke in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite wird die Region von ihren Befürworter*innen als egalitäre, ökologische und direktdemokratische Utopie gepriesen; auf der anderen Seite wird sie von ihren Gegner*innen als ethnisch segregierter, vom Öl abhängiger Kleinstaat abgetan, der nur dem kurdischen Nationalismus dient. Welche Seite liegt richtig?

Von 2018 bis 2020 habe ich drei Jahre lang in Rojava gelebt, der Region der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Dort habe ich fast jeden Tag eine andere Ansicht zu den Erfolgen der Revolution gehört. US-Militärs sahen die Selbstverwaltung als nützlichen Verbündeten gegen den IS und als Gegengewicht zum Einfluss des Iran. Kurd*innen, Frauen, christliche und jesidische Dorfbewohner*innen waren angesichts der ethnischen Säuberungen durch die Türkei und den IS pragmatisch dankbar dafür, dass Rojava die höchsten Standards in Bezug auf Menschenrechte und humanitäre Versorgung in ganz Syrien bietet.

Manche anarchistische Freiwillige verließen das Land jedoch enttäuscht, da ihre idealisierte Sicht auf die »Rojava-Revolution« mit der Realität der Massenarmut, des begrenzten politischen Engagements und eines immer stärker werdenden Sicherheitsapparats kollidierte. Viele andere blieben und akzeptierten die ideologischen »Widersprüche« als Teil des revolutionären Prozesses. In der Tat: In den Jahren seit 2013 ist klar geworden, dass die Revolution niemals hätte überleben können, wenn sie nicht eine Reihe von scheinbar widersprüchlichen Funktionen erfüllt hätte.

Aus den Bergen nach Rojava

Rojava erlangte Autonomie, nachdem sich die Kräfte des Regimes während des syrischen Aufstands 2011/12 aus dem kurdischen Norden des Landes zurückzogen. Infolgedessen konnten kurdische Kämpfer*innen, ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan treu ergeben, aus den Gebirgsregionen, in denen sie lange Zeit einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Türkei geführt hatten, nach Nordsyrien gelangen. Dort in den Bergen lebten die überzeugten Kader*innen ein notwendigerweise gemeinschaftliches und bescheidenes Leben. Kurd*innen, die Zeit »in den Bergen« verbracht haben, sprechen voller Nostalgie über die Genoss*innenschaft und die ganzheitliche Beziehung zur Natur, die sie dort erlebten. Doch diese politischen Aktivist*innen sahen sich nun nicht nur damit konfrontiert, den IS, den Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra und die türkische Armee abzuwehren, sondern standen auch vor dem Aufbau einer Gesellschaft, die Millionen Menschen versorgen muss.

Diese lebenslangen Parteigänger für die kurdische Sache erfuhren eine geradezu überwältigende Rechtfertigung ihres Kampfes. Eine Frau mittleren Alters erzählte mir mit leuchtenden Augen, dass sie ihr ganzes Leben dem Kampf gegen die Türkei geopfert hat – 38 der 40 Genoss*innen ihrer ersten Ausbildungsgruppe starben in diesem Kampf. Und dann entstand unverhofft in Syrien die Gelegenheit, einen Teil der kurdischen Heimat befreien zu können. Unter vier Augen sprechen die kurdischen Militanten jedoch oft über ihre Frustration mit der widerstrebenden lokalen Bevölkerung, die sich nicht sonderlich für die hochtrabenden Ideale und die Rhetorik ihres Anführers interessiert.

Ideen wie die von Öcalan sind noch nie zuvor in einem solchen Ausmaß umgesetzt worden. Die PKK kämpfte eigentlich für einen unabhängigen, sozialistischen kurdischen Staat. Doch nach seiner Festnahme durch den türkischen Geheimdienst im Jahr 1999 entdeckte Öcalan das Werk des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin. Ausgehend von dessen »sozialer Ökologie« entwickelte er eine Kritik am Staatssozialismus, die auch von feministischem Denken geprägt war. Der kurdische Anführer entwickelte die Idee einer »Föderation der Föderationen«: Ein dezentrales Netzwerk lokaler Kommunen, das Konsensentscheidungen über städtische Verwaltungen in eine demokratische Selbstverwaltung einspeist – beruhend auf einer neuen Beziehung zur natürlichen Welt und einer kooperativen Wirtschaft.

Öcalans Schriften haftet ein gewisser Mystizismus an. Seine Werke wurden von der Gefängnisinsel Imralı als Verteidigungsschrift im Gerichtsverfahren an die Außenwelt übermittelt, und das Fehlen von Quellenangaben macht es schwer, seine Argumente zu entschlüsseln. Seine Werke sind gespickt mit gnomischen historischen Spekulationen, denen oft der Hinweis »Kann es sein...?« vorangestellt ist. Die Brillianz von Öcalan liegt eher darin, Bookchins komplexe Analysen zu Prinzipien zu verdichten, die für die kurdische Öffentlichkeit verständlich sind. Er entwirft eine an Bookchin angelehnte Vorstellung der Geschichte als stetige Ausweitung der Herrschaft vom patriarchal-gerontokratischen Stamm über den Stadtstaat bis hin zur kapitalistischen Moderne. Diese Teleologie verknüpft Öcalan dann mit dem Schicksal des seit langem unterdrückten kurdischen Volkes in dessen Heimat Mesopotamien, indem er die Kurd*innen als Erben der idyllischen »natürlichen Gesellschaft« darstellt.

Das beschriebene Netzwerk selbstverwalteter Kommunen sollte parallel zu den autoritären Staaten, die heute die kurdischen Siedlungsgebiete besetzen, heranwachsen und diese schlussendlich ersetzen. Aber, wie Rosa Luxemburg nach der Oktoberrevolution 1917 feststellte: Revolutionen wachsen nicht nach und nach heran. Sie werden in die Welt geworfen, voll ausgewachsen und schreiend. In Rojava wird Öcalan als Symbol der Befreiung von Kurd*innen und Frauen respektiert, aber von der Zivilbevölkerung kaum gelesen. Bookchin ist nur der kurdischen Führungsriege bekannt, und das auch nur indirekt. Die Realität hat sich in Form von Krieg, Brotknappheit und schwindenden Energieressourcen in Öcalans etwas utopische Vision hineingedrängt.

Unter dem Druck der Wirtschaft

Am offensichtlichsten ist, dass die verarmte Selbstverwaltung von Rojava ohne die Einnahmen aus dem Schwarzmarkt für Erdöl Millionen von Menschen nicht vor dem Hungertod hätte bewahren können. Der Aufbau einer umweltfreundlicheren Wirtschaft durch den Umstieg auf eine stärker lokal ausgerichtete, kooperative Landwirtschaft und erneuerbare Energien wurde durch eine Reihe von Dingen behindert: Die Aufstauung des Euphrat durch die Türkei und die Kontrolle wichtiger Wasserinfrastruktur, die Abzweigung von Energie in Gebiete, die von Assad und den von der Türkei unterstützten dschihadistischen Milizen kontrolliert werden, Kriegsschäden an Staudämmen und Ölraffinerien sowie ein Embargo, das Industrieimporte verhindert. Daher das ungewöhnliche Phänomen einer »grünen Revolution«, die durch Ölreichtum finanziert wird. (Kann das sein...?)

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht war die Selbstverwaltung zur Vorsicht gezwungen. Sie enteignete zwar den Besitz des syrischen Regimes, ließ Privateigentum und Kapital aber weitgehend unangetastet. Mit den Öleinnahmen werden Diesel und Brot subventioniert und diese Bemühungen erreichen weit mehr Menschen als die verstreuten Kooperativen. Sporadische Versuche, eine landwirtschaftliche Selbstversorgung aufzubauen, sind in ihrer Wirksamkeit durch das Embargo und die dadurch erzwungene anhaltende Abhängigkeit von Schmuggler*innen eingeschränkt. Denn diese liefern die Waffen, die die Kurd*innen brauchen, um sich gegen die Türkei zu wehren – überschwemmen aber auch die lokalen Märkte mit billiger türkischer Hühnerbrühe, Flip-Flops und Zigaretten.

Ebenso haben wirtschaftlicher Druck, die Notwendigkeit militärischer Verteidigung und die Herausforderungen des Umgangs mit den konservativen und manchmal offen IS-affinen Teilen der Bevölkerung die Bemühungen der Selbstverwaltung zur Förderung einer echten politischen Beteiligung der Basis behindert. Die Selbstverwaltung hat wirklich beeindruckende Schritte unternommen, um tief verwurzelte patriarchale Normen in Frage zu stellen. So hat sie von Frauen geleitete Verwaltung, Programme für wiederherstellende Gerechtigkeit und soziale Bildung eingeführt, sogar in ehemaligen Hochburgen des IS. Aber die Dezentralisierung von Entscheidungsgewalt ist unvollständig und inkohärent. Ich habe an Treffen von Kommunen in der kurdischen Region Dschazira teilgenommen. Hier beschweren sich die Einwohner*innen über Straßenreparaturen und Preistreiberei. Wenn aber nicht gerade größere Investitionen in die Infrastruktur gefordert werden, stellen sich die Kurd*innen weitgehend hinter die Selbstverwaltung. Wirtschaftspolitik und Krieg erfordern ein zentralisiertes Vorgehen. Und die meisten Einheimischen sind auch damit zufrieden, diese Fragen ihren Anführer*innen zu überlassen. Sie besuchen die Kommune nur, um die Gutscheine für ihr subventioniertes Brot und Öl abzuholen.

Paradoxerweise ist die Situation gerade in den erst kürzlich vom IS befreiten konservativen arabischen Regionen anders. Dort wird die Selbstverwaltung durch bewundernswert offen geführte öffentliche Diskussionen, den Druck konservativer Stammesverbände und Straßenproteste dazu gebracht, ihre Positionen zu Themen wie Frauenförderung, Wehrpflicht, Inhaftierung von mit dem IS verbundenen Personen und Beziehungen zu Assad immer wieder zu überdenken. Weder Öcalan noch Bookchin hatten die Szene vor Augen, die ich in Raqqa erlebte, wo sich Stammes-Scheichs mit kurdischen Frauenaktivistinnen über den Lehrplan in der Grundschule stritten. Aber diese heftigen Kontroversen sind das Lebenselixier einer einzigartigen Demokratie. Diese arabisch-kurdischen Spannungen sind die wichtigste interne Krise, mit der Rojava heute konfrontiert ist. Aber sie bringen auch die wahrhaft demokratischen und revolutionären Momente hervor. Mit seiner typischen Weitsicht erkannte Bookchin, dass »jede selbstverwaltete Gemeinschaft, die versucht, in Isolation zu leben und Autarkie zu entwickeln, Gefahr läuft, engstirnig oder gar rassistisch zu werden«. Der arabische Chauvinismus ist für »die Kurd*innen« nicht bloß ein Hindernis, das es zu überwinden gilt, sondern gerade ihr gespaltenes Verhältnis zu diesen benachbarten Gemeinschaften schafft einen echten, wenn auch unvollkommenen Föderalismus.

Rojava als soziale Revolution?

Deshalb sind die interessantesten Beiträge des neuen Sammelbandes »Social Ecology and the Rojava Revolution« nicht die skizzierten Ideale von Bookchin und Öcalan, sondern die jüngsten Analysen aus der Praxis in Rojava. Wie Bookchin in seinem Sammelband »Was ist Soziale Ökologie?« (1993) schreibt, bleiben »neue ökologische Haltungen nebulös, wenn sie nicht durch reale und objektive Institutionen mit Inhalt gefüllt werden«. Der Trotzkist, der zum Anarchisten und Bilderstürmer wurde, wäre sicherlich aufgeschlossen genug, um die »Rojava-Revolution« von ihren ganz eigenen Bedingungen her zu betrachten.

Bookchin wendet Marx' Grundsatz »Die soziale Revolution kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft« wiederholt sowohl gegen Marxist*innen als auch gegen Öko-Kapitalist*innen. Doch während er warnt vor der »Verherrlichung der Vergangenheit« und dem Wunsch nach einer Rückkehr zum »primitiven Kommunismus« und zu gesellschaftlichen Organisationsformen aus prähistorischer Zeit, läuft Bookchin faktisch selbst Gefahr, ein unerreichbares, vergangenes Ideal zu propagieren. Wie das Experiment in Rojava zeigt, ist die angestrebte Wiederherstellung der »natürlichen Gesellschaft« durch lokale Kommunen und Kooperativen zwar in der Theorie ehrenwert, aber in der Praxis unpraktisch und unzureichend. Bookchins selbst so bezeichneter »Utopismus« wird nicht Wirklichkeit in isolierten linken Enklaven, reingehalten von denen, die er als »Lifestyle-Anarchist*innen« verdammte, und noch weniger durch den »mystifizierten Primitivismus« rechter Untergangsszenarien, sondern wenn die materiellen Bedingungen sie zu einer Notwendigkeit für die gewöhnlichen Menschen machen.

Während also ein Beitrag im genannten Sammelband das bemerkenswerte autonome Frauendorf Jinwar als Beispiel für die gelebte soziale Ökologie Rojavas anführt, fällt mir ein repräsentativeres Beispiel für die einzigartige politische Identität der Region ein: Das Flüchtlingslager, das ich besuchte. Es liegt südlich von Tel Abyad, eine Stadt, die 2019 von den türkischen Streitkräften erobert und ethnisch gesäubert wurde. Hier leben Araber*innen, Turkmen*innen und Kurd*innen, von denen einige durch den Krieg dreimal vertrieben wurden – Seite an Seite leben und müssen ihre Probleme durch das lokale Versöhnungskomitee lösen. Hier und nicht in der vergleichsweise wohlhabenden Dschazira stellt eine große und wachsende landwirtschaftliche Kooperative die Lebensgrundlage für mittellose Familien dar.

Neue Rojavas im Niemandsland zerfallener Staaten?

Die meisten internationalen Freiwilligen in Rojava sind sich darüber im Klaren, dass alle Ansätze zur direkten Umsetzung ähnlicher Ideale im Westen keinen Erfolg haben können. Ohne einen jahrzehntelangen bewaffneten Kampf auf der Grundlage einer unterdrückten nationalen Identität und auch ohne den Kampf gegen den IS, der Grundlage für den Aufbau eines ethnienübergreifenden politischen Konsenses war, hätte es Rojava niemals geschafft, eine Massenbewegung zu mobilisieren. Und noch weniger wäre es möglich gewesen, Bevölkerungsgruppen zu vereinen, die sich noch kurz zuvor in einem Krieg gegenüberstanden. Vielmehr ist es wahrscheinlicher, dass durch die Klimakatastrophe und die Abwendung von der Globalisierung neue Rojavas in dem Niemandsland entstehen, das zerfallende Staaten hinterlassen werden. Die Dialektik der Geschichte wird einige von uns zum Anarchismus führen - zweifelsohne einhergehend mit autoritäreren Alternativen.

Bookchin befasst sich erst auf den letzten beiden Seiten seines Hauptwerks »Die Ökologie der Freiheit« etwas widerstrebend mit der Frage, »wie wir von hier nach dort kommen« und deutet eine marxistische Lesart unserer historischen Krise an. Er räumt aber gleichzeitig ein, dass wirklich effektive »libertäre Organisationsformen« erst noch entwickelt werden müssen. Zehn Jahre nach der Revolution ist dies vielleicht die wichtigste Lektion, die Rojava zu bieten hat: Nur wenn der politische Konsens einer Region durch extreme innere und äußere Spannungen zerbrochen ist, ergeben sich echte Möglichkeiten, ihn neu zu gestalten.

Der Text wurde erstmals am 28. März 2023 bei UnHerd auf Englisch veröffentlicht.

Autor: Matt Broomfield ist freier Journalist und Mitgründer des Rojava Information Center, der führenden unabhängigen englischsprachigen Nachrichtenquelle in Nord- und Ostsyrien. Er twittert als @MattBroomfield1

Bild: Kurdishstruggle